Fünftes Kapitel.
Die Weltsprache.

[140] Beginn. Die Vorlesungen über Naturphilosophie im Jahre 1900 hatten mich veranlaßt, so ziemlich alle großen menschlichen Angelegenheiten vom energetischen Standpunkt aus zu betrachten und gegebenenfalls näher zu untersuchen. Bei dieser Gelegenheit war mir die ungeheuerliche Energievergeudung aufgefallen, welche durch die Verschiedenheit der Sprachen bewirkt wird. Sie ist so groß, daß sie zu einer Zeit, in der energetische Betrachtungen überhaupt noch nicht angestellt wurden, doch von nachdenklichen Menschen als eine der Erklärung bedürftige Tatsache empfunden wurde. Dazu wurde dann die Geschichte vom Turmbau zu Babel erfunden, nach welcher als Warnung gegen Empörungsversuche der Menschheit gegenüber den Göttern durch Betätigung eigener, nicht priesterlich gutgeheißener Unternehmungen, über sie die Sprachverwirrung verhängt wurde. Den Erfindern oder Redaktoren jener alten Sage erschien also die Tatsache, daß verschiedene Völker verschiedene Sprachen sprechen, so unsinnig und unvernünftig, daß sie sie nicht anders zu erklären wußten, als im Sinne einer göttlichen Strafe.

Wir wissen heute, daß die Ansicht, ursprünglich hätte die ganze Menschheit eine Sprache geredet, ebenso das Gegenteil der Wahrheit ist, wie die Lehre von dem[141] goldenen Zeitalter oder dem Paradiese in der Urzeit der Menschen. Das Paradies und das goldene Zeitalter liegt nicht hinter, sondern vor uns und unsere Aufgabe ist, uns im Schweiße unseres Angesichts dahin durchzuarbeiten, wobei jeder einzelne etwas, wenn auch nur sehr wenig dazu tun kann. Ebenso liegt die Zeit, in welcher die ganze Menschheit nur eine Sprache spricht, nicht hinter, sondern vor uns. In den vorgeschichtlichen Zeiten, da die Horde die größte Gruppe war, welche die Menschen zu bilden verstanden, hatte jede dieser Gruppen ihre eigene Sprache. Denn der Verkehr mit den anderen Gruppen beschränkte sich auf gegenseitiges Berauben und Totschlagen, was ohne sprachliche Verständigung ausführbar war. Erst der Güteraustausch, der Handel in seinen primitivsten Formen erforderte Sprachkenntnisse, die über das Verständnis der Muttersprache hinausgingen. Und von da ab begann die Tatsache der Verschiedenheit der Sprachen ihre energieverzehrenden Folgen geltend zu machen, die heute bis ins Ungeheuerliche gewachsen sind.

Unter der andringenden Mannigfaltigkeit neuer Erwägungen, welche die konsequente Anwendung der energetischen Betrachtungsweise ergab, habe ich damals der Sprachenfrage nur einige Sätze gewidmet, die nachstehend wiederholt werden:

»Die Sprache ist also nicht nur die Schatzkammer, in welcher die Kostbarkeiten der richtigen und zweckmäßigen Begriffsbildungen aufbewahrt werden, sondern sie ist gleichzeitig eine Rumpelkammer für abgetane und verbrauchte Begriffe. Denn da ohnedies der Zusammenhang zwischen Wort und Begriff vielfach unsichtbar geworden ist, so wird nicht notwendig ein Widerspruch empfunden, wenn der dem Begriffe zugeordnete Laut zufällig mit einem anderen Begriffe in Zusammenhang stehen sollte, der mit dem vorhandenen nichts mehr[142] zu tun hat. Daher erfolgt auch nach Verbesserung des Begriffes die Ausmerzung seines fehlerhaften Wortes meist viel später und oft auch gar nicht. So nennen die Chemiker den Sauerstoff noch immer bei diesem Namen, obwohl sie jetzt wissen, daß die sauren Stoffe diese ihre Eigenschaft nicht dem Sauerstoff, sondern dem Wasserstoff verdanken.

Es ist deshalb oft in nachdenklichen Köpfen die Frage entstanden, ob diese Unsicherheit der Sprache, zu der sich noch die jedem gegenwärtigen und früheren Gymnasiasten schmerzlich bekannte Unregelmäßigkeit der Grammatik gesellt, nicht durch eine den Begriffen besser angepaßte künstliche und daher vollkommen regelmäßige Sprache ersetzt werden könnte. Man ist in unserer Zeit meist noch geneigt, solche Gedanken für lächerliche Wahngebilde zu halten, und es finden sich nicht selten entrüstete Deklamationen in dem Sinne, daß man ein organisch gewachsenes Ganzes, wie es eine Sprache ist, nicht künstlich herstellen könne, ebensowenig wie man einen Baum herstellen kann.

Nun, die Sprache ist kein für sich gewachsener und für sich bestehender Organismus, sondern ein Werkzeug, das sich die Menschen zu bestimmten Zwecken hergestellt haben, und das im Laufe langer Zeiten mit der Änderung dieser Zwecke auch seinerseits mancherlei Änderungen erfahren hat. Sie ist vergleichbar einem alten Hause, das von vielen aufeinander folgenden Geschlechtern bewohnt worden ist und an dem jedes neue Geschlecht geändert, abgerissen und zugefügt hat, was ihm nötig schien, um es bewohnbar zu erhalten. Freilich werden wir das alte Haus nicht ganz und gar abreißen und vernichten, dazu steckt eben zu viel von dem Leben unserer Vorfahren darin. Aber können wir uns nicht daneben ein besonderes Haus für besondere Zwecke bauen? Wenn für die neuen Arbeiten, die wir verrichten wollen[143] und müssen, die alten Räume zu dunkel und winklig, der alte Boden zu uneben ist, so können wir doch für das neue Werk ein neues, bequemes und angemessenes Gebäude daneben errichten! Freud und Leid, Geburt und Tod werden wir im alten Hause nach wie vor erleben, und was unser Gemüt bewegt, wird sich in seinen trauten Wänden abspielen. Aber die Geschäfts- und Arbeitsräume können wir sehr wohl in ein neues Haus verlegen, das nüchtern und zweckmäßig nicht aus knorrigen Balken und aus Felsblöcken, sondern aus glatten Ziegeln und schlanken, aber starken eisernen Trägern erbaut ist. Wir können sehr wohl, um wieder ohne Gleichnis zu sprechen, neben der Muttersprache eine allgemeine, einfache Geschäfts- und Wissenschaftssprache erbauen, die für den Verkehr der Völker untereinander noch unvergleichlich viel nützlicher wirken kann, als Telegraph und Eisenbahn.

In der Tat besitzen wir bereits mehrere derartige Sprachen. Notenschrift wird über die ganze Welt verstanden, wo europäische Musik bekannt ist, und wenn wir aus einem Japanischen Buche auch nichts anderes verstehen, so verstehen wir doch chemische Formeln und mathematische Gleichungen, die darin vorkommen. Ebenso sind geschriebene Ziffern, obwohl sie in verschiedenen Sprachen ganz verschieden ausgesprochen werden, doch allen verständlich, die überhaupt nur eine Sprache lesen können.

Es handelt sich tatsächlich nicht um eine Phantasterei bei der Frage nach der allgemeinen künstlichen Sprache, sondern um eine wissenschaftlich-technische Aufgabe, deren Lösung eine unabsehbare Entlastung der arbeitenden Menschheit von nutzloser Anstrengung mit sich bringen wird«.

Die Delegation. Einige Jahre nach dem Erscheinen der »Vorlesungen über Naturphilosophie« erhielt ich[144] einen Brief, in welchem auf diese Äußerungen Bezug genommen und ich zur Mitarbeit an der Verwirklichung des Gedankens einer allgemeinen oder Weltsprache eingeladen wurde. Er rührte von dem Professor der Philosophie an der Pariser Universität Louis Couturat her, der sich namentlich durch scharfsinnige Arbeiten über Leibniz einen guten Namen gemacht hatte. Begleitet war der Brief von einigen Drucksachen: einem Bericht über den augenblicklichen Stand der Angelegenheit und einem gewichtigen Buch, das er gemeinsam mit dem Mathematiker Léau geschrieben hatte und das eine höchst gediegene Geschichte aller älteren Bestrebungen zur Herstellung künstlicher Sprachen enthielt.

Mir waren die berichteten Tatsachen so gut wie alle neu. Da die Verfasser sich nicht darauf beschränkt hatten, nur geschichtlich zu berichten, »wie es eigentlich gewesen war«, sondern aus dem Vergleich der vorgeschlagenen Systeme und ihrer Erfolge wichtige und weitreichende allgemeine Schlüsse gezogen hatten, so sah ich mich auf einmal in den Stand gesetzt, von der niederen Stufe platonischer Wünsche auf die höhere praktischer Arbeit zu gelangen.

Die Sachlage war um jene Zeit folgende. In Paris hatte 1900 eine Weltausstellung stattgefunden, bei welcher auch zahlreiche internationale wissenschaftliche Versammlungen getagt hatten. Bei dieser Gelegenheit hatte die Verschiedenheit der Sprachen ganz besonders empfindliche Hindernisse bereitet. Denn die Wissenschaft hatte sich längst unter allen menschlichen Angelegenheiten als die unabhängigste von völkischen Verschiedenheiten betätigt. Auf den Vorschlag der genannten Gelehrten hatte sich ein Ausschuß gebildet, welcher die Schaffung einer internationalen Hilfssprache zu betreiben unternahm. Leiter dieses Ausschusses war Couturat.[145]

Die Tätigkeit dieser »Delegation« war zunächst dahin gerichtet, grundsätzliche Zustimmungen hervorragender Einzelpersonen und geeigneter Körperschaften, wie Touristenvereine, Handelskammern usw. zu veranlassen und zu sammeln. Die Erfolge waren ziemlich ansehnlich, beschränkten sich aber naturgemäß fast völlig auf das Französische Sprachgebiet. Ich trat alsbald der Delegation bei und bemühte mich, in Deutschland den Gedanken zur Geltung zu bringen, doch ohne großen Erfolg. Schuld daran trug hauptsächlich die von Wilhelm von Humboldt herrührende mystische Theorie der Sprache, nach welcher diese ein Lebewesen eigener Art und eigener Gesetzlichkeit sei, das ohne verstandesmäßige Arbeit des Menschen entstehen und in nicht näher zu erklärender Weise die Seele der Völker verkörpern soll. Immer wieder wurde mir vorgehalten, daß man eine Sprache ebensowenig künstlich herstellen könne, wie einen Menschen, und mein Einwand, daß es eine ganze Anzahl künstlicher Sprachen gibt, welche zum Teil überaus fein abgestufte Inhalte ausdrücken können, wie z.B. die musikalische Notenschrift, die mathematischen und die chemischen Formeln, wurde nicht begriffen. Vielmehr kamen sich jene sprachlichen Nihilisten und Reaktionäre ganz und gar als diejenigen vor, die auf einem höheren und richtigeren Standpunkt stehen, als die Anhänger jenes schöpferischen Fortschrittes, den schon einer der stärksten Köpfe des deutschen Volkes vorausgesehen, gefordert und angestrebt hatte, nämlich Gottfried Wilhelm Leibniz.

