Berlin

Herbst 1806

[186] Voll freudigen Hoffens, sowohl für die allgemeinen als für die persönlichen Verhältnisse, kam ich Ende Septembers munter in Berlin an, und herzlich aufgenommen, fand ich bei meinem Gastfreunde Theremin eine Reihe der schönsten Tage. Sein bei höchster geistigen Anregung und reichsten Kenntnissen jedem Schulstaub entrücktes feines und vornehmes Wesen hatte mir stets eine besondre Verehrung eingeflößt, ich stellte ihn sehr hoch, und mir war nie eingekommen, mich als ihm gleich anzusehen. Jetzt aber sollt ich mich zu ihm ganz emporgehoben fühlen. Die innige Vertraulichkeit, schon durch das Zusammenwohnen behaglichst herbeigeführt, durch rückhaltlose Mitteilungen jeder Art noch besonders zur wünschbarsten Höhe gesteigert, machte mich überaus glücklich. Schon gleich morgens beim Erwachen, da wir dieselbe Stube als geräumiges Schlafgemach teilten, begannen heitre Gespräche, die sich beim Frühstück fortsetzten und oft über den halben Vormittag hinzogen, bis daß ein Geschäft oder sonst ein Vorhaben uns unterbrechen wollte. Was unsre Vertraulichkeit aber mit noch tieferem Reiz ausstattete, waren die Be kenntnisse, welche wir uns gegenseitig von unsern Herzensangelegenheiten machten. Theremin sprach mit dem raschen und feurigen Eifer einer in sich zwar befriedigten, aber im äußern durch vielfachen Zwang gestörten, noch durch kein Freundesvertrauen aufgenommenen Neigung von seinem leidenschaftlichen Verhältnisse zu Madame Sophie Sander, bei der er auch nicht säumte, mich einzuführen, und zwar gleich in aller glänzenden Gunst eines mitwissenden und zustimmenden Vertrauten.

Außerdem brachte ich viele Zeit in der Cohenschen Familie zu, wo mannigfaches Leid fortwucherte. Ich besuchte ferner Fichte, Bernhardi, Kiesewetter, Reimer, welche insgesamt[187] für den Krieg gestimmt waren und sich mit Nachdruck patriotisch aussprachen. Ungeduldig harrte man der Nachrichten vom Heere, man sah die letzten Truppen, die zur Reserve unter dem Prinzen Eugen von Württemberg gehörten, glänzend und freudig durch Berlin nach der Elbe rücken und fürchtete nur noch stets, es würde ein unerfreulich und haltungslos geflickter Frieden danach das Schwert abermals in die Scheide bannen. Ganz Berlin nahm an der Aufregung teil, fast alle Erwartung war Hoffnung, nur selten wagte ein zweifelhaftes oder ängstliches Wort scheu sich hervor. Das Kriegsmanifest erschien endlich aus Erfurt, vom 8. Oktober datiert, und man freute sich, daß wenigstens dieser Schritt getan war; der heiße Durst nahm ein solches Aktenstück als einen Labetrunk, und gierig wurde er hinuntergeschluckt. Nun aber wurde das Bedürfnis nach weiteren Neuigkeiten, nach Siegesbotschaften, wie man sie zweifellos erwartete, zum wahren Ungestüm; ein seltsamer Zustand war in der Tat bei dieser heftigen Unruhe des Publikums die unverbrüchliche amtliche Stille; mehrere Tage vergingen durchaus ohne Nachrichten, die Staatsbehörde machte nichts bekannt, auch Briefe und Reisende gaben wenig Aufschluß; aus der verhängnisvollen Gegend, wo man die Heere im Kampfe begriffen vermutete, schallte kein Laut herüber; die Hauptstadt schien wie abgelöst von dem Hauptquartier, wo die Hoheit und Kraft des Staats wie sein Tun und Interesse sich vereint befand. Diese unerträgliche Dumpfheit und Nüchternheit, in welcher das stolze Prahlen und Verheißen einzelner Militärpersonen sich schon kleinlauter vernehmen ließ, gab alsbald mancherlei bangen Ahndungen, dann den verwirrendsten Gerüchten und unerforschlichsten Sagen Raum und wurde zuletzt durch die gewaltigsten Schläge furchtbar aufgerissen! Die erste sichre Nachricht, die unsre erwartungsvollen Zweifel traf, war die von dem Tode des Prinzen Louis Ferdinand, der bei Saalfeld den ungünstigen Ausgang eines übereilten Gefechts, wie man sagte, nicht hatte überleben wollen. Nicht[188] zu schildern ist der Eindruck, den der Verlust dieses liebenswürdigen, tatendurstigen, dem Heer und den Bürgern und auch den Frauen wohlbekannten, der Welt und dem Leben durch die mannigfachsten persönlichen Verhältnisse angehörigen Prinzen allgemein verursachte. Zwar wollten ihn auch jetzt manche Stimmen nur der Unbesonnenheit zeihen, ihm seinen frühen und, wie sie glaubten, nutzlosen Tod zum Vorwurf machen, aber die Folge zeigte nur zu schrecklich, daß unter den Losen dieses Krieges einer Persönlichkeit wie der seinen kaum ein würdigeres beschieden sein konnte und daß er darin vorwurfsloser und beneidenswerter erscheinen durfte als die meisten seiner Kriegsgefährten.

