V (Adhyâya 29).

Vers 1036-1064 (B. 1-29).

[36] Arjuna sprach:


1. (1036.) Du rühmst, o Kṛishna, den Verzicht auf die Werke und wiederum Hingebung an dieselben. Was ist von diesen beiden das Bessere? Das sage mir mit Bestimmtheit.


Der Heilige sprach:


2. (1037.) Verzicht auf die Werke und Hingebung an sie, beides führt zum höchsten Heil; aber unter ihnen wird der Verzicht von der Hingebung an die Werke übertroffen.

3. (1038.) Der ist zu wissen als ein beständig Verzichtender, welcher nicht hasst und nicht begehrt; denn frei von den Gegensätzen [des Lebens], o Grossarmiger, wird er leicht von der Bindung erlöst.

4. (1039.) Nur die Toren behaupten, dass Sânkhyam (Weg der Reflexion) und Yoga (Weg der Verinnerlichung) verschieden seien, nicht aber die Weisen. Wer auch nur eines von ihnen richtig betreibt, der erlangt die Frucht aller beiden.[37]

5. (1040.) Die Stätte, welche von den Reflektierenden (sâ khyaiḥ) errungen wird, eben diese wird auch von den Yoga-Übenden erlangt. Eines sind das Sânkhyam und der Yoga. Wer das sieht, der ist sehend.

6. (1041.) Aber das Verzichten, o Grossarmiger, ist schwer zu erlangen, wenn es nicht vom Yoga ausgeht; während der dem Yoga sich hingebende Weise in kurzer Zeit das Brahman erreicht.

7. (1042.) Wer dem Yoga sich hingegeben hat, reinen Wesens, besiegten Wesens, mit bezähmten Sinnen, und dessen Selbst zum Selbste aller Wesen geworden ist, der wird, auch wenn er Werke tut, nicht befleckt.

8. (1043.) Wer dem Yoga hingegeben die Wesenheit erkennt, der ist sich bewusst, dass nicht er es ist, welcher irgendein Werk tut, und wenn er sieht und hört und fühlt und riecht, wenn er isst und wandelt, schläft und atmet,

9. (1044.) wenn er redet, ausscheidet und greift, die Augen öffnet und schliesst, so ist er sich dabei bewusst, dass es nur seine Sinnesorgane sind, welche sich mit den Sinnendingen befassen.

10. (1045.) Wer so handelt, dass er seine Werke dem Brahman weiht und sich von dem Hang [nach Lohn] freigemacht hat, der bleibt[38] vom Bösen unbefleckt, wie das Lotosblatt vom Wasser.

11. (1046.) Nur mit dem Leibe, mit dem Manas und der Buddhi, nur mit den Sinnesorganen allein vollbringen die Yogin's das Werk, indem sie die Anhänglichkeit [an den Lohn] fahren lassen, um ihre Seele (Âtman) reinzuhalten.

12. (1047.) Der dem Yoga sich Hingebende verzichtet auf die Frucht der Werke und erlangt den unvergänglichen Frieden; der Nicht-Hingegebene handelt aus Begierde, ist anhänglich an den Lohn und bleibt gebunden.

13. (1048.) Alle Werke mit Bewusstsein von sich werfend sitzt er da, heiter und Herr [seiner Sinne], der Träger des Leibes in der Stadt mit den neun Toren [dem Leibe], indem er weder handelt noch handeln lässt.

14. (1049.) Nicht das Tätersein und nicht die Werke schafft der Herr der Welt [der Purusha], noch auch den Zusammenhang zwischen den Werken und ihrem Lohne, vielmehr ist es die eigene Natur (svabhâva = prakṛiti), die sich darin betätigt.

15. (1050.) Nicht das Böse von irgendwem und nicht sein gutes Werk erkennt der Allmächtige an als sein, sondern es ist die Verdunkelung des Wissens durch das Nichtwissen, vermöge dessen die Geschöpfe in der Irre gehen.

16. (1051.) Aber diejenigen, bei denen dieses[39] Nichtwissen vernichtet ist durch die Erkenntnis des Âtman, deren Erkenntnis macht ihnen gleichwie eine Sonne jenes Höchste offenbar.

17. (1052.) Dieses erkennend, dieses als ihr Selbst erfassend, in diesem feststehend, dieses als höchstes Ziel habend, gehen sie ein dorthin, von wo es keine Wiederkehr gibt, sie, welche durch die Erkenntnis das Böse abgeschüttelt haben.

18. (1053.) In dem mit Wissenschaft und Zucht begabten Brahmanen, in dem Ochsen, in dem Elefanten, ja sogar in dem Hunde und in dem Hundefleischverzehrer sieht der Weise eines und dasselbe.

19. (1054.) Schon hienieden haben sie sich das All erobert, deren Geist darin fest geworden ist, in allem das Gleiche zu sehen. Denn sündlos ist das in allem gleichmässig vorhandene Brahman, darum sind sie fest beharrend in dem Brahman.

20. (1055.) Er freut sich nicht, wenn ihm Angenehmes begegnet, er bleibt unerschüttert, wenn ihn Unangenehmes trifft; festen Sinnes und unbeirrt kennt er das Brahman, steht er im Brahman fest.

21. (1056.) An den Berührungen der Aussenwelt hängt sein Âtman nicht, in sich selbst findet er, was ihn beglückt; der Hingebung an Brahman mit ganzer Seele ergeben erlangt er unvergängliches Glück.

22. (1057.) Alle Freuden, welche aus der[40] Berührung mit der Welt entspringen, die sind eine Quelle der Leiden, sie haben einen Anfang und ein Ende, o Kuntîsohn, nicht freut sich ihrer der Weise.

23. (1058.) Wer schon hienieden vor der Erlösung vom Leibe den Sturm zu bewältigen weiss, der aus Lust und Zorn entspringt, der ist ein Hingegebener, ist ein glückseliger Mann.

24. (1059.) Wer in sich die Freude, in sich das Ergötzen findet und in sich das Licht, der ist ein Yogin, und, zu Brahman geworden, gelangt er zum Erlöschen in Brahman (brahma-nirvâṇam.)

25. (1060.) Dieses Erlöschen in Brahman erlangen die Ṛishi's, wenn die Sünde vernichtet, die Zweiheit abgeworfen, das Selbst bezähmt ist, sie, welche sich am Wohle aller Wesen erfreuen.

26. (1061.) Für die von Lust und Zorn befreiten Selbstbezwinger, die ihre Gedanken im Zaume halten und den Âtman erkannt haben, tritt ganz und vollständig [abhitas, nach Ça kara: im Leben und Tode] das Erlöschen im Brahman ein.

27. (1062.) Wer die Berührungen der Aussenwelt nach aussen zurückdrängt und das Augenmerk auf den Punkt zwischen den Brauen richtet [wo nach Brahmasûtra 1,2,32 der Sitz des Âtman ist], wer Einhauch und Aushauch einander gleich macht und so durch das Innere der Nase streichen lässt,[41]

28. (1063.) wer als ein Muni Sinne, Manas und Buddhi bezähmt, der Erlösung als höchstem Ziel zustrebt und Wünschen, Fürchten und Zürnen von sich abtut, der ist für immer erlöst.

29. (1064.) Und indem er mich erkennt als den Empfänger aller Opfer und Kasteiungen, als den grossen Herrn aller Welten und als den Freund aller Wesen, geht er ein zum Frieden.


So lautet in der Bhagavadgîtâ Werkverzicht und Werkhingebung (karma-sannyâsa-yoga).

Quelle:
Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahâbhâratam. Leipzig 1911, S. 36-42.
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