Volapük. Nun kam mir auch in Erinnerung, daß A.v. Öttingen mich schon vor Jahren auf die künstliche Sprache Volapük aufmerksam gemacht hatte. Mit der ihn kennzeichnenden geistigen Beweglichkeit war er mit ihr so weit vertraut geworden, daß er einen Briefwechsel in Volapük mit einigen ausländischen Anhängern[146] unterhielt, und er hatte mir damals die Versicherung gegeben, daß die gegenseitige Verständigung völlig befriedigend sei. Ich hatte ihm natürlich jenes landläufige Vorurteil von dem selbständigen Leben der Sprache entgegengehalten, an das ich auch glaubte, und konnte seine gegenteiligen Erfahrungen nicht begreifen.

Es war damals (um 1890) die Zeit, in welcher das Volapük seinen erstaunlich schnellen Aufstieg erlebte. Als erste wirklich durchgeführte Kunstsprache sammelte es alle vorgeschrittenen Geister in der Kulturwelt, welche die Notwendigkeit einer Weltsprache begriffen hatten, zu einer werktätigen Gemeinschaft. In wenigen Jahren hatten sich 283 Vereine über die ganze Welt gebildet, 316 Lehrbücher in 25 Sprachen waren erschienen, 1600 Lehrerdiplome waren erteilt worden und die Gesamtzahl der Anhänger wurde auf eine Million geschätzt. Aber ebenso schnell, wie der Aufstieg, war der Niedergang.

Volapük war die Arbeit eines einzigen Mannes, des Pfarrers Schleyer gewesen, der neben einer Anzahl gesunder Gedanken auch ziemlich viele verunglückte hineingebaut hatte. Um einen Anfang zu machen, hatte jeder zunächst die Sprache empfangen, wie sie war und sie in Gebrauch genommen. Hierbei traten ihre Fehler zutage und heischten Verbesserung, für welche einige Kongresse berufen und eine Akademie gewählt wurde. Zwischen dieser und dem Erfinder brach alsbald ein Streit aus, da dieser ein absolutes Veto gegenüber den Beschlüssen der Akademie beanspruchte, während diese ihm nur ein aufschiebendes Einspruchrecht zugestand. Der Streit endete in einer vollständigen Spaltung; Schleyer blieb bei seinem ursprünglichen Volapük und die Akademie verbesserte es mit solchem Erfolg, daß eine völlig neue Kunstsprache (idiom neutral) entstand, die gar keine Ähnlichkeit mehr mit Volapük hatte (obwohl[147] die gesunden Gedanken Schleyers beibehalten waren), aber bedeutend besser war. Zufolge dieser Spaltung zerfiel die ganze Bewegung und die künftige Entwicklung des Grundgedankens blieb schwer mit dieser Hypothek belastet.

Doch wirkte sich der Anstoß in solchem Sinne aus, daß eine ganze Anzahl neuer Vorschläge zu künstlichen Sprachen an das Licht traten, durch welche mehr und mehr Klarheit entstand über die Bedingungen, welche hierbei erfüllt sein müssen.

Esperanto. Das Werk von Couturat und Léau beschrieb dann als jüngste und hoffnungsvollste Schöpfung im Gebiet der künstlichen Sprachen das von Dr. L. Zamenhof erfundene Esperanto. Es war in dem inhaltreichen Jahre 1887 veröffentlicht worden, hatte aber gar keine Beachtung gefunden. Etwas später hatte der Franzose de Beaufront eine Kunstsprache erfunden und war mit ihrer Veröffentlichung beschäftigt, als ihm die Schrift Zamenhofs in die Hände fiel. Er fand Esperanto in vielen Beziehungen besser, als seine eigene Sprache und gab ein gerade in diesem Gebiet sehr seltenes Zeugnis selbstloser und sachlicher Gesinnung, indem er sein Projekt aufgab und seine ganze, ungewöhnliche Kraft für die Anerkennung und Verbreitung des Esperanto einsetzte.

Hiermit begann der Aufstieg dieser künstlichen Sprache, die bald eine weite Verbreitung fand. Doch muß dies Wort im geographischen Sinne genommen werden, indem Anhänger in weit auseinanderliegenden Ländern gewonnen wurden; ihre Anzahl blieb immer ziemlich beschränkt, weil die meisten nach einigen Jahren lebhafter Begeisterung die Sache wieder aufgaben.

Die Ursache lag in zwei sehr verschiedenen Umständen. Der erste war, daß sich für das neue Verkehrsmittel keine rechten Verwendungsmöglichkeiten ergaben. Der Reiz, Postkarten über die halbe Erde hinweg mit[148] Gesinnungsgenossen aus anderen Sprachgebieten zu wechseln, hält nicht lange vor, so stark er bei manchen anfänglich sein mochte. Dies ist ein Nachteil, mit welchem jede Kunstsprache kämpfen muß, so lange sie nicht durch Verwendung für eine wichtige internationale Angelegenheit, z.B. die Wissenschaft, getragen wird.

Der zweite dieser Umstände lag in der Beschaffenheit der Sprache. Unter dem Einfluß seiner polnisch-russischen Umgebung hatte der Erfinder geglaubt, die große Mannigfaltigkeit der slavischen Zischlaute in seine Sprache übernehmen zu sollen. Da die gewöhnlichen Buchstaben hierfür nicht ausreichten, nahm er seine Zuflucht zu Zeichen oberhalb der Buchstaben, wie sie u.a. im Tschechischen üblich sind. Hierdurch aber war die Unmöglichkeit entstanden, die Sprache mit den gewöhnlichen Hilfsmitteln der Schreibmaschine und des Setzerkastens zu schreiben und zu drucken; auch der telegraphischen Übertragung versagte sie sich aus gleichem Grunde.

Es scheint nun, daß nichts einfacher gewesen wäre, als den Mangel zu beseitigen, nachdem er einmal erkannt worden war. Hier nun wurde ein schwerer organisatorischer Fehler begangen, welcher der Bewegung unendlich geschadet hat. Auf der ersten internationalen Versammlung, welche in Boulogne stattgefunden hatte, war ein hastiger Beschluß zustande gebracht worden, durch welchen das »Fundamento«, ein kurzes Lehrbuch des Esperanto, das die Grammatik und einige Texte als Beispiele enthielt, in den Stand der Heiligkeit erhoben und für »unberührbar« (netuchebla), d.h. unveränderlich erklärt wurde. Hierdurch wurde jede Entwicklung abgeschnitten und damit das Todesurteil über das Esperanto ausgesprochen.

Hieran wird dadurch nichts geändert, daß durch einzelne eifrige und geschickte Anhänger des alten[149] Esperanto von Zeit zu Zeit eine Wiederbelebung des der Schwindsucht verfallenen Gebildes bewirkt wird. Auch das Volapük hat ein solches vorübergehendes Leben in stärkster Auswirkung gezeigt und ist aus demselben Grunde gestorben, welcher das Esperanto zum Verschwinden bringen wird: weil der Erfinder und seine Erben nicht begreifen wollten, daß sich die Entwicklung nicht unterdrücken läßt, sondern organisiert werden muß.

Esperanto in Amerika. Mit dieser grundsätzlichen Schwierigkeit war ich nicht vertraut, als ich im Herbst 1905 zu längerem Aufenthalt nach Amerika reiste. Mein Amt als Austauschprofessor war ein eindringliches Symbol der übernationalen Natur der Wissenschaft und so empfand ich die Aposteltätigkeit für die Weltsprache als einen organischen Teil meiner Sendung. Ich begann, nachdem die ersten Schwierigkeiten der Eingewöhnung überwunden waren, Anhänger des Weltsprachegedankens zu werben und fand in Dr. H. Morse, meinem Assistenten (III, 35) einen ebenso eifrigen wie geschickten Mitarbeiter.

Zuerst in Cambridge und Boston, dann in vielen anderen Städten der Vereinigten Staaten habe ich dann Werbevorträge von den verschiedensten Gesichtspunkten aus, je nach dem Kreise, zu dem ich sprach, gehalten. Ich unterschied dabei scharf zwischen dem allgemeinen Gedanken einer künstlichen Hilfssprache, welche die zweite Sprache für jeder mann sein sollte, der über die Grenzen seiner Muttersprache hinaus Verkehr hat, und der besonderen Lösung dieser Aufgabe, wie sie, sicherlich nicht über Verbesserungen erhaben, in Dr. Zamenhofs Esperanto vorlag. Immer, wenn ich vor Körperschaften sprach, stellte ich zum Schluß den Antrag, daß diese ihre Zustimmung zu dem allgemeinen Gedanken aussprechen und sich damit der von Couturat geleiteten Delegation anschließen sollte. Ich fand fast[150] immer williges Gehör und habe die damals noch etwas magere Liste um eine große Anzahl neuer körperschaftlicher Mitglieder vermehrt.

Dr. Morse entfaltete seinerseits eine rege und erfolgreiche Tätigkeit mit Hilfe der studentischen Korporationen, zu denen er noch aus seinen Burschenjahren rege Beziehungen unterhielt. Nach dem Vorbild des Esperanto-Klubs, den er in Cambridge gründete, entstanden in erstaunlich kurzer Zeit zahlreiche weitere Klubs über das ganze riesige Land bis nach Kalifornien hinüber. Morse organisierte Wettbewerbe für die besten Übersetzungen, für welche ich Preise stiftete, und so habe ich damals mehr für Esperanto getan, als irgendein anderer Anhänger, natürlich mit Ausnahme von Beaufront. Denn die amerikanische Welle rollte bis nach Europa zurück und bewirkte auch dort ein Aufleben der öffentlichen Teilnahme.