Der finstre Anfang weissagte nichts Gutes, doch stand im allgemeinen ein starkes Vertrauen zu den preußischen Waffen noch fest, zwar durch vergebliches Siegsgeschrei mehrmals getäuscht, doch erst durch unleugbare Zuverlässigkeit schrecklicher Entscheidungen völlig niedergeschlagen. Als die unglückliche Botschaft von einer verlorenen Schlacht die Stadt erreichte und durchzuckte, war die erste Regung, die Nachricht nicht anzunehmen, nicht zu glauben; man rannte auf den Straßen hin und her, sammelte sich vor den Häusern, wo die höchsten Staatsbeamten wohnten, besonders in der Behrenstraße vor dem Hause des Generals und Ministers Grafen von der Schulenburg-Kehnert, man drang hinein, man wollte Auskunft, man redete ohne Unterschied Fremde und Bekannte, Vornehme wie Geringe mit Ungestüm an; ganze Scharen strömten von einem Orte zum andern, je nachdem eine zufällige Äußerung an einem oder dem andern bestimmte Befriedigung hoffen ließ. Endlich erschien an den Ecken ein gedruckter Anschlagezettel, worin Schulenburg mit kurzen Worten bekanntmachte, der König habe eine Bataille verloren und Ruhe sei jetzt die erste Bürgerpflicht, welcher gutgemeinte, aber ungeschickt dargebotene Zuspruch in der steigenden Bitterkeit der Ereignisse eine traurige Berühmtheit erlangen mußte. Die erste[189] Empfindung im Volke war jedoch die des Mutes und der Tat. Eine Anzahl junger Leute, durch wackre Fürsprecher geleitet, drangen zu Schulenburg ein, wollten eine Freischar bilden, begehrten Waffen und Marschrouten zum Heere, und als Schulenburg über dieses Ansinnen in höchster Verlegenheit nur ablehnend, ja verweisend sich äußerte und zuletzt auch das unbedingte Anerbieten zum gemeinen Soldatendienst mit Verdruß und Widerwillen zurückstieß, meinend, er wisse nicht, was er mit den Soldaten, die er schon habe, anfangen solle, geschweige denn mit neuen, da mußte freilich jeder klar einsehen, daß in diesen Formen und Bahnen dem Bürgersinn allerdings nichts übrig sei, als das Fallende ruhig fallenzulassen und das Verhängte ruhig zu tragen. Auch mein Sinn war in jenen Tagen auf den Kriegsdienst gerichtet, und ich suchte, trotz meiner mahnenden[190] Brustbeschwerden, die Mittel, diesem Drange zweckmäßig zu genügen, als mir jene Unmöglichkeit gezeigt und damit jedes Vorhaben niedergeschlagen wurde.

Berlin sah nun allen früheren Stolz und alle frühere Kraft sich beugen, alle Hoffnungen schwinden; man sah die Königlichen Kassen, die Hofhaltungen auf dem Schlosse, die höchsten Beamten und manche sonst durch ihre Verhältnisse bemerkbare Personen eiligst einpacken und zum Tore hinausfahren. Später kam es auch an das Zeughaus, langsam wurden die vorrätigen Gewehre auf Kähne geladen, mit deren Abfahrt auch noch gesäumt wurde. Endlich zog Schulenburg mit den vorhandenen Truppen, einige tausend Mann, nach der Oder ab, nachdem er durch öffentlichen Anschlag die Stadt dem Oberbefehl seines Schwiegersohnes, des Fürsten von Hatzfeld, überlassen hatte. Die Bürger hielten den Wagen des Abreisenden an: »Ich lasse euch ja meine Kinder hier!« rief er beschwichtigend, und man ließ ihn fahren.

Inzwischen hatte das Gerücht die unglückseligsten Vorfälle Schlag auf Schlag gemeldet, nicht, wie sonst zu geschehen pflegt, vergrößernd, sondern im Gegenteil, nur immer schrecklicher und gehäufter enthüllte sich das Unglück. Man erfuhr von den Schlachten von Auerstedt und Jena, von der tödlichen Verwundung des Herzogs von Braunschweig und des Generals von Rüchel, von der weiteren Zersprengung der Truppen, die sich bei Magdeburg hatten sammeln sollen. Noch glaubte man, die Elbe würde behauptet werden, die noch nicht im Feuer gewesene Reserve wußte man bei Halle aufgestellt; aber schnell entschwand auch dieser Trost, die Überbleibsel des Heeres flüchteten schon nach der Oder hin, der Prinz Eugen von Württemberg war am 17. Oktober durch den Marschall Bernadotte überfallen und geschlagen; die Königin zuerst und bald auch der König hatten die Richtung nach Preußen genommen; die Franzosen waren in Leipzig erschienen, hatten bei Dessau und unterhalb Magdeburg die Elbe überschritten und[191] drangen von allen Seiten in siegreichen Scharen heran. Unbeschreiblich ist das dumpfe Entsetzen und angstvolle Harren, in welchem die Hauptstadt lag; das Furchtbare bestand auch darin, daß man keine Preußen, wenn auch geschlagene und flüchtige nur, wiederkommen sah; das in Stolz und Kraft strahlende Heer hatte man ins Feld rücken sehen, und als wenn die Erde es verschlungen hätte, sollte an dieses noch ganz nahe Bild jetzt unmittelbar das des Einzugs eines verhaßten und verachteten Feindes sich reihen! Wirklich hatte keine der Heertrümmer nach Berlin gelangen können, sie waren weiter hinaus nordwärts versprengt und wurden, teils schmachvoll ohne Widerstand bei Prenzlau, teils rühmlich nach tapfrem Kampfe bei Lübeck, durch Übergabe kriegsgefangen.

