Shvetâshvatara-Upanishad

[169] Die Shvetâshvatara gehört zu den schönsten und interessantesten Kapiteln der Upanishadliteratur; die schlechte Überlieferung dieses Textes, um derentwillen Böhtlingk davon Abstand genommen hat, eine Bearbeitung zu unternehmen (SBSGW. 1897, S. 133)1, zwingt hier, nur eine Auswahl zu geben. Nach meiner Ansicht beruht unsere Upanishad sowohl auf dem Vedânta, den einer ihrer Verse anführt, wie auf dem Sânkhya, mit dem sie viele Grundbegriffe und Termini gemeinsam hat, und dem Yoga, dessen Praxis notwendig ist, um Geist und Sinn zu zwingen. Röer hat sie als einen Eklektizismus bezeichnet, der die Lehren des Vedânta mit dem Sânkhya zu verschmelzen sucht. Ihr Ziel, mehr auf poetischem wie logischem Wege erstrebt, ist die Erkenntnis, daß Brahman von der Welt verschieden ist und neben dem Brahman, an den Genießer und die Sinnesobjekte gebunden, die Materie steht. Die Upanishad postuliert die Dreiheit von Brahman, Einzelseele und Welt: das dreifache Brahman. Bemerkenswert ist das Auftreten eines höchsten Gottes, dessen Macht das Brahmarad bewegt. Der Gedankengang ist weder übersichtlich noch streng aufgebaut. Bei der Fülle von Entlehnungen ist nicht festzustellen, was dem ersten Verfasser gehört oder Zusatz späterer Leser und Bearbeiter ist. Ebenso sind alle Vermutungen über ihr Alter unsicher. Die Eigenart mancher Auffassungen in dem Stück läßt die Wiedergabe wenigstens einiger Abschnitte als wünschenswert erscheinen. Das Ganze ist nicht übersetzungsreif.


Die Brahmaforscher sprechen: ›Woher stammt das Brahman? Woher kommen wir? Wodurch leben wir? Und worauf gestützt?2 Von wem beherrscht, befinden wir in Glück und Unglück uns in unsrer besonderen Lage, ihr Brahmakenner?‹

Soll man denken, ›es ist die Zeit, die eigene Natur, Notwendigkeit, Zufall, Elemente, Geburt oder Seele?‹ (Nein!) Wohl aber ist die Weltseele, weil die Weltseele in der Vereinigung all dieser wohnt, Herr über die Ursache von Freud und Leid3.

Sie sahen, vermöge der Anwendung der Versenkung, die eigene Kraft Gottes in ihre Gunas gehüllt, der allein über alle Ursachen, einschließlich Zeit und Einzelseele, herrscht.


[170] Es folgen zwei Verse, wegen ihrer Zahlensymbolik nur teilweise verständlich, in denen dieser Eine mit einem Radkranz (dreifach, sechzehnendig, fünfzigspeichig usw.) und einem Strom verglichen wird. Dieser Strom hat sein Wasser aus fünf Bächen (fünf Sinnen, Komm.), fünf Quellen (fünf Elementen) usw.


In diesem großen Brahmarade, in dem alles lebt und alles zur Ruhe kommt, schweift der Schwan (die Einzelseele) umher und weiß sich von dem Treiber des Rades verschieden. Damit zufrieden, geht er dann zur Unsterblichkeit ein.

Von ihm singt man als dem höchsten Brahman. Auf ihm beruht die Dreiheit4, wohlgestützt und nicht vergänglich. Die Brahmakenner, die sein Inneres erkundet haben, gehen im Brahman auf, sind einzig ihm ergeben und werden von der Geburt frei.

Der Herr trägt alles vereint, das Vergängliche wie das Unvergängliche, das Entfaltete wie das Unentfaltete. Die Einzelseele, welche Nicht-Herr ist, ist gefesselt durch ihren Zustand als Genießer. Hat sie Gott erkannt, wird sie von allen Fesseln frei.

Kundig ist der eine, nichtkundig der andere, beide von Ewigkeit, Herr der eine, Nicht-Herr der andere5. Von Ewigkeit ist die eine, die mit den Genußobjekten für den Genießer verbunden ist6. Ohne Ende ist das absolute Selbst, das alle Gestalten in sich trägt und auf Handeln verzichtet. Wenn er diese drei erlangt, das ist Brahman.

Das Vergängliche ist der Urstoff (pradhâna), das Unsterbliche und Unwandelbare ist Hara; über Wandelbares und über die Einzelseele herrscht der eine Gott. Wenn man über ihn nachsinnt, an ihn sich heftet ... hört am Ende alle Täuschung auf.

Hat man den Gott erkannt, so schwinden alle Fesseln, die Schmerzen erlöschen, und mit ihnen schwinden Geburt und Tod. Wenn man über ihn nachsinnt, so erreicht man bei Vernichtung des Leibes das dritte, das Allherrschende. Im Absoluten ist der Wunsch erfüllt7.

Das ist als ewig zu erkennen, was in der absoluten Seele[171] ruht. Es gibt kein höheres Wissen als das. Mit dem Gedanken an Genießer, Objekt des Genusses und Ursacher ist alles gesagt; das ist das dreifache Brahman.

Wie man die Gestalt des Feuers nicht wahrnimmt, das im Schoße des Reibholzes sich befindet und dennoch seine Wesenheit nicht verloren hat, wie man es vielmehr aus dem Schoße des Reibholzes gewinnt, so gewinnt man beides mittels des Omlautes im Körper (das individuelle und absolute Selbst).

Er mache seinen Körper zum Unterholz, den Omlaut zum Oberholz, und durch eifrige Anwendung der als Reibholz dienenden Meditation wird er den Gott, wie das verborgene Feuer gewahren.

Wie Öl in Sesamkörnern, wie Butter in der Milch, wie Wasser im Stromlauf, wie Agni im Reibholz, so erfaßt man in dem individuellen das absolute Selbst, wenn man mittels Wahrhaftigkeit und Askese seinen Blick darauf richtet;

auf das alles erfüllende, bedingungslose Selbst, das wie Butter in der Milch (in der Einzelseele) enthalten ist. Das Brahman, das die Wurzel der Wissenschaft vom Âtman und der Askese ist, ist das höchste Ziel der geheimen Lehre.


(I)

1

Vorschläge zu Verbesserungen einzelner Verse haben wir demselben Autor zu verdanken: SBSGW. 43, 91ff. (I, 1-3); 49, 99 (IV, 18); 51, 39ff. (V, 1-3; VI, 13.)

2

Böhtlingk, SBSGW. 1891, S. 4. Ich lese sapratishthâḥ.

3

Röer: ›It is not the union of them, because the soul remains; the soul (the individual soul) also is not powerful‹ usw. Deussen: ›Denn ein Selbst ist! Doch auch das Selbst schafft frei nicht Lust und Unlust.‹ Ich beziehe na tu auf den ganzen Satz, in dem âtman im Gegensatz zur Einzelseele steht. na tu na (in anîsha), Bejahung; sicher ist auch diese Deutung nicht.

4

Die Dreiheit: der Genießer, die Sinnesobjekte und der Ursacher, Schöpfer d.h. Einzelseele, Welt und Gott.

5

Weltseele und Einzelseele gegeneinander gestellt.

6

Materie und Weltseele gegeneinander gestellt.

7

âptaḥ kâmaḥ dürfte die geringste Änderung sein, die in dem Text vorzunehmen ist.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 169-172.
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