Doch ging es hiermit nicht anders, als mit mehreren anderen ähnlichen Wellen: auf den Wellenberg folgte ein Wellental und hernach blieb alles ruhig. Auch die amerikanische Bewegung verlief nach etwa einem Jahr im Sande, in Ermangelung eines bedeutungsvollen Inhaltes für die neue Sprache.

Begriffliche Fortschritte. Auch für mich selbst war die Propagandaarbeit in den Vereinigten Staaten fördernd. Die Notwendigkeit, die gleiche Sache sehr verschiedenartigen Hörern vorzutragen, zwang mich, den Gegenstand von entsprechend verschiedenen Gesichtspunkten aus zu betrachten und entwickelte bei mir eine zunehmende Klarheit über das Wesen der Aufgabe. So erinnere ich mich insbesondere, wie mir bei der Vorbereitung zu einem solchen Vortrage vor einer Versammlung des allgemeinen Lehrerinnen-Verbandes in Boston plötzlich die Einsicht kam, daß die Sprache grundsätzlich als ein Verkehrsmittel aufzufassen ist, vergleichbar der Post,[151] der Eisenbahn, dem Markt, der Börse, dem Geld, nur von allen das wichtigste, weil allgemeinste. Denn ihre Aufgabe ist ja, für gemeinsame Angelegenheiten aller Art zwischen mehreren oder vielen Menschen das Binde- und Verständigungsmittel zu sein. Somit sind an sie alle die technischen Forderungen zu stellen, die bei einem Verkehrsmittel erfüllt sein müssen, damit es so gut wie möglich seinen Zweck erfüllt.

Überlegt man, mit welchem mystischen Schwulst und Nebel man seit einem Jahrhundert die Frage nach dem Wesen der Sprache nicht beantwortet, sondern zugedeckt hat, so wird man mir nachfühlen können, wie ich bei dieser inneren Klärung aufatmete. Denn ich hatte unterbewußt schwer an jener Unklarheit gelitten, da sie mich verhindert hatte, meinem Bedürfnis nach gedanklicher Reinlichkeit an den Dingen zu genügen, denen ich meine Arbeit als praktischer Idealist widmete. Von Gegnern und Zweiflern war mir ja im Sinne jener Mystik immer jener Aberglaube vorgehalten worden, daß die Sprache ein Organismus voll eigenen Lebens sei, und daß man sie ebensowenig künstlich herstellen könne, wie einen Homunkulus. Jetzt konnte ich erwidern, daß vor hundert Jahren die künstliche Herstellung organischer Stoffe wie z.B. des Indigo mit dem gleichen Argument für unmöglich erklärt worden ist. Heute wird der künstliche Indigo nach Tausenden von Zentnern hergestellt und er unterscheidet sich von dem natürlichen nur dadurch, daß er besser, d.h. rein von fremden und störenden Beimischungen ist, die den größeren Anteil beim natürlichen ausmachen. Genau so kann die künstliche Sprache von den »natürlichen« Verunreinigungen frei gehalten werden, die ihr von ihrer Entstehungszeit anhaften, wo das Denken der Menschen sehr viel unvollkommener, insbesondere unlogischer war, als das heutige.

[152] Das experimentum crucis. Ein besonders überzeugendes Beispiel für die absolute Zweckwidrigkeit jener Humboldtischen Sprachenmystik bietet ihr Erzeuger selbst. Humboldt hat sich während seines ganzen Lebens mit sprachlichen Untersuchungen beschäftigt und hat ebenso wie seine Zeitgenossen sich selbst als einen angesehen, der tiefer als andere in das Wesen und Leben der Sprache eingedrungen war. Von einem solchen Mann sollte man doch als Mindestes erwarten, daß er seine eigene Muttersprache besser und vollkommener beherrscht, als seine Zeitgenossen. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Seine ausführliche Abhandlung über Goethes Hermann und Dorothea, welche die Summe seiner Kunstgedanken auszusprechen bestimmt war, ist so schlecht und unklar geschrieben, daß weder Goethe noch Schiller, welche mit den denkbar günstigsten Vorurteilen an die Schrift herangetreten waren, sich getrauten, sie zu veröffentlichen. Ferner hatte Humboldt durch viele Jahre die Gewohnheit, Gedanken und Gefühle, welche ihn bewegten, in Gestalt von Sonetten auszudrücken, deren er eine große Anzahl hinterließ. Keiner seiner späteren Herausgeber hat gewagt, sie vollständig zum Abdruck zu bringen, so unglaublich schlecht sind sie in bezug auf Sprache, Rhythmus und Reim.

Hier haben wir also den erfahrungsmäßigen Beweis, daß die Art, wie Wilhelm von Humboldt sich dem Problem der Sprache genähert hatte, ihm trotz vieljähriger Bemühungen nicht einmal soviel Fähigkeit zu deren Handhabung gegeben hatte, als zur Herstellung eines leidlichen Gedichtes erforderlich war, während Hunderte, ja Tausende, die keine Ahnung von seinen Theorien haben, sich ihm nach dieser Richtung weit überlegen erweisen. Wenn es sich so mit dem verhält, der als Schöpfer der Lehre mehr von ihr verstehen muß, als jeder andere Sterbliche, so kann man nur schließen,[153] daß die Lehre nicht die Eigenschaft hat, die Handhabung der Sprache zu verbessern, sondern nur die, sie zu verschlechtern oder bestenfalls ohne jeden positiven oder negativen Einfluß darauf zu sein. Letzteres im Falle, daß die Herstellung schlechter Verse eine angeborene Eigenschaft W. von Humboldts war.

Ich mache mich darauf gefaßt, daß man hiergegen sagen wird, daß Humboldts tiefsinnige Sprachphilosophie doch nicht den banalen Zweck habe, geschickte Sprachmeister heranzubilden. Dagegen muß ich freilich bekennen, daß ich keinen höheren Zweck irgendeiner Philosophie kenne, als die allseitige Beherrschung des von ihr behandelten Gegenstandes zu ermöglichen. Wenn sie das nicht kann, ist sie nicht Wissenschaft, sondern Scholastik und ihr sozialer Wert ist weniger als Null, denn sie führt zur Energievergeudung.

Abwendung vom Esperanto. Nachdem ich Anfang 1906 nach Deutschland zurückgekehrt war, hatte ich mit dem Abschluß meiner Tätigkeit als Professor und der Übersiedlung nach Groß-Bothen zunächst alle Hände voll zu tun. Immerhin behielt ich die Angelegenheit der Hilfssprache im Auge und benutzte jede sich darbietende Gelegenheit, um für sie tätig zu sein. Doch hatte ich in Deutschland viel geringere Erfolge, als in Amerika.

In jene Zeit fällt ein kleines Erlebnis, welches mir nach einer sehr wichtigen Richtung die Augen öffnete. Durch die anwachsende Teilnahme weiterer Kreise hatten die Deutschen Esperantisten – bis dahin ein kümmerliches Häuflein – den Mut bekommen, eine allgemeine Tagung einzuberufen. Der Ort der Versammlung war Dresden und ich war gebeten worden, den Hauptvortrag zu halten, was ich gern übernahm. Damit der Vortrag gedruckt werden konnte, hatte ich ihn sogar ausnahmsweise vorher schriftlich vollständig ausgearbeitet, was ich sonst nur selten tat. Als ich dann, begleitet von[154] meiner zweiten Tochter, die gleichfalls Esperanto gelernt hatte, mich in Dresden eingefunden hatte und mich in der Esperantogemeinde umsah, war ich ein wenig erschrocken, mit welchen Schiffsgenossen ich die Reise unternommen hatte. Denn als ich das Gespräch auf die Hindernisse brachte, welche durch die Dachbuchstaben bewirkt werden und die baldige Verbesserung dieses Übelstandes als eine Frage der Zeit und zwar einer kurzen erklärte, stieß ich auf einen verbissenen Widerstand, der deutlichst durch den Höflichkeitsschleier hindurchschien, den man dem neuen, wirksamen Genossen gegenüber noch vorzunehmen für zweckmäßig hielt. Und eine ältere Dame, welche als sehr frühzeitige Anhängerin der Sache eine führende Rolle spielte, führte mich in ein angrenzendes Zimmer, um mir die Einstellung der Esperantisten zu dieser Frage anschaulich zu machen. Dort befand sich an der Wand ein Tisch mit einer feierlichen grünen Sammetdecke (Grün ist die Wappenfarbe des Esperanto); in der Mitte lag darauf ein in grünes Leder gebundenes Prachtexemplar des »Fundamento« mit eigenhändiger Widmung des Meisters und an beiden Seiten standen zwei silberne Leuchter mit brennden Kerzen. Das ganze war ein Altar, geweiht dem Kultus der Unberührbarkeit des Fundamento.

Diese religiöse Verehrung, verknüpft mit dem blinden Fanatismus, der den religiösen Bewegungen so oft anhaftet, ist unter den Anhängern des Esperanto sehr verbreitet. Mir, der ich in der Weltsprache ein Verkehrsmittel, allerdings das wichtigste von allen, sehe, war und ist eine solche Einstellung ganz und gar zuwider und ich kann sie nur als unheilbringend für die Sache bezeichnen. Denn diese ist vor allen Dingen ein technisches Problem. Einen Gegenstand religiöser Verehrung darf man aber nicht mit technischen Augen ansehen, ohne Zorn und Abwehr bei den Verehrern und noch[155] mehr der Priesterschaft zu bewirken. Und wenn man eine Sache nicht mit technischen Augen ansieht, beraubt man sich der Möglichkeit, den energetischen Imperativ anzuwenden, von welchem jeder mögliche kulturelle Erfolg unmittelbar abhängig ist.

Paris. Über meine Amerikanischen Erfolge hatte ich Couturat von Zeit zu Zeit Nachricht gegeben. Nach meiner Heimkehr regte ich an, nunmehr die Zahl der Zustimmenden als groß genug anzusehen, um zur Ausführung der zweiten Aufgabe zu schreiten, welche in der Satzung der Delegation vorgesehen war.

Diese zweite Aufgabe bestand darin, einen Kreis von Sachkundigen zusammenzurufen, um die Sprache festzustellen, die weiterhin als allgemeine Hilfssprache anerkannt und verbreitet werden sollte.

Nach den nötigen Vorbereitungen fand die Einberufung dieses Arbeitsausschusses im Frühling 1907 nach Paris statt.