In Berlin war jetzt nur Not und Sorge, keine Behörde trat wirksam auf, alles war sich selbst überlassen. Der Fürst von Hatzfeld bewies sich als ratloser Feigling und wurde damals schon tief verachtet. Manche Leute, an die feindliche Einquartierung denkend, schafften Wein und gute Kost an, um durch bewirtende Aufnahme den Ungestüm der Krieger zu beschwichtigen; andre, ihrer selbst eingedenk, suchten durch Kartoffelvorräte die eigne Nahrung zu sichern; eine schwache Hoffnung auf angebliches Heranrücken russischer Truppen hielt manche Personen noch aufrecht; einige gab es auch, die sich der französischen Truppen freuten, unter andern mein Lateinlehrer, Professor Schlosser, der in ihnen noch die alten Freiheitssoldaten sehen wollte und überdies einen dem Studieren entlaufenen Sohn unter ihnen hatte. Den Professor Friedrich Buchholz beschuldigte man ebenfalls der Freude über den Sieg der Franzosen, deren Kaiser schon längst sein Held war. Auf die Nachricht, daß Hessen-Kassel sich von der preußischen Sache getrennt und für neutral erklärt habe, beeilte sich Kiesewetter, seine Haustüre mit dem hiezu von der Erbprinzessin von Hessen, die auf dem Schlosse wohnte, ihm schnell verliehenen Titel eines hessen-kasselschen Rates zu schmücken; doch ohne[192] Gewinn für ihn; denn die Franzosen ließen jene Neutralität nicht gelten, unterschieden Hessen und Preußen nicht, und Kiesewetter hatte mit den Einquartierungslasten, deren ihm keine erspart wurde, noch den Verdruß der verfehlten List und die Schadenfreude der Mitbürger, von denen er sich hatte lossagen wollen, zu ertragen. Reimern sprach ich, als er grade von Johann von Müller kam, der sich ihm ganz rat- und aussichtlos bekannt hatte, alles für verloren hielt, bald flüchten, bald sich verstecken wollte, und nur auf vieles Zureden in Berlin blieb. Fichte entschloß sich kurz und gut, dem störenden Getümmel zu entweichen; er ließ Gattin und Sohn zurück und reiste mit dem Leibarzt Hufeland, der dem Könige zu folgen berufen war, nach Königsberg ab.

