VII. Von der Art und Weise, wie ein auf den Tastsinn beschränkter Mensch den Raum zu entdecken anfängt.

[101] 1. Weil die Begehrungen in der Anstrengung bestehen, welche die Körpertheile im Einklang mit den Seelenkräften machen, so kann unsere Statue keine Empfindung begehren, ohne sich gleichzeitig zu bewegen, um den Gegenstand, der sie ihr verschaffen kann, aufzusuchen. Sie wird also jedesmal dann zur Bewegung bestimmt werden, wenn sie sich der angenehmen Empfindungen erinnert, deren Genuss die Bewegung ihr gewährt hat.

Anfänglich bewegt sie sich ohne bestimmtes Ziel hin und her, und diese Bewegung ist selbst auch ein Gefühl, das sie mit Lust geniesst; denn sie fühlt alsdann ihr Dasein besser. Wenn darauf ihre Hand einen Gegenstand antrifft, der auf sie einen angenehmen Eindruck der Wärme oder Kühlung macht, so werden ihre Bewegungen sofort unterbrochen, und sie überlässt sich ganz diesem neuen Gefühle. Je angenehmer es ihr erscheint, desto mehr richtet sie ihre Aufmerksamkeit darauf. Ja, sie mochte den Gegenstand, der es veranlasst, mit allen Theilen ihres Körpers berühren, und dieses Begehren bringt in ihr Bewegungen hervor, die, anstatt ohne bestimmtes Ziel vor sich zu gehen, alle darauf abzielen, ihr den vollständigsten Genuas zu verschaffen.

Jener Gegenstand verliert jedoch seinen Wärme-oder Kältegrad, und der Genuss hört auf, angenehm zu sein. Da erinnert sich die Statue der ersten Bewegungen, die ihr gefallen haben; sie begehrt sie, und indem sie sich ein zweites Mal hin und her bewegt, ohne eine andere[101] Absicht, als die, sich zu bewegen, ändert sie allmählich ihre Stelle und berührt neue Körper.

Einer der ersten Gegenstände ihrer Verwunderung ist ohne Zweifel der Baum, den sie in jedem Zeitpunkt um sich her entdeckt. Es kommt ihr vor, als wenn sie ihn aus ihrem eignen Sein heraushole, als wenn die Gegenstände sich unter ihren Händen nur auf Kosten ihres eigenen Körpers ausdehnten, und je mehr sie sich mit dem Raume vergleicht, der sie umgiebt, desto mehr fühlt sie ihre Grenzen sich verengen.

So oft sie einen Raum entdeckt und neue Gegenstände berührt, unterbricht sie ihre Bewegungen oder lenkt sie so, dass sie Empfindungen, welche ihr zusagen, besser geniessen kann, und sobald sie dieselben nicht mehr angenehm findet, fängt sie aus reiner Lust am Bewegen von Neuem an, sich zu bewegen.

Wenn sie auf diesem Wege einen gewissen Raum entdeckt und eine gewisse Anzahl Empfindungen erfahren hat, so erinnert sie sich; verworren wenigstens, an Alles, was sie genossen hat. Indem sie sich einerseits besinnt, dass sie dieses ihren Bewegungen verdankt, andererseits fühlt, dass sie ihre Bewegungen in ihrer Gewalt hat, begehrt sie jenen Raum noch einmal zu durchlaufen und sich die nämlichen Empfindungen, die sie kennen gelernt hat, zu verschaffen. Sie bewegt sich also nicht mehr aus reiner Lust am Bewegen.

Aber da sie sich nicht immer durch dieselben Oertlichkeiten bewegt, so erfährt sie von Zeit zu Zeit Gefühle, die ihr gänzlich unbekannt waren. Je mehr sie solche Erfahrungen macht, desto mehr hält sie ihre Bewegungen für geeignet, ihr neue Lustgefühle zu verschaffen, und diese Hoffnung wird der Grund, aus dem sie sich bewegt.

2. Sie gewinnt also die Ansicht, dass ihr noch Entdeckungen bevorstehen, erfährt, dass ihre willkürlichen Bewegungen ihr dazu verhelfen, und wird zur Wissbegierde befähigt.

In der That ist Wissbegierde nur das Begehren nach etwas Neuem, und dieses Begehren kann nur dann entstellen, wenn man schon Entdeckungen ge macht hat und Mittel zu haben glaubt, noch weitere zu machen. Zwar kann man sich betreffs der Mittel täuschen. Durch Gewöhnung wissbegierig geworden, giebt man sich oft mit[102] Nachforschungen ab, in denen man unmöglich vorwärts kommen kann. Allein dies ist ein Fehlgriff, in den man nicht verfallen sein würde, wenn man nicht bei andern Gelegenheiten günstigere Erfolge gehabt hätte.

3. Es war vielleicht nicht unmöglich, dass, als unsere Statue die andern Sinne nach einander erhielt, die Gewöhnung immer verschiedene Daseinsweisen zu durchleben sie auf den Gedanken brachte, sie könne auch noch andere geniessen; allein da sie nicht wusste, wie sie ihr zu Theil werden sollten, und kein Mittel hatte, den Genuss derselben sich zu verschaffen, so konnte sie sich nicht damit befassen, eine neue Daseinsweise an sich zu entdecken. Es war viel natürlicher, dass sie alle ihre Begehrungen auf die angenehmen Gefühle richtete, die sie kannte. Darum habe ich keine Wissbegier bei ihr vorausgesetzt.

4. Offenbar wird die Wissbegier für sie ein Verlangen, welches sie fortwährend von einem Orte zum andern treibt. Es wird oft der einzige Beweggrund ihrer Handlungen sein. Man beachte hierbei, dass ich keineswegs von der von mir aufgestellten Behauptung abgehe, dass Lust und Schmerz die einzige Ursache der Entwickelung ihrer Kräfte seien. Denn nur in der Hoffnung, sich angenehme Gefühle zu verschaffen oder missfällige zu vermeiden, ist sie wissbegierig. Mithin ist dieses neue Prinzip eine Folge des ersten und bestätigt es.

5. Anfänglich schleppt sie sich nur fort; in der Folge geht sie auf Füssen und Händen, und wenn sie endlich eine Erhöhung antrifft, so ist sie neugierig zu erforschen, was darüber ist und findet sich, wie zufällig, auf ihren Füssen. Sie schwankt, sie geht, wobei sie sich auf Alles stützt, was sie zu halten geeignet ist, sie fällt, stösst sich und verspürt Schmerz. Sie wagt nicht mehr, sich zu erheben, wagt kaum von der Stelle zu rücken, die Furcht vor Schmerz wiegt die Hoffnung auf Lust auf. Ist sie jedoch durch die Körper, die sie mit der Hand berührt hat, noch nicht verletzt worden, so wird sie auch ferner ihre Arme ohne Scheu ausstrecken; allein bei der ersten Verletzung wird diese Zuversicht schwinden, und sie wird unbeweglich bleiben.

6. Nach und nach verliert sich ihr Schmerz, und die Erinnerung, die ihr von ihm bleibt, ist zwar zu schwach,[103] das Verlangen nach Bewegung zurück zu drängen, aber stark genug, ihre Bewegungen furchtsam zu machen.

So brauchen wir nur die sie umgebenden Gegenstände zweckmässig anzuordnen, und wir werden ihr durch Lustgefühle, die sogar die Erinnerung an ihren Schmerz zu tilgen vermögen, ihre ursprüngliche Sicherheit wiedergeben, oder durch schmerzhafte Gefühle ihre Scheu erneuern