Es war erst das zweitemal, daß ich Paris besuchte. Während meiner Leipziger Zeit hatte sich niemals ein Anlaß ergeben, welcher erheblich genug war, um mich zu der Reise zu veranlassen. Denn in scharfem Gegensatz zu der Bereitwilligkeit, mit welcher die Englischen und Amerikanischen Fachgenossen die neuen Lehren der physikalischen Chemie zunächst geprüft und dann angenommen hatten, verhielten sich die Französischen Kollegen völlig gleichgültig. Es betätigte sich nicht einmal eine ausgesprochene Gegnerschaft, sondern man kümmerte sich überhaupt nicht um die neuen Gedanken, weil man nichts von ihnen wußte und sich keine Mühe geben mochte, etwas von ihnen zu erfahren.

Es war dies nicht das erstemal, daß ein großer und grundlegender Fortschritt der Wissenschaft durchgeführt worden war, ohne daß man ihn in Paris beachtete. Als vor der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gleichzeitig[156] in Deutschland und England die Lehre von der Energie entstand und beide Völker um ihre Entwicklung wetteiferten, ließ man dies in Frankreich geschehen, ohne daß dort jemand vorhanden zu sein schien, der eine Ahnung von der Bedeutung der Sache hatte. Volle zehn Jahre vergingen nach der Aufstellung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie durch J.R. Mayer, bevor in der führenden Zeitschrift jenes Landes, den Annales de chimie et de physique die Angelegenheit zum erstenmal erwähnt wurde. Und dies geschah in einer Zeit, wo die Forschungen V. Regnaults in großem Maßstabe auf die Ermittlung der Gesetze und Zahlenwerte gerichtet waren, welche für die Arbeitsleistung der Dampfmaschinen maßgebend sind, d.h. auf ein Gebiet, das erst durch die Anwendung der Energielehre in Gestalt der Thermodynamik Klarheit erlangen konnte.

In dem Falle der neuen Chemie war es ganz ebenso gegangen: es brauchte zehn Jahre, bis man in Paris zu der Erkenntnis kam, daß wieder einmal die Wissenschaft nicht darauf gewartet hatte, daß man dort seine Zustimmung zu den neuen Fortschritten gab, wie dies ein halbes Jahrhundert früher meist noch erforderlich war. Sondern man hatte überhaupt nicht darnach gefragt, was man dort zur Sache meinte. Schließlich war dann van't Hoff, der von seiner Studentenzeit her mit Paris Fühlung behalten hatte, zu einem Vortrag vor der dortigen chemischen Gesellschaft eingeladen worden, und man stellte mit Erstaunen fest, daß bereits eine starke internationale Bewegung vorhanden war, die sich auf keine Weise mehr totschweigen ließ. Auch Arrhenius wurde dann um persönliche Mitteilung seiner Lehre gebeten, aber es dauerte noch lange Zeit, bis ein spärlicher Bach wissenschaftlicher Arbeiten von dort aus in den breiten Strom einmündete, welcher sich in den anderen Ländern aus jenen Quellen entwickelt hatte.[157]

Im Jahre 1907 sah ich Paris zum erstenmal. Ich war wegen eines technisch-wissenschaftlichen Gutachtens über das Verfahren der Luftverflüssigung von Claude zu einer Besichtigung seiner Anlagen eingeladen worden und hatte bei dieser Gelegenheit einige von den dortigen Fachgenossen kennen gelernt. In erster Linie A. Haller, der, obwohl Organiker, die neue Entwicklung seiner Wissenschaft aufmerksam verfolgt hatte. Wir empfanden alsbald lebhafte Sympathie füreinander, denn er besaß gleichfalls neben seiner wissenschaftlichen Begabung eine ausgeprägt organisatorische, so daß wir weitgehend übereinstimmende Gedanken und Pläne bei uns feststellen konnten. Auch wird später gelegentlich der Organisation aller Chemiker der Welt über die praktischen Ergebnisse dieser Gemeinsamkeit zu berichten sein. Auch mit meinem nahen Fachgenossen Le Chatelier und dem hervorragenden Mathematiker H. Poincaré ergaben sich freundschaftliche Berührungen.

Pariser Laboratorien. Auf meinen dringenden Wunsch wurde mir das Curiesche Laboratorium gezeigt, in welchem vor kurzem das Radium entdeckt worden war; die Curies selbst waren verreist. Es war ein Mittelding zwischen Pferdestall und Kartoffelkeller, und wenn ich nicht die Arbeitstische mit den chemischen Geräten gesehen hätte, so hätte ich an einen scherzhaften Täuschungsversuch gedacht.

Mir war schon längst klar geworden, daß die Laboratoriumsverhältnisse selbst der ersten Professoren in Paris nicht die besten sein konnten. So pflegte M. Berthelot (den ich übrigens nie persönlich kennen gelernt habe) seine thermochemischen Messungen bei der jeweiligen Temperatur seines Arbeitsraumes anzustellen, während J. Thomsen (I, 223) in seinem Arbeitszimmer eine selbsttätige Heizung eingerichtet hatte, welche die Temperatur dauernd bei 18° hielt, so daß seine Messungen in guter methodischer Ordnung entstanden.[158]

In Berthelots Arbeiten erschienen Temperaturen, die bis 6° oder 7° heruntergingen, so daß ich eine Gänsehaut bei dem Gedanken bekam, daß in solcher Umwelt wissenschaftliche Arbeit ausgeführt wurde. Offenbar wurde doch noch am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Heizung der Laboratorien als ein entbehrlicher Luxus angesehen, wie dies etwa ein Jahrhundert früher der Fall gewesen war, wo J. Liebig und sein Lehrer Gay-Lussac bei ihren Arbeiten dicke Holzpantoffeln an den Füßen zu tragen pflegten. Inzwischen hatten sich also die Verhältnisse nicht wesentlich gebessert und waren in fast unglaublichem Abstande gegen das zurückgeblieben, was in Deutschland an der kleinsten Hochschule selbstverständlich war.

Übrigens erfuhr ich, als ich mein Erstaunen über diesen Zustand äußerte, daß zufolge der großen Entdeckungen den Curies ein neues Laboratorium gebaut werden sollte.

Natürlich hatte Liebig seinerzeit, als er in Gießen sein Laboratorium eröffnete, sich zunächst an das Pariser Muster gehalten. Wir besitzen aus seinem Briefwechsel mit Wöhler Andeutungen darüber, wenn er von der Erkältungsgefahr im ungeheizten Wagezimmer schreibt. Aber der lange und strenge nordische Winter zwingt zur Einrichtung einer ordentlichen Heizung, wenn nicht die Arbeit ernstlich Not leiden soll, und so erklärt sich, daß die Einrichtung behaglicher Arbeitsräume auch für den »unreinlichen Teil der Physik«, wie die Chemie gelegentlich definiert worden ist, in Deutschland weit schnellere Forstschritte gemacht hat, als in Frankreich und England. Einen erheblichen Anteil hieran hat die etwas später erfolgte Einführung des Leucht- und Heizgases an Stelle der unsauberen Holzkohleöfen. Wir wollen nicht vergessen, daß kein Geringerer als Robert Bunsen jahrelang gearbeitet hat, um den rußfreien und heißen Gasbrenner[159] zu erfinden, der auf der vorangehenden Zumischung eines Teils der Verbrennungsluft zu dem Gase beruht und bis auf den heutigen Tag die Grundlage aller Gasfeuerungen geblieben ist.

Als diese Fortschritte in Deutschland schon längst Allgemeingut geworden waren, blieb Paris und mit ihm das übrige Frankreich noch über ein Menschenalter lang im Rückstande. Es ist dies eines der vielen Beispiele dafür, wie völlig unfähig der durchschnittliche Franzose ist, zu begreifen, daß außerhalb Paris etwas vorhanden sein könne, was besser ist. Dieser Aberglaube reicht bis in sehr hohe Schichten hinauf und wird auch von vielen Nichtfranzosen geteilt. Wir brauchen uns nicht weit nach solchen umzusehen, die mit der gleichen geistigen Krankheit behaftet sind. Sie ist unter den Deutschen außerordentlich verbreitet.

Von dem hinreißenden Eindruck, über welchen die Besucher der Stadt wohl meist unter dem Einfluß des herkömmlichen Geredes zu berichten pflegen, habe ich persönlich nicht eben viel verspürt. Am besten wirkten auf mich die weiträumige Anlage vom Tuileriengarten über die Elysäischen Felder bis zum Triumphbogen, ferner der gothische Bau der Liebfrauenkirche mit dem unerschöpflichen bildnerischen Schmuck und den schönen farbigen Fenstern. Aber im übrigen machte die Stadt einen ausgesprochen altmodischen Eindruck auf mich, wie eine Frau, die einstmals schön und begehrt gewesen ist und immer noch an die Wirksamkeit ihrer alten Künste glaubt. In den Auslagen trat überall die Rücksicht auf den grellen und lauten Geschmack der Amerikanischen Kundschaft zutage. Die Ansichtspostkarten waren abstoßend gewöhnlich; fand man einmal eine gute, so konnte man die Deutsche Herkunft feststellen, wenn man das (meist sehr versteckt angebrachte) Herstellerzeichen aufsuchte.

[160] Die Delegationssitzungen. So war mir Paris bereits einigermaßen bekannt, als ich kurz hernach zur Versammlung der »Delegation« wieder dorthin reiste, begleitet von meiner älteren Tochter. Die Sitzungen fanden in einem Hörsaal der Universität (Sorbonne) statt, in welchem Couturat während des Semesters seine Vorlesungen hielt. Um keinen allzu weiten Weg dahin zu haben, brachte ich mich am Quai Voltaire in einem alten kleinen Gasthof Hotel Voltaire unter. Später entdeckte ich in Richard Wagners Erinnerungen, daß es dasselbe Haus war, in welchem er seinerzeit den Text zu der Deutschesten seiner Opern, den Meistersingern, geschrieben hat.

Zu den Sitzungen waren zwölf bis fünfzehn Vertreter der verschiedenen Gruppen erschienen, die an der »Delegation« teilgenommen hatten. Der eigentliche Geschäftsführer war Professor Louis Couturat, derselbe, der mit seinem Kollegen, dem Mathematiker Léau die ausgezeichnete Geschichte der künstlichen Sprachen verfaßt hatte, welche die wissenschaftliche Grundlage unserer Beratungen lieferte. Professor Léau erschien in einer der ersten Sitzungen auf kurze Zeit, verschwand dann aber und hat sich später ganz aus der Angelegenheit zurückgezogen.