Ich selbst war leidenschaftlich bewegt. Zu dem unmittelbaren Eindrucke der Tagesgegenwart kam auch der nächste Anteil an dem in Halle Geschehenen; die Stadt war bei dem Gefecht geplündert worden, und Schleiermacher und Steffens hatten dabei manches eingebüßt, die Universität aber auf Napoleons Geheiß auseinandergejagt, alle Studenten hatten sich ungesäumt entfernen müssen, Neumann, Harscher, Neander, so viele andre mußt ich mir umherschweifend denken, ohne Hülfsmittel und Ziel. Ein versprengter Student, der nach einigen Tagen ankam, aber leider von meinen Freunden nichts wußte, brachte mir die erste, nachher von mehreren Seiten bestätigte Erklärung des unerwarteten plötzlichen Ingrimms gegen die Universität. Napoleon war am 19. Oktober in die eroberte Stadt eingerückt und hatte seine Wohnung im Meckelschen Hause auf dem Großen Berlin genommen, die mitgekommenen Truppen waren einquartiert, und nach den stürmischen, wüsten Vorgängen schien eben zuerst wieder einige Ruhe und Stille der Nacht einzutreten. Nur die Studenten waren noch hin und wieder aufgeregt, und eine kleine Schar saß beim Trunk und verhandelte lebhaft die Ereignisse der letzten Tage. Durch Gespräch und Wein erhitzt, brachen sie endlich auf, zogen[193] durch die öden dunklen Straßen, kamen zum Großen Berlin, sahen die hell erleuchteten Zimmer, wo Napoleon wohnte, und riefen mit burschikoser Tollkühnheit dem Kaiser lustig ein lautes Pereat. Sie stoben sogleich auseinander, die Wache nicht abwartend, aber Napoleon, von dem Sinn des durchdringenden Schreis unterrichtet und ohnehin gegen die studierende deutsche Jugend ungünstig eingenommen, befahl die augenblickliche Fortschaffung aller Studenten, und man sagt, der Befehl habe anfangs auch den Professoren gelten sollen und die Ausführung sei nur durch Wohlmeinung einiger Mittelspersonen um einen Tag verzögert und dann bloß auf die Studenten beschränkt worden. Bei Erzählung dieses unerhörten Wagestücks wurde eines ähnlichen frühern gedacht, wo ein Student zu Halle, mit Kanonen und Stürmer und wirbelndem Tabaksqualm ungestüm anschreitend, den König von Preußen, der ihm zu Fuß begegnete, vom breiten Stein weggedrängt und auf den verwunderten Nachruf, wer er sei, trotzig und kurzweg nur: »Ein hallischer Bursch!« geantwortet, darauf aber seinen Weg mit sporenklirrendem Tritt ruhig fortgesetzt habe. Was aber auch der hallischen Universität den Stoß gegeben haben möge, jener doch noch mit einigen Zweifeln behaftete Streich oder irgendeine andre Bewandtnis, die Zerstörung selbst griff mir ans Leben: dort hatte ich meine Heimat, meinen Rückhalt für die Zukunft; jetzt war ich ein Vertriebener, ein Flüchtling; ich hatte keinen festen vorgezeichneten Weg mehr, ich mußte Entschlüsse fassen, zu welchen sich fast nur Zweifel darboten. Mittlerweile war auch die Reichardtsche Familie von Giebichenstein angekommen, die im Augenblicke des sich bei Halle eröffnenden Gefechts eilig die Flucht ergriffen hatte; der Kapellmeister, der sich gegen die Franzosen und Napoleon großer Frevel bewußt war – man hielt ihn, was genug war zum Erschießen, für den Verfasser des Buchs »Napoleon Bonaparte und das französische Volk« –, setzte die Flucht gleich weiter nach Preußen fort; die Familie blieb fürerst in Berlin,[194] durch sie erfuhr ich viel unglückliche Nachrichten, ich war sehr bewegt und wälzte die unruhigsten Gedanken in mir.

In der allgemeinen bangen Erwartung der Franzosen wollt ich wenigstens da nicht fehlen, wo man meiner bedürfen konnte. Ich war in einigen Familien, wo grade kein Mann zum Schutze gegenwärtig war, mit Rat und Tat zur Hand. Vormittags trieb ich mich umher, zu Mittag aß ich gewöhnlich mit Theremin, der auch gern noch einen Teil des Nachmittags mir widmete, bis ihn gegen Abend sein Stern zu der geliebten Freundin führte, wo er Krieg, Politik und alles vergaß. Im Grunde war nur seine Phantasie von den Ereignissen berührt, nicht sein Gemüt von ihnen getroffen; er sah den Staat überhaupt sehr leicht an, über dessen rohe Formen ein feineres Geistesleben ihn hinausführen sollte. Er machte, wetteifernd mit mir, den Versuch einer Kanzone auf den Sturz Preußens, aber sie blieb unvollendet, und er gestand mir mit geheimer Lust, er sehe all den Sturm und Wirrwarr nur so an, als habe derselbe nur den einzigen Zweck, daß die französische Kolonie darüber vergäße, sich über sein Verhältnis zu Madame Sander mit bösem Geklatsch aufzuhalten.

Die Franzosen, schon ganz in der Nähe, ließen sich mehrere Tage erwarten; sie waren nordwärts, durch die schnellsten Erfolge fortgerissen, über Berlin schon hinaus, dessen empfangbereites Harren sie kaum ahnden konnten. Endlich am 24. Oktober erschien der Feind, ich hatte den Anblick der ersten Franzosen, welche hereinkamen; ein Offizier im blauen Überrock und drei bis vier Jäger zu Pferde ritten mittags von den Linden her nach der innern Stadt, sie unterbrachen ihren scharfen Trab nur, um ungestüm nach der Munizipalität oder dem Rathause zu fragen, hießen die andrängenden Personen zurückweichen und sprengten weiter. Jetzt waren sie also da! Noch zwar hörte man auf der Straße, als sie eben vorüber waren, manche Leute behaupten, nicht Franzosen seien es, sondern Russen, man[195] sähe es an den grünen Röcken, aber eine Viertelstunde später hielt kein Wahn mehr; große Scharen Reiterei und Fußvolk zogen ein, und am folgenden Tage war die ganze Stadt mit den Kriegsvölkern des Marschalls Davoust angefüllt. Nun begann ein neues Leben in der bis dahin fast erstorbenen Einwohnerschaft. Man atmete auf, als man statt wilder, racheschnaubender Plünderer wohlgeordnete muntre Soldaten fand, die man schon durch Französischreden völlig zu entwaffnen schien und deren Offiziere sich größtenteils durch höfliche Manieren auszeichneten. Diesen ersten günstigen Eindruck löschten auch spätere rohe Auftritte, die bei den gesteigerten eiligen Bedürfnissen so vieler durchziehenden und teilweise verweilenden Völker sich ereigneten, nicht wieder aus. Man fand noch immer, daß man Gott zu danken habe, keinen schlimmern Feind zu sehen. Doch machte freilich das nachlässige, ungeputzte, auch wohl zerlumpte Einherziehen der unansehnlichen, kleinen, frech redenden und witzelnden Kerls die an preußische Haltung und Scheinsamkeit gewöhnten Augen gewaltig irre, und man wollte nur um so schwerer begreifen, wie solches Gesindel – denn dieser Name lag zu nah – solche Soldaten habe können aus dem Felde schlagen.