Couturat war etwas jünger als ich, ziemlich hoch gewachsen und hätte schlank ausgesehen, wenn er nicht die gebückte Haltung des Schreibtischmenschen gehabt hätte. Sein Haar war blond, helle Augen und eine stubenblasse Gesichtsfarbe gaben ihm ein unfranzösisches Aussehen. Er war verheiratet und seine Frau erwies meiner Tochter freundliche Gastfreundschaft bei gelegentlichen Besuchen. Der Haushalt war kleinbürgerlich und meine Tochter erschreckte die Frau Professor zuweilen durch die Unbefangenheit ihrer Ansichten, denn diese schien erst vor kurzem eine klösterliche Erziehungsanstalt verlassen zu haben.[161]

Eine sehr wertvolle Bekanntschaft gewann ich in dem Dänischen Philologen Professor Jespersen. Er war damals fast der einzige »Fachmann«, der die Bedeutung der Aufgaben begriffen hatte, welche die Sprachkunde hier zu lösen hatte; handelt es sich doch für diese um eine neue, die eigentlich wissenschaftliche Epoche, wo die synthetische, schöpferische Arbeit die bisherige, bloß registrierende und ordnende abzulösen hat. In solchem Sinne hatte er, unter starkem Widerspruch seiner Fachgenossen, wie er mir erzählte, bereits seine früheren Arbeiten ausgeführt, die ihn zur Erkennung der Wirksamkeit des energetischen Imperativs bei der freiwilligen Umgestaltung der Sprachen im Laufe der Zeit geführt hatten, die besonders in der Entwicklung des Englischen zutage getreten war. Den Aufgaben der Versammlung widmete er sich mit lebhaftem Eifer und wir verdankten seiner fachkundigen Beratung einen großen Teil unserer Ergebnisse.

Jespersen war von mittlerer Größe, mit frischem Gesicht, rötlichblondem Haar und kurzem spitzem Bart, lebhaft und gewinnend im Verkehr. Seine idealistische Gesinnung trat in seinem Verhalten überall deutlichst hervor. Er erwies sich als bemerkenswert frei von den ethischen Berufskrankheiten der Gelehrten und erwarb sich in der Versammlung alsbald allgemeine Hochachtung und Liebe. Ein zweiter Fachphilologe war der Petersburger Professor Baudouin de Courtenay. Er stellte ein merkwürdiges ethnographisches Gemisch dar, denn er war trotz seines französischen Namens nordischen Geblütes und sah wie ein Abkömmling einer der noch nicht ganz kulturell assimilierten Völkerschaften Rußlands aus. Bei den Verhandlungen traten seine sehr radikalen, politischen und sozialen Ansichten auffallend hervor; heute würden wir sie bolschewistisch nennen. So erschien es ihm eine Verletzung der allgemeinen Menschenrechte,[162] als wir darüber berieten, durch welche Endung die Bezeichnung der weiblichen Angehörigen irgendeiner Gruppe von der der männlichen abgeleitet werden sollte, wie etwa homo der Mann, homino die Frau. Denn, meinte er, die Frauen hätten in allen Beziehungen Anspruch auf dieselben Rechte wie die Männer und es sei daher unzulässig, sie grammatikalisch als von diesen abgeleitet, also als minderwertig zu behandeln. Doch drang er damit nicht durch.

Mit großer Aufmerksamkeit betrachtete ich Herrn de Beaufront. Es ist oben (III, 148) schon erzählt worden, wie er unter Verzicht auf seine eigene Erfindung das Esperanto des Dr. Zamenhof seinerzeit an das Licht der öffentlichen Teilnahme gebracht und ihm zu seinem ersten Erfolg verholfen hatte. Er erwies sich als eine wohlgepflegte Persönlichkeit mit zarter Gesichtsfarbe, weißem Haar und Bart und von verbindlichem Wesen. Er blieb bald von den Sitzungen fort. Über die besondere Rolle, welche er dennoch bei dieser Versammlung spielte, wird bald eingehender berichtet werden.

Aus den übrigen Teilnehmern ragte noch Gaston Moch hervor, dessen Name in der pazifistischen Bewegung jener Tage viel genannt wurde. Er war Militär gewesen und hatte als Hauptmann der Artillerie seinen Abschied genommen, nachdem seine Überzeugungen mit seinem Beruf in unlösbaren Widerspruch geraten waren. Er war ein magerer und sehniger Mann mit schnellen Bewegungen und höchst geläufiger Zunge. Seine Rede begleitete er mit einem lebhaften, bis ins Groteske gesteigerten Mienenspiel in seinem mageren, schnurrbärtigen Gesicht. Dem weiblichen Geschlecht widmete er eine große Aufmerksamkeit; sein Ideal war die Pariserin, mit deren hemmungslosem Lob und Preis er seine Zuhörer ermüdete und zu innerem Widerspruch reizte. In unseren Verhandlungen erwies er sich als ritterlich[163] und frei von Fanatismus, was für einen Anhänger des Esperanto, der er war, eine seltene Sache ist. In dieser Beziehung war sein Gegenteil der Rektor der Akademie von Dijon Boirac, der als seine Aufgabe ansah, die Interessen des Esperanto mit allen Mitteln wahrzunehmen. Hierbei unterstützten ihn einige weitere Mitglieder der Versammlung, über welche nichts weiter zu berichten ist.

Eine Persönlichkeit besonderer Art war der italienische Mathematiker Peano. Lang, äußerst mager, nach Haltung und Kleidung ein Stubengelehrter, der für Nebendinge keine Zeit hat, mit gelbbleichem, hohlem Gesicht und tiefschwarzem, spärlichem Haar und Bart, erschien er ebenso abstrakt, wie seine Wissenschaft. Er hatte eigene Vorschläge zu vertreten, nämlich sein »latine sine flexione«, ein tunlichst vereinfachtes Latein, für welches er mit unerschütterlicher Hingabe eintrat, da er als Italiener das Gefühl hatte, im Latein ein uraltes Erbe zu verteidigen.

Die Eröffnung der Verhandlungen geschah durch den Geschäftsführer Couturat, der eine kurze Darstellung ihrer Vorgeschichte gab und dann die Versammlung ersuchte, den Vorstand zu wählen. Das Amt des ersten Vorsitzenden wurde mir zugewiesen, Jespersen wurde zweiter Vorsitzender, Couturat Schriftführer.

Da ich persönlich mit keinem der Teilnehmer vorher bekannt gewesen war, darf ich diese Auszeichnung, die ich lebhaft als solche empfand, ausschließlich dem wissenschaftlichen Namen zuschreiben, den ich mir zunächst in meinem Sonderfach, später als Philosoph erworben hatte. Die Würde brachte aber eine schwere Bürde mit sich. Denn die Verhandlungen wurden Französich geführt, da den Französischen Teilnehmern, welche die Mehrzahl bildeten, keine andere Sprache bekannt war; nur Couturat sprach ein etwas mühsames aber doch hinreichendes Deutsch. Meine Bekanntschaft mit der[164] Französichen Sprache aber beruhte teils auf den Schulerinnerungen, die nicht sehr eingehend waren (I, 53), teils auf dem Lesen wissenschaftlicher Abhandlungen in dieser Sprache, das sich zufolge vieler Übung allerdings geläufig genug vollzog. Doch hatte ich beim gelegentlichen Lesen schöner Literatur mich überzeugen können, wie überaus einseitig mein Sprachgut hierbei geblieben war. Ein wenig Übung in der täglichen Sprache hatte ich mir bei meinem ersten Besuch in Paris erworben.

Neben dieser äußeren Schwierigkeit kamen große innere. Die versammelten Personen waren aus allen Weltgegenden zusammengeschneit, stammten aus sehr verschiedenen Kreisen, vertraten äußerst verschiedene Standpunkte und waren zum Teil fest entschlossen, ihre Absichten unbedingt durchzusetzen. Es ließ sich also ein harter Kampf der Meinungen voraussehen und ich mußte mir bewußt halten, daß beständig eine große Gefahr bestand, die sachlichen Gegensätze könnten sich in persönliche umwandeln.

Nach dem Zeugnis meiner damaligen Mitarbeiter war es mir gelungen, diese Gefahr abzuwenden, obwohl unsere Sitzungen zwei Wochen lang sich hinzogen und an unerwarteten Zwischenfällen reich waren. Ich hatte alsbald darüber nachgedacht, durch welches Mittel ich eine friedliche Durchführung unserer Arbeiten am besten sichern könne, und war zu dem Ergebnis gekommen, daß ich durchaus vermeiden mußte, Beschlüsse fassen zu lassen, die nur von einer geringen Mehrheit getragen waren, also fast die Hälfte der Teilnehmer unzufrieden zurückließen. Ich sorgte also dafür, daß jeder Streitpunkt so lange erörtert wurde, bis ein Jeder sich völlig ausgesprochen und die Versammlung sich sachlich geeinigt hatte, vielleicht mit Ausnahme von einem oder zwei unverbesserlichen Rechthabern. Dadurch gewann ich bald das Vertrauen der Teilnehmer, und dieses erleichterte[165] mir sehr die Begleichung großer Schwierigkeiten, die gegen Ende unserer Verhandlungen entstanden.

Babylon. Die Arbeiten begannen damit, daß wir die Erfinder der in Wettbewerb stehenden Kunstsprachen oder ihre Vertreter die Grundlagen und organisatorischen Gedanken vortragen ließen, auf denen die Sprache beruhte. Hierdurch gewannen wir den nötigen Überblick über die vorhandenen Möglichkeiten. Diese beschränkten sich auf zwei Fälle. Entweder war der Wortschatz nach irgend welchen Regeln frei gebildet, oder er war einer oder mehreren der vorhandenen Sprachen entnommen. In jedem Falle war die Grammatik ziemlich übereinstimmend auf die einfachsten Notwendigkeiten eingeschränkt worden, wenn auch die gewählten Laute der Abwandlungen von Fall zu Fall sehr verschieden ausgefallen waren.

Wir überzeugten uns bald, daß die freie Erfindung der Wortstämme durch die großen und willkürlichen Ansprüche an das Gedächtnis erhebliche Nachteile ergaben, ohne daß ein wesentlicher Gewinn an anderer Stelle nachweisbar war. Die künftige internationale Hilfsprache mußte, wie Jespersen es später aussprach, für möglichst viele möglichst leicht erlernbar sein, und dafür ihr Wörterbuch aus Wortstämmen bilden, welche möglichst international bekannt waren. Es ergaben sich also dieselben Grundsätze, auf denen das Volapük Schleyers wie das Esperanto Zamenhofs beruhte, nur daß sie dort noch nicht folgerichtig durchgeführt waren.

Hierdurch wurde insbesondere die von einem wohlhabenden Amateur namens Bollac erfundene »Blaue Sprache« ausgeschaltet, die uns von diesem persönlich vorgeführt wurde. Bollac hatte vorher sich freiwillig verpflichtet, sich unserer Entscheidung ohne Widerspruch zu fügen, und es ist mir eine Freude, mitteilen[166] zu dürfen, daß er sein Wort redlich gehalten hat, als die Entscheidung gegen ihn ausgefallen war.

Ido. Nachdem die Verhandlungen so weit gediehen waren, erlebten wir eine Überraschung. Eines Morgens fand jeder Mitarbeiter auf seinem Platz ein autographiertes Heft mit einem vollständigen Plan einer neuen, nach den gefundenen Grundsätzen gebildeten Sprache. Couturat hatte die Hefte hingelegt und teilte mit, daß er den Autor zwar kenne, ihn aber nicht nennen dürfe. Er versicherte ferner, daß weder er selbst, noch einer der Anwesenden der Verfasser des neuen Entwurfs sei, und daß der Autor ihn zu diesem auffallenden Vorgehen veranlaßt habe, da er glaube, daß der innere Wert des Vorschlages unbefangener geprüft werden würde, wenn der Verfasser unbekannt bliebe.

Es stellte sich heraus, daß das Heft die Grundlagen eines verbesserten Esperanto enthielt, in welchem die wesentlichsten Fehler dieser Sprache vermieden waren. Dies entsprach dem Ergebnis, zu welchem die Mehrzahl der Versammlung inzwischen gelangt war. Von allen noch in Betracht kommenden Vorschlägen hatte sich Esperanto als der beste erwiesen, aber einige grobe und leicht zu beseitigende Unzulänglichkeiten verhinderten seine unveränderte Annahme. Hier schien also das Gesuchte fertig vorzuliegen.

Die Esperantisten, geführt von Boirac, versuchten einen Gegenstoß, indem sie den Wortlaut des von der Versammlung übernommenen Auftrags so deuten wollten, daß diese daran gebunden sei, eine von den bereits vorhandenen Sprachen unverändert zu wählen, nicht aber selbst die Ausarbeitung oder Verbesserung in die Hand zu nehmen. Die Versammlung aber beschloß, daß sie bezüglich der Art, wie sie den Auftrag aufzufassen und auszuführen habe, autonom sei, und daß das vorgelegte Projekt geprüft werden solle. Hier drohte das bisher[167] gut gewahrte Einvernehmen in Stücke zu gehen, weil die eine geschlossene Gruppe bildenden Esperantisten sich diesem Mehrheitsbeschlusse (fast dem einzigen, den wir gefaßt haben, denn sonst gab es meist Einstimmigkeit) nicht fügen wollten. Es bedurfte ernstlicher Bemühungen, bei denen sich G. Moch besondere Verdienste erwarb, bis eine Beruhigung der Geister eintrat und wir an die Einzelberatung des anonymen Vorschlages gehen konnten.

Dieser hatte um seine Abhängigkeit vom Esperanto zum Ausdruck zu bringen, den Namen Ido erhalten. Ido bedeutet nämlich (als Nachsilbe) einen Abkömmling. Die gemeinsame Arbeit, die sich natürlich zuerst auf die allgemeinsten Fragen bezog, ergab die Annahme des internationalen (englischen) ABC ohne alle Akzente und sonstigen Zeichen und den Grundsatz der eindeutigen Wechselbeziehung zwischen Buchstabe und Laut. Leider wurde dieser Grundsatz unter Couturats Führung alsbald verletzt, indem die Doppelbuchstaben sh und ch angenommen wurden, die wie im Englischen ausgesprochen werden, also anders, als sich aus der Aussprache der Einzelbuchstaben ergibt. Vergeblich wies ich darauf hin, daß bei sachgemäßer Ausmerzung von Doppellauten, die einzelnen Buchstaben zugeordnet waren (c = ts, x = ks), alle nötigen einfachen Zischlaute durch Einzelbuchstaben ausgedrückt werden können. Die andere Schreibart wurde angenommen, weil sie eine größere Ähnlichkeit mit den natürlichen Sprachen ergab. Ich sagte voraus, daß an dieser Stelle doch später einmal die Konsequenz siegen und eine Änderung erzwingen werde. Denn alle Erfahrungen bei der Aufstellung von Normen hatten mich schon damals darüber belehrt, daß auf diesem Gebiete jedes Kompromiß mit zeitlichen Erwägungen einen Pfahl im Fleische bedeutet, der immer weh tut und über kurz oder lang, meist unter argen[168] Schwierigkeiten beseitigt werden muß. So sehe ich auch die Zeit kommen, wo ein internationaler Arbeitsausschuß (vielleicht vom Völkerbunde gewählt) das Problem der allgemeinen Hilfssprache von Grund auf bearbeiten und dabei den Grundsatz ein Buchstabe ein Laut rein durchführen wird.

Abschluß. Nachdem wir durch fast zwei Wochen täglich je zwei mehrstündige Sitzungen abgehalten und die Hauptpunkte der künftigen Hilfssprache festgestellt hatten (unter Vorbehalt späterer Verbesserungen, soweit sie notwendig werden sollten), kamen wir zu der Einsicht, daß wir diese Arbeit nicht in gleicher Weise zu Ende führen konnten. Denn wir waren alle von den gehabten Anstrengungen erschöpft und fanden außerdem, daß zahlreiche Aufgaben nur durch langwierige Einzelarbeit gefördert werden konnten, die wir unter zweckmäßiger Einteilung nur zu Hause machen konnten. Dabei waren wir bereit, den Esperantisten soweit entgegenzukommen, als dies außerhalb jener unbedingten Grundlagen möglich war. Zu diesem Zweck wurde ein Zusammenarbeiten mit ihnen geplant, für welches sie ihrerseits Mitarbeiter bereitstellen sollten. Ihre im Ausschuß vorhandenen Vertreter sprachen hierzu ihre Bereitwilligkeit und die bestimmte Hoffnung aus, daß ihre Organisation diesem Plane gern zustimmen werde. Nur sollten wir ihnen einen Monat Zeit lassen, um alles dies in Ordnung zu setzen und bis dahin unsere Beschlüsse nicht an die Öffentlichkeit bringen. Hiermit waren wir einverstanden und haben uns streng daran gehalten.

Ein Schatten. Als dies alles geordnet war, kehrte ich nach Hause zurück, sehr ermüdet von den Anstrengungen, aber sehr zufrieden mit den Ergebnissen, welche ein gedeihliches Zusammenarbeiten aller Beteiligten sicher zu stellen schienen. Die weiter zu leistenden Arbeiten wurden organisiert, wobei Couturat sich unermüdlich betätigte.[169]

Um einen regelmäßigen Verkehr dabei zu sichern, veranlaßte ich alsbald die Gründung einer Zeitschrift, welche den Titel Progreso (Fortschritt) erhielt und von Couturat vorzüglich geleitet wurde. Nur in einem Punkt verstimmte er mich. Ich hatte eben den Gedanken der Weltformate entwickelt (in dem Kapitel über die Brücke wird darüber berichtet werden), und wollte natürlich auch das Format des Progreso anschließen. Couturat hatte seinerseits schon ein privates Format für seine ausgedehnte wissenschaftliche Kartei festgelegt, das etwa dem gebräuchlichen Briefpapier entsprach. Er ließ alsbald die neue Zeitschrift in seinem Format erscheinen und schrieb mir einen langen Brief, in welchem er den Beweis unternahm, daß auf seine Bogen, die etwas kleiner waren, als die der Weltformate, sich tatsächlich mehr schreiben oder drucken lasse, als auf die größeren des letzteren. Vergeblich machte ich geltend, daß die Weltformate organisch an das metrische System angeschlossen waren und deshalb sich notwendig über kurz oder lang durchsetzen würden. Er zeigte sich unzugänglich für diese Gründe, und da die Formatfrage damals noch in ihren ersten Anfängen stand, so gab ich nach.

Allerdings wirkte dies Erlebnis abkühlend auf das anfangs recht nahe und warme Verhältnis, in welches ich zu ihm getreten war. Es war nicht das erstemal, wo ich zu bemerken glaubte, daß neben den internationalen Bestrebungen, die er so eifrig und erfolgreich betrieb, in seinem Herzen auch kräftige nationale Tendenzen wirksam waren. Er verbarg sie sorgfältig; sie schienen mir aber in zahlreichen Fällen die Richtung seiner Betätigung zu bestimmen. Nicht nur in solchem Sinne, daß er seinem Volke, seiner Sprache usw. einen möglichst starken Einfluß auf allgemeine Angelegenheiten zu sichern sich bemühte: das verstand ich und gönnte es ihm gern. Sondern auch in solchem Sinne, daß er solche allgemeine[170] Dinge, die nicht von ihm oder den Seinen ausgegangen waren, nicht nur nicht zu fördern, sondern unauffällig zu hindern geneigt war, und dazu den Weg der Intrige wählte, der unseren westlichen Nachbarn nicht ungeläufig zu sein scheint. Die Pariser Tagung hatte mich mancherlei davon kennen gelehrt. Ein solches Verhalten wollte und konnte ich nicht billigen und dies entfernte mich von ihm.

Krieg der Esperantisten. Als die Zeit abgelaufen war, binnen welcher die Esperantisten sich über ihre Mitarbeit entscheiden sollten, hatte ich keine Nachricht erhalten. Ich schrieb nach Paris darum und ließ mich noch längere Zeit hinhalten, ohne bestimmte Auskunft bekommen zu können. Und dann erscholl auf einmal in der Esperantistischen Presse ein ungeheures Getöse, des Inhalts, als hätte man einen verräterischen Angriff auf ihre heiligsten Güter versucht. Es wurde der Schlachtruf ausgegeben: ni restas fidelaj, wir bleiben treu, jede Beziehung zur Delegation wurde als Verrat gebrandmarkt und ein unbedingtes Festhalten am »Fundamento« bis zum letzten Buchstaben als die einzig mögliche Politik ausgerufen. Vergeblich wendete ich mich an die Männer, mit denen die friedlichen Abmachungen getroffen waren; Krieg bis aufs Messer war der Schlachtruf auf der ganzen Linie.