Einige Tage später, am 27. Oktober nachmittags, zog nun auch der französische Kaiser, von dem man schon sagte, er getraue sich nicht nach Berlin herein, an der Spitze seiner Garden von Charlottenburg her in die Stadt. Ich sah den Einzug nicht mit an, ich wollte nicht, Schmerz und Trauer waren zu groß in mir, ich haßte den Sieger und mochte ihn nicht angaffen. Von Freunden hörte ich, der Volkshaufen Unter den Linden sei gemischt genug gewesen, daß doch teilweise ein Vivat für den Kaiser daraus hervorschallen gekonnt. Aber die Berliner im ganzen waren keineswegs zu solchem Rufe gestimmt. Bernhardi zum Beispiel sagte mir, er habe genau die Umstände des Einzugs beobachtet und sich versichert, ein kühler Mann würde leicht Gelegenheit zu einem Mordstreiche gefunden haben; der Gedanke und[196] Wunsch aber eines solchen Versuchs begegnete einem häufig schon damals und späterhin nur noch häufiger; denn man sah den Kaiser durchaus nicht wie einen mit den andern Fürsten Gleichstehenden an, sondern er mußte für einen rechtlosen Unterdrücker, für einen Räuber und Bösewicht gelten, und diese Meinung empfing ihren stärksten Grimm von derjenigen Seite her, wo man der französischen Freiheit anhing und ihn als deren Mörder betrachtete; sogar der Haß, den die Royalisten ihm wegen des Todes des Herzogs von Enghien hegten, war minder entbrannt und rächerisch.

Mein Weg führte mich täglich, wenn ich von Madame Cohen aus der kleinen Promenade zu Theremin nach dem Georgeschen Hause zurückkehrte, durch den sogenannten Lustgarten. Als ich am 27. Oktober abends wie gewöhnlich diesen Weg nahm, setzte mich ein neues Schauspiel, das sich hier unerwartet darbot, in das wundervollste Staunen. Der ganze Mittelraum des bis dahin sorgsam geschonten Rasens und selbst der Straßenplatz nach dem Schlosse hin war bedeckt mit unzähligen hellflammenden Wachtfeuern, um welche her die kaiserliche Garde in tausend Gruppen muntrer Fröhlichkeit und Geschäftigkeit sich bewegte. Die mächtigen Feuer beleuchteten taghell die prächtigsten, schönsten Leute, die blanksten Waffen und Kriegsgeräte, die reichsten, bunten Uniformen, in deren sich tausendfältig wiederholenden Rot, Blau und Weiß die volle Macht der französischen Nationalfarben die Augen traf. Ungefähr 10000 Mann waren in diesem lodernden Biwak in Bewegung, den das matter beschienene Schloß, wo der Kaiser seine Wohnung hatte, düster begrenzte. Einen großen Eindruck gewährte der Überblick des Ganzen, und wenn man das Einzelne untersuchte – denn man konnte frei hindurchgehen und jede Neugier befriedigen –, so mehrte sich nur die Bewunderung; jeder Soldat schien an Ausstattung, Benehmen, Wohlbehagen und Gewicht ein Offizier, jeder ein Gebieter, ein Held. Sie sangen, tanzten und schmausten bis[197] tief in die Nacht hinein, dazwischen rückten kleine Abteilungen in strengster kriegerischer Haltung mit Trommeln und Musik zum Dienst aus und ein. Es war ein einziger Anblick, wie ich nie wieder einen gehabt; ich verweilte stundenlang und konnte mich kaum losreißen. Die Garden blieben noch viele Tage und Nächte hier gelagert, und immer aufs neue hafteten die Augen auf dem verhaßten schönen Schauspiel; aber jenem ersten Abende kam kein folgender gleich; die Feuer brannten mäßiger, die Truppen wurden zum Teil anderweitig untergebracht, das Ganze verlor sich endlich in eine geringe Mannschaft Reiterei, die neben ihren Pferden hier zum Aufsitzen fertig ihr Nachtlager hielten. Für die Sicherheit des Schlosses konnte die zahlreiche Hauptwache im innern Schloßhof völlig genügend dünken.