Von Couturat wurde mir später als Erklärung mitgeteilt, daß eine große Pariser Verlagsbuchhandlung, welche fast alle Esperantistischen Schriften hergestellt und vertrieben hatte, diese ganze Gegenbewegung veranlaßt und finanziert habe. Sie besäße sehr große unverkaufte Posten Esperantistischer Literatur, und diese würden entwertet sein, wenn eine Änderung der Sprache sich durchsetzte. Das Verfahren, geschäftliche Interessen in ein moralisches Gewand zu kleiden, ist ja nicht neu und wird um so lieber geübt, je größere Geldbeträge in Frage kommen. So ist die Deutung an sich nicht unwahrscheinlich,[171] doch habe ich sie nicht selbst prüfen können und muß mich daher auf die Wiedergabe der Mitteilung beschränken.

Zamenhof. Auch eine persönliche Begegnung mit Zamenhof führte nicht zum Frieden. Er war auf meine Bitte so gut, auf einer Heimfahrt von Paris nach Warschau seine Reise in Dresden auf einige Stunden zu unterbrechen. Ich fand mich zu gegebener Zeit auf dem Bahnsteig ein und traf einen äußerst bescheiden auftretenden und gekleideten älteren Herrn an, dem es kein Opfer zu sein schien, die lange Fahrt in der dritten Klasse zurückzulegen. Zamenhof war Jude und die äußeren Eigentümlichkeiten seiner Rasse kennzeichneten auch sein Aussehen. Klein und mager hatte er ein blasses Gesicht mit Brille, graugemischtem Haar und Bart. Sein Wesen war anspruchslos und gewinnend. Aber für Friedensverhandlungen zeigte er sich völlig unzugänglich; ich hatte den Eindruck, daß er in Paris ein bindendes Versprechen gegeben hatte, sich auf nichts einzulassen. Als ich ihn schließlich fragte, nachdem er offenbar von Herzen kommende Friedenswünsche auch seinerseits ausgesprochen hatte, wie er sich die Möglichkeit dazu dachte, meinte er schüchtern, ich sollte eben Ido aufgeben und Esperantist werden. Wird dann der Reformgedanke zugelassen werden? fragte ich. Er schüttelte betrübt den Kopf und wir mußten uns unverrichteter Sache trennen.

Schneeberger. Uns Idisten blieb nichts übrig, als auf die gehoffte gemeinsame Arbeit zu verzichten und unsere Tätigkeit zu organisieren. Es wurde ein Vorstand gewählt, der die allgemeinen Geschäfte zu führen hatte und eine Akademie, welche sich insbesondere mit den sprachlichen Fragen befaßte. Zu den oben genannten gesellten sich bald eine Anzahl früherer Anhänger des Esperanto, welche wie ich dessen Reformbedürftigkeit erkannt hatten und durch den starren Widerstand verstimmt[172] waren, mit dem sich die Mehrheit dieser Notwendigkeit widersetzte; sie stammten aus den geistig Höherstehenden jener Bewegung. Unter diesen nenne ich in erster Linie den Schweizer Schneeberger, einen äußerst rührigen und gewandten Mann, dem die Idobewegung sehr großen Dank schuldig ist. Leider starb er im Jahre 1925.

Schneeberger war ein kleiner, schwarzbärtiger und -haariger Mann, der im Zivilberuf Pfarrer in einem kleinen Dorf bei Bern war. Als ich auf einer meiner vielen Reisen mit ihm eine Begegnung verabredet hatte, lud er mich dringendst ein, ihn in seinem Heim zu besuchen, was ich sehr gern tat. Denn ich hatte ihn nicht nur wegen seiner unermüdlichen und unbezahlten Tätigkeit für den idealen Zweck schätzen gelernt, sondern widmete ihm eine starke persönliche Zuneigung wegen seines heiteren, von Pfaffentum ganz freien Wesens. In dem Pfarrhause lernte ich wunderlich ungewohnte Verhältnisse kennen. Das Äußere und Innere der Pfarrei unterschied sich nicht wesentlich von einem Bauernhaus und Schneeberger machte kein Hehl daraus, daß seine Einnahmen sehr knapp waren und ihm und den Seinen nur eben das Durchkommen ermöglichten. Seine Frau, die ebenso schlicht auftrat, wie ihre Wohnung, nahm ihn auf die Seite, als wir eingetroffen waren und berichtete ihm klagend etwas. Er kam lachend zu mir und erzählte, daß mir zu Ehren ein Kaninchen aus dem Hausstall geschlachtet und gebraten worden war. Vor einer halben Stunde aber hatte die Katze den ganzen Braten vom Tische gemaust und sich mit ihm aus dem Staube gemacht; wir mußten etwas warten, bis der Ersatz fertig wurde. In kurzer Zeit lud uns die Hausfrau zu Tisch, speiste aber nach altertümlicher Landessitte nicht mit uns, sondern ging zwischen Tisch und Küche ab und zu und achtete darauf, daß wir wacker aßen und an nichts Mangel litten.

[173] Weitere Arbeiten. Die folgende Zeit war erfüllt von Arbeiten nach zwei Richtungen. Zunächst war die Entwicklung des Ido aus den ersten Anfängen zu bearbeiten. Der ursprüngliche Entwurf wurde sehr weitgehend abgeändert und es wurden einfache und folgerichtige Formen gefunden. Couturats Fachkenntnisse in der formalen Logik und Jespersens Sprachwissenschaft erwiesen sich hierbei von gutem Nutzen und ermöglichten, das Ido auf eine weit höhere Entwicklungsstufe zu heben, als das Esperanto einnahm, dessen Verbesserung durch jenen selbstmörderischen Beschluß der Unveränderlichkeit völlig unterbunden war. In wenigen Jahren war das Nötigste geschehen und die weitergehenden Arbeiten hatten nur noch verhältnismäßig nebensächliche Punkte zu erledigen. Die anfängliche Unbestimmtheit und Veränderlichkeit war so weit überwunden, daß der Einfluß neuer Beschlüsse der Akademie sich kaum merklich mehr geltend machte.

Um nun die aus technischen Gründen wünschenswerte Unveränderlichkeit der Sprache mit der notwendigen Entwicklungsmöglichkeit zu verbinden, wurde der zweckmäßige Beschluß gefaßt, daß immer über je fünf Jahre die Sprache unverändert bleiben sollte, ohne Rücksicht auf die inzwischen weiter laufenden Arbeiten und Beschlüsse der Akademie. Beim Beginn der neuen Periode sollten dann die aufgesammelten Beschlüsse der Akademie in die Praxis übertragen werden und die verbesserte Sprache wieder über fünf Jahre unverändert bleiben. So waren die beiden scheinbar sich widersprechenden Erfordernisse der Beständigkeit und der Entwicklung auf das beste in Einklang gebracht und der Fortschritt organisiert.

Viel weniger erfreulich war die Durchführung der anderen Aufgabe, der Verbreitung der neuen Sprache. Seitens der Esperantisten wurde alsbald ein heftiger[174] Kampf gegen Ido eröffnet und ich muß mit Bedauern feststellen, daß die von der Gegenseite benutzten Kampfmittel nicht immer einwandfrei waren.

Verhältnismäßig harmlos war die folgende Geschichte. In Karlsbad war ich bei meinen regelmäßigen Kurwochen mehrfach mit dem hervorragenden Österreichischen sozialistischen Schulmann Glöckel zusammengetroffen, den ich gelegentlich für das Problem der Weltsprache zu erwärmen versuchte. Auf seine Frage nach der besten Lösung hatte ich ihm Ido genannt. Als ich ihn später einmal um seine Stellungnahme befragte, meinte er, Esperanto sei ihm lieber. Denn die Esperantisten hätten ihn darüber aufgeklärt, daß sein eigner Name Glöckel auf Ido Closeto heißen würde, und das sei ihm doch unerwünscht. Tatsächlich heißt Glöckchen auf Ido nicht closeto, sondern closheto; auch werden Eigennamen nicht übersetzt. Man sieht, wie überaus unbefangen das Mittel gewählt wurde, um Stimmung gegen Ido zu machen.

Ido in der Chemie. Als die sprachlichen Aufgaben in der Hauptsache geordnet waren, konnte der Blick wieder auf die allgemeineren Fragen geworfen werden. Da konnte ich mich der Einsicht nicht verschließen, daß das bloße Sammeln von Anhängern, die Ido erlernten, die Angelegenheit nicht weit bringen würde. Denn der Einzelne hatte neben der Genugtuung, sich an einer guten Sache zu beteiligen, nicht eben viel von seiner Teilnahme. Höchstens konnten sie die Gelegenheit benutzen, mit Verbandsgenossen anderer Sprache über die Länder hinweg Briefe zu wechseln oder bei Reisen ins Ausland die dortigen Idisten zu besuchen. Das reichte nicht aus, um eine kraftvolle Bewegung daraus zu machen.

Ich dachte darüber nach, welche belangreiche praktische Anwendung man von der allgemeinen Hilfssprache machen könne und kam auf folgenden Gedanken.[175] Schon wiederholt war die große Energievergeudung zur Sprache gebracht worden, welche durch die wissenschaftliche Berichterstattung in der Chemie entstand. Um alles in kürzestem Auszuge zusammenzustellen, was in der Chemie während eines Jahres geleistet wurde, brauchte man schon damals ein- bis zweitausend Seiten engen Druckes. Diese Arbeit wurde in Deutschland nicht nur einmal, sondern etwa fünfmal für verschiedene Zeitschriften und wissenschaftliche Organisationen gemacht. In englischer Sprache wurden die Arbeiten mindestens dreimal referiert: zweimal in England und einmal in Amerika. Dazu kamen noch Französische, Italienische, Russische usw. Berichte, also insgesamt etwa ein Dutzend Bearbeitungen derselben Sache.

Diese Arbeit ließ sich im Verhältnis von 10 oder mehr zu 1 vereinfachen, wenn die Berichte statt in den verschiedenen Landessprachen nur in der allgemeinen Hilfssprache veröffentlicht wurden, und zwar derart, daß jedes Land für die Berichte über die eigenen Arbeiten Sorge trug. Hierdurch wurde nicht nur die Arbeit des Ausziehens ungemein vereinfacht, sondern das Gesamtwerk konnte bei der zehn- bis zwanzigfachen Auflage, welche hierbei Absatz fand, noch viel billiger hergestellt und jedem zugänglich gemacht werden.