Mittlerweile hatte die Niederlage Preußens von Tag zu Tage sich größer und schmachvoller kundgegeben; waren die verlorenen Schlachten, die verkehrten Maßregeln, die Ratlosigkeit und der Unbedacht der Regierung arg zu nennen, so übertrafen doch die Kapitulationen und Übergaben der Festungen alles, was man sich hatte als möglich denken dürfen. Der Fall von Magdeburg schien ein Traum: ohne Schwertstreich eine Besatzung von 20000 Mann kriegsgefangen und jenes starke Bollwerk des Staates ohne Schuß übergeben zu sehen, wollte man nicht für Wirklichkeit halten. An das Fabelhafte grenzte es, daß Stettin, und nun gar Küstrin, fast unangreifbar zu achten, durch feige Erschrockenheit der Befehlshaber, die überall von demselben Schwindel befallen waren, sich der ersten Annäherung französischer Reiter eiligst ergeben hatten! Ein grenzenloses Verderben, das schon lange den Staat in seinen wesentlichen Verhältnissen unterwühlt hatte, wurde offenbar. Man erlag der Schande, welche auf das preußische Kriegswesen gefallen war, man vermochte den Gedanken dieser Schmach nicht zu fassen. Im Übermaße des Schmerzes schimpften die Preußen selbst am heftigsten auf ihre unglücklichen Landsleute. Ein preußischer Offizier galt sonst als der Inbegriff[198] der Ehre, des tapfern Stolzes und der tüchtigsten Kriegskunde, jetzt war der Name eine Bezeichnung der prahlhaften Feigheit, des erbärmlichsten Unwertes. Man blickte mit Empörung auf die herrschende Gewalt zurück, die sich das Militär in allen Verhältnissen angemaßt hatte und die man ihm höchstens dann verzeihen konnte, wenn dasselbe wirklich als das felsenfeste Wehr des Staates, als die Bürgschaft dauernden Ruhmes und stets erneuerter Siege bestand; jetzt wollte mancher im Gegenteil sich über die Siege der Franzosen freuen, als wodurch diese einheimische Despotie, wie sie ein Rüchel zum Beispiel gewollt und ausgeübt, glücklich zerstört wäre. Wer es nicht erlebt hat, kann es kaum noch glaublich finden, in welchen Ausdrücken der Ingrimm preußischer Patrioten gegen das Militär wütete, mit welcher haßerfüllten Verachtung die einst gepriesenen Namen Kleist, Ingersleben, Romberg, Wartensleben, Schöler und andre solche, auf denen der Vorwurf der Feigheit und des Verrats haftete, genannt wurden. Ich selbst hatte in solcher Beziehung einen Auftritt mit dem Geheimen Rat Alberti. Ich traf ihn bei seinem Schwager, Geheimen Rat Pistor, der eine Tochter Reichardts zur Frau hatte, wie jener eine Stieftochter desselben. Dieser zorneifrige Mann erklärte gradezu alle preußischen Offiziere für schlechte Kerle; ich suchte ihn zu mäßigen, wollte Ausnahmen vorbehalten und meinte, ich hätte unter den preußischen Offizieren persönliche Freunde, in betreff deren er jenen Ausdruck gewiß zurücknehmen werde; er sagte ebenso grob als unsinnig nein, sie seien alle schlecht und schon deshalb dieser Bezeichnung wert, weil sie in diesem nichtswürdigen Kriegswesen einmal mitsteckten. Wenn er es so nehmen wolle, erwiderte ich, nun ebenfalls bitter, so wundre ich mich nur, daß er beim Militär stehenbleibe, ich könnte auch diese Ansicht nehmen, aber müßte dann einen weitern Gesichtskreis fassen, der auch jeden Zivilbeamten einschlösse, weil dieser ja gleichfalls an diesem verfaulten Staatswesen Anteil und Mitschuld habe. Betroffen, aber nur um so mehr[199] herausfordernd, sagte er: »Wollen Sie damit andeuten, ich sei auch ein schlechter Kerl?« Lebhaft versetzte ich: »Ich will alles damit sagen, was daraus folgt.« Sein Ärger, durch einen jungen Menschen, bei eigentlich gleicher Gesinnung, so zum Absurden geführt, beschämt und beleidigt zu sein, wußte sich nicht zu lassen, er lief wütend davon, indem Pistor noch hinter ihm drein schimpfte, er sei ein dummer Kerl, und wenn er so albernes Zeug rede, verdiene er solche Abfertigung. Ich habe ihn seitdem in vierundzwanzig Jahren noch oft wiedergesehen, aber nie wieder haben wir zusammen ein Wort gewechselt. Das Schelten auf das preußische Militär war indes allgemein und in der Tat sehr oft ungerecht; der Feind selbst dachte in manchem Betreff billiger als die Einheimischen, übernahm öfters die Entschuldigung der Geschlagenen; aber damals wäre es vergeblich gewesen, gegen den Strom zu schwimmen. Wirklich eine Flut war es zu nennen, was nur an Druckschriften heranschwoll; der schamlose Kriegsrat von Cölln machte durch seine »Vertrauten Briefe« und »Feuerbrände« den Anfang zur rücksichtslosen Aufdeckung aller Gebrechen und Schwächen des Staats; nicht so gemein, aber doch ungehörig und voreilig, schrieb Friedrich Buchholz, der seine politischen Abstraktionen mit der siegenden Sache zu verbinden suchte und nun, hinter dem Siege her, mit seiner Weisheit leicht prunken konnte; die unermüdliche Feder des Obersten von Massenbach bereitete ebenfalls manches Ärgernis. Am ärgsten trieb es ein feiler, dem französischen Interesse verkaufter Schreiber namens Lange, der ein neues Blatt, »Der Telegraph« genannt, herausgab, worin nicht nur alle Ereignisse feindlich und hämisch zum Nachteil Preußens erzählt, sondern auch die gehässigsten persönlichen Schmähungen, selbst gegen die unglückliche hochverehrte Königin, ausgestoßen wurden, so daß das Volk darüber in Wut geriet und der Zeitungsschreiber und sein Laden oftmals durch französische Wache geschützt werden mußte. Rahel gab in jener Zeit, wenn die Leute im tiefsten Kummer und bittrer[200] Aufregung ihr klagten, was der freche Mensch alles vorzubringen wage, ihnen den klugen Rat, sie möchten es machen, wie sie das Beispiel gäbe, nämlich sie lese kein solches Blatt und dadurch existiere für sie der ganze Inhalt nicht; machten es viele, machten es alle so, so würden sie den gleichen Vorteil haben; man fand die Bemerkung richtig, fuhr aber fort, das schändliche Blatt begierig zu kaufen und seinen Ärger daran zu nähren. Doch nicht bloß im Schreiben, auch in sonstigem Handeln zeigten sich unwürdige und verräterische Gesinnungen mancher Art; ein ehemaliger Prediger Hauchecorne von der französischen Kolonie war ein Aufspürer versteckten preußischen Staatseigentums, das er den Franzosen anzeigte, um die dafür versprochene Belohnung zu gewinnen, das schändliche Gewerbe hat seinen Namen gebrandmarkt, er selbst aber, nachdem er in Karlsruhe, wo seine Tochter einem General von Freystedt verheiratet war, eine Zeit gewohnt, lebte noch in späteren Jahren unangefochten in Berlin.