Um den Gedanken praktisch zu prüfen, nahm ich das Namenregister eines Lehrbuches der Chemie vor und übersetzte alle chemischen Benennungen in Ido. Es ergaben sich nur ganz unbedeutende Schwierigkeiten; so gut wie alle Namen konnten so in Ido übertragen werden, daß jeder Chemiker sie nach einmaligem Durchlesen verstand.

Ferner bezog ich mich auf den Umstand, daß es schon allgemein üblich geworden war, die Hauptergebnisse jeder Arbeit am Schlusse zusammenzustellen. Ich schlug vor, diese Zusammenfassungen gleichfalls in Ido zu[176] geben. Dann konnte jeder auch ohne die Sprache der Abhandlung zu kennen, doch deren Inhalt genau genug erfahren, um zu wissen, ob er sie studieren mußte. Zur Probe übersetzte ich einige solche Zusammenfassungen und konnte feststellen, daß auch Neulinge nach kurzer Anweisung sie verstehen konnten. Denn der Wörtervorrat wissenschaftlicher Abhandlungen ist verhältnismäßig klein innerhalb jeder Wissenschaft.

Alle diese einfachen und zweckmäßigen Vorschläge sind bisher unausgeführt geblieben, obwohl sie bereits auf dem Wege zur Verwirklichung waren. Dieser Weg führte über den internationalen Verband aller Chemiker der Welt, an dessen Bildung ich später eine große Arbeit gewendet habe. Er ist, wie so vieles andere, durch den Weltkrieg zerstört worden. An entsprechender Stelle wird über diese Angelegenheit berichtet werden.

Das Weltspracheamt. Einen zweiten Weg, die Weltsprache in ein tätiges Leben zu führen, versuchte ich aus der Erwägung des großen Nachteils, welchen die Angelegenheit durch den Kampf zwischen Ido und Esperanto erfuhr. Ich suchte nach einem Felde, das von diesem Kampfe frei war, indem ich in Bern 1911 eine Bewegung anregte, welche die Förderung des allgemeinen Weltsprachegedankens ohne Festlegung auf eine der vorhandenen Lösungen zum Ziel hatte. Es bestand damals eine starke und mannigfaltige Neigung zu internationaler Organisation technischer und wirtschaftlicher Belange, die bereits große Erfolge erzielt hatte, wie der Postverein, der Eisenbahnverband usw. Als Heimstätten für die Verwaltung solcher Ämter waren zwei Länder in den Vordergrund getreten: die Schweiz und Belgien. Es war nicht schwer, unter dem Antrieb, des Wettbewerbs in Bern die Neigung zu erwecken, das künftige Weltspracheamt zu beherbergen und dafür die Vorarbeiten zu übernehmen. Eine Anzahl tätiger[177] und einflußreicher Männer traten zusammen; als Schriftführer wirkte der unermüdliche Pfarrer Schneeberger, ich hielt einen reichlich besuchten Vortrag und der Verein zur Gründung eines Weltsprachenamts wurde unter vielseitiger Zustimmung gegründet. Allerdings nicht unter einstimmiger. Denn alsbald traten einige Esperantisten auf und verlangten, daß der Verein von vornherein ihre Sprache als die einzig in Betracht kommende anerkennen solle. Sie fanden aber keinen Anklang und erklärten darauf, daß sie unsere Gesellschaft bekämpfen würden.

Der Plan war, durch ausführlich begründete Eingaben einerseits die Schweizer Regierung zu veranlassen, eine amtliche Aufforderung an die anderen Staaten zur Gründung eines vorbereitenden Studienausschusses für die Hilfssprachenfrage ergehen zu lassen, andererseits an eine Anzahl der anderen Regierungen unmittelbar mit entsprechenden Eingaben zu gehen. Um diese Geschäfte in Gang zu bringen, bedurfte es einiger Geldmittel, die ich persönlich gern stiftete.

Solche Arbeiten gedeihen bekanntlich nur sehr langsam. Auf das Verständnis dieser Fragen waren anscheinend die maßgebenden Geheimräte, denen unsere Eingaben zur Bearbeitung übergeben wurden (soweit sie überhaupt Beachtung fanden), noch weniger vorbereitet als auf andere, noch nicht alltäglich gewordene Kulturfragen; unsere Geduld wurde daher auf sehr harte Proben gestellt und wir konnten bei den Jahresversammlungen jeweils nur sehr geringe Fortschritte verzeichnen. Der Weltkrieg brachte dann unseren Verein, wie so vieles, zum Erliegen.

In jüngster Zeit ist durch den Völkerbund, auf welchem Abgeordnete aus den verschiedensten Sprachgebieten sich verständigen sollen, die Notwendigkeit einer Hebung der Sprachenwirrnis wieder in den Vordergrund[178] getreten. Aber von den maßgebenden Männern scheint kein einziger eine Ahnung davon zu haben, daß das Problem sachlich bereits gelöst ist. So müssen wir das absurde Schauspiel beobachten, daß gleichsam der Eisenbahnzug dasteht; die Lokomotive ist geheizt, der Fahrer bereit, die Türen der Waggons sind offen, so daß die Leute nur einzusteigen brauchten, um alsbald an das Ziel geführt zu werden.

Aber sie wollen nicht, weil ihnen die Eisenbahn zu neu ist.

Das Trägheitsgesetz. Oft habe ich darüber nachgedacht, woher diese instinktive Feindschaft gegen alles Neue stammt, welche der Förderer der Menschheit bei seiner Arbeit erleben muß und deren Überwindung einen unverhältnismäßig viel größeren Aufwand kostet, als für die Entdeckung oder Erfindung des Fortschrittes selbst nötig gewesen war. Da die Erscheinung mit naturgesetzlicher Regelmäßigkeit auftritt, muß sie allgemein biologisch begründet sein. Schließlich glaube ich folgende Theorie als richtig ansehen zu dürfen.

Der Mensch stammt von niederen Lebewesen ab, die sich alle von ihm durch eine ganz bestimmte Eigenschaft unterscheiden, die beim Menschen allein im Schwinden begriffen ist. Diese Eigenschaft ist die der Beständigkeit. Weit über die geschichtlich zugänglichen Zeiten hinaus reichen die Jahrtausende zurück, während deren der Bär, der Hirsch, der Maikäfer ihre Gestalt, Lebensweise und übriges Gehaben unverändert beibehalten haben und man muß unverhältnismäßig lange Zeiträume Anspruch nehmen, um Veränderungen der Arten festzustellen. Die Beständigkeit ist also ein ganz fundamentales Erbgut auch der Menschen, das sie von ihren Vorfahren überkommen haben.

Bei den Menschen hat sich im Gegensatz dazu als späte Erwerbung die Fähigkeit der Entwicklung eingefunden.[179] Anfangs hat es sich vermutlich nur um einen kleinen Unterschied gegen andere Arten gehandelt. Aber da diese Eigenschaft mit Selbstbeschleunigung behaftet ist – immer erfolgt der Entwicklungsaufstieg des einzelnen um so schneller, je entwickelter er bei Beginn seines Lebens war, d.h. je höheres Erbgut er von seinen Eltern mitbekommen hat –, so ist dieser Unterschied immer größer geworden. Heute ist die Entwicklung schon so schnell, daß zwischen zwei aufeinander folgenden Generationen derart große Unterschiede entstehen können, daß die eine die andere nicht mehr versteht.

Immerhin bildet das Urerbgut der Beständigkeit noch heute und auf unabsehbare Zeiten hinaus den Untergrund unserer Organisation und schlägt immer wieder durch, trotz des entwicklungsmäßigen Überbaus. Dieser ist bei der Masse, der überwältigenden Mehrzahl der Menschen noch ziemlich flach, während er bei den Förderern der Menschheit die größte Höhe erreicht, welche zurzeit überhaupt möglich ist. Auf jede ungewohnte Erschütterung, wie sie durch die Forderung eines neuen Fortschrittes bewirkt wird, antwortet daher die Masse nicht mit der Betätigung des Strebens nach Entwicklung, sondern mit der der Beständigkeit, und zwar um so kräftiger, je stärker die Erschütterung oder je weiter der Sprung des Fortschrittes ist. Und es liegt in der Natur dieses Vorganges, daß eine solche Betätigung des Urinstinkts mit derselben Schärfe erfolgt, mit welcher jederzeit sich alle Urinstinkte betätigt haben.

Das einzige Mittel, um den Fortschritt durchzusetzen, ist die geduldige und unermüdliche Wiederholung der Forderung. Der neue Gedanke wird dadurch langsam ein alter oder gewohnter und läuft gemäß dem biologischen Grundgesetz der Erinnerung oder Übung um so leichter ab, je häufiger er wiederholt worden ist.[180]

Dies ist eine Arbeit von ganz anderer Art, als die Schaffung des Gedankens selbst. Es ist daher erklärlich, daß sie vom Erfinder selbst oft nicht geleistet werden kann, der seine Kraft an der ersten Aufgabe erschöpft hatte. Aber jeder, der gewahr wird, daß solch ein unvollendeter Fortschritt der Erfüllung harrt, sollte die ethische Forderung fühlen, auch seinerseits sein Teil dazu beizutragen, daß diese Angewöhnungszeit der Menschheit verkürzt wird. Das Rohmaterial, an welchem solche Arbeit getan werden muß, findet ein Jeder in seinem Kreise.

Hat man sich so wissenschaftliche Rechenschaft gegeben von der naturgesetzlichen Notwendigkeit, mit der sich das Trägheitsgesetz auch in der geistigen Welt betätigt, dann lernt man auch den einzelnen Fall milder beurteilen. Ohne die Betätigung dieses Gesetzes würde ja die Menscheit sinn- und haltlos hin- und herschwanken, jedem Tageswind eine Beute. Gewisse Schichten, wie sie sich z.B. in den Großstädten finden, lassen etwas von solcher Beschaffenheit erkennen, nicht zum Gewinn der Kultur und nicht zur Freude ihrer Mitmenschen. Also ein gewisses Maß geistiger Trägheit (im physikalischen Sinne des Beharrungsvermögens) ist durchaus erwünscht und notwendig. Die Frage ist nur: wieviel, und über einfache Mengenunterschiede braucht man sich nicht moralisch zu entrüsten.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 140-181.
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