Eigne Gerüchte über den berühmten Geschichtsschreiber der Schweiz, Johann von Müller, gingen umher. Es war bekannt geworden, daß er, derselbe Mann, der noch eben gezittert hatte, wegen seiner Posaune Mahomets von dem Feinde zur Verantwortung gezogen zu werden, vielleicht fortgeschleppt oder gar, gleich dem unglücklichen Buchhändler Palm, erschossen zu werden, durch einen wunderbaren Glückswechsel zu der Gnade gelangt sei, persönlich zu dem französischen Kaiser gefordert zu werden, mit diesem eine lange Unterredung zu haben und dessen Gunst und Beifall zu gewinnen. Daß er seitdem ganz umgestimmt, von Napoleon begeistert, der neuen Herrlichkeit zugewendet und schon ein Verteidiger derselben geworden, konnte die ihn näher Kennenden nicht wundern; aber in den eigentlich preußischen Gemütern erzeugte sich ihm von daher großer Haß, und es fielen die bittersten Reden gegen ihn vor. Jenes günstige Geschick bei Napoleon erklärte sich übrigens bald. Alexander von Humboldt, Müllers Gartennachbar,[201] von der unruhigen Angst des Mannes getrieben, nahm Gelegenheit, einigen französischen Großen, deren er die meisten von Paris her gut kannte, von jenem zu sprechen, unter andern dem Staatssekretär Maret, nachherigen Herzoge von Bassano, der darauf in guter Stunde den Kaiser von dem großen Geschichtsschreiber unterhielt, der bei den Deutschen in größtem Ansehen stünde und, zwar bisher ein Gegner der Franzosen, doch wohl für den Dienst des Kaisers zu gewinnen sein möchte. Napoleon wollte ihn sprechen, und da Müller sich sogleich enthusiastisch und übrigens geschickt genug benahm, so fiel die Unterredung vortrefflich aus und hinterließ auf beiden Seiten den besten Eindruck. Welch eine Berufung ihm infolge des bei Napoleon gemachten Lobes noch bevorstehen sollte, konnte Müller damals nicht ahnden, sondern hatte fürerst nur das Ungemach einer zweideutigen Lage um so bittrer zu empfinden, als sie nicht nur in den äußern Umständen, sondern auch in seinem Innern gegründet war, das zwischen entgegengesetzten Richtungen allen Halt verloren hatte und seitdem nie wiedergewann.

Diese Anschauungen, Eindrücke, Interessen und Erfahrungen erfüllten und bewegten mich auf die mannigfachste Art. Sie gaben mir viel zu denken und zu prüfen. Die preußischen Zustände wie die französischen hatten ihre bedeutende, anteilgebende, lehrreiche Seite. Die französischen Soldaten waren in ihrer Art höchst merkwürdig und machten in ihrer Mischung von Feinheit und Verwilderung ein eignes Wesen, das seinen Reiz hatte; manchen Offizieren, die ich von ungefähr kennenlernte, mußte ich entschieden wohlwollen. In Napoleon sah ich zwar mit allem Hasse den Unterdrücker der französischen Freiheit und den Feind der deutschen Bildung, allein ich gewann es doch über mich, ihn auch in seinen großen Eigenschaften zu würdigen, und wenn ich zu wiederholten Malen im Lustgarten ungesucht ihn selbst inmitten seiner Generale vor den Truppen sah und das ganze Schauspiel mit Muße betrachtete und auf[202] mich wirken ließ, so konnte ich wohl begreifen, daß die Seinigen auf den stets erneuten Ruhm- und Siegeszügen ihm mit Begeisterung folgen mochten.

Bisher hatte das schönste klare und milde Wetter angedauert, die strenge Jahreszeit gleichsam verleugnet und alles Dasein erleichtert. Nun aber trat plötzlich ein düstres, naßkaltes Winterwetter ein, und alles veränderte den Anblick. Die französischen Truppen waren größtenteils nach Polen und Preußen vorgerückt, Napoleon brach mit dem Rest nun selbst dahin auf, und die Stadt, merklich verödet, versank unter Lasten und Ungemach, die täglich drückender wurden, zu sichtbarer Not und Auflösung. Ein Frieden, zu dessen Abschlusse der General von Zastrow abseiten des Königs zu Napoleon abgesandt worden war, kam nicht zustande, weil die beispiellosen Glückserfolge dem Kaiser alle früher gutgeheißenen Bedingungen jetzt verworfen machten. Es blieb, unter fortwährend niederschlagenden Nachrichten, nur eine traurige Folge von Tagen und die jammervollste Zukunft abzusehen. Mich traf das Unheil, daß ich mit Eintritt des rauhen Wetters auch heftig an der Brust zu leiden begann. Ich nahm meine Zuflucht zum Doktor Erhard, und seine wirksamen Arzeneien begleiteten mich nach Halle, wohin ich denn doch zurückzukehren endlich beschloß, da Berlin weder Reiz mehr für mich hatte noch mein rechter Aufenthalt scheinen wollte; ich fand mich durch die verlängerte Trennung von meinen Büchern, Vorsätzen und Anhaltungen höchst unbehaglich und dabei durch Krankheit und Teurung im Wirtshause noch mehr verstimmt. Von Schleiermacher hatte ich Nachricht, der, wie Steffens und Wolf, mich stark anzog; ich hörte, daß mehrere Studenten, und unter ihnen Harscher, ruhig in Halle fortlebten; von Neumann, der mit Neander nach Göttingen gezogen war und mir schon von dort geschrieben hatte, durft ich hoffen, daß er gern mit mir in Halle wieder zusammentreffen würde; die Reichardtsche Familie dachte ebenfalls an Rückkehr; wir hofften alle auf Herstellung der[203] Universität, und bis diese erfolgte, schienen Ort und Umstände dort noch immer am meisten den Studienberuf zu begünstigen, sei es, daß man einsamen Fleiß oder lebendige Gemeinschaft wünschte. Zur mehreren Sicherheit nahm ich einen Paß als privatisierender Gelehrter oder Homme de lettres, ein für Franzosen so geläufiger als anständiger Titel, der jeder Schwierigkeit, die man mir hätte machen wollen, hinreichend begegnen konnte.

Meine Krankheit hatte aber sehr zugenommen, und meine Freunde sahen mich oft bedenklich darauf an. Meine Empfindungen waren durchaus traurig und niedergedrückt, zu dem Gefühl des Krankseins kam die Ungeduld über meinen gestörten Studiengang; ich sah nur Verwirrung und Trübsal für meine nächsten Zeiten; mir kam es bisweilen vor, als sei nicht viel verloren, wenn ich es nicht weit mehr triebe. Die Post war mittlerweile schon bestellt, ich nahm von den Freunden traurigen Abschied und sagte unter andern zu Madame Cohen mißmutig so hin: »Wer weiß, ob ich glücklich bis über die Elbe komme!« Sie sah mich eine Weile forschend an und versetzte darauf: »Ihnen darf man schon so etwas sagen, jedem andern würd ich's verschweigen! Mein Knabe Jonny, der über Ihre Wegreise sehr betrübt ist, hat von Ihnen geträumt, er sähe Sie an einem großen Wasser in dringender Gefahr, riefe Ihnen zu, aber vergeblich, es sei keine Hülfe mehr gewesen.« In dem Augenblick erinnerte ich mich einer unwillkürlichen Empfindung auf der Dessauer Elbbrücke bei der Herreise, ob ich wohl wieder glücklich über diese Brücke zurückkommen würde? Und so vieles Zusammentreffen schien denn doch eine Vorbedeutung! Aber ich empfand keine Scheu, sah diese Sache heiter an, reiste getrost ab, kam zur Elbe, wo ich denn freilich jene Brücke nicht wiederfand, sondern nur die halbverbrannten Pfähle als schwarze Stumpfen noch aus dem Wasser ragen sah, und hatte eine wirklich gefahrvolle Überfahrt, indem die Fähre durch die Strömung eine Strecke fortgerissen und nur mit Mühe zum Landungsplatze[204] zurückgebracht wurde, kam aber doch glücklich auf dem andern Ufer, und zwar krank und leidend, aber gutes Mutes, in Halle an, wo ich mit unaussprechlichem Behagen mich in meiner stillen Wohnung zu der meinem Zustande angemessensten Lebensart eingerichtet fand.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 186-205.
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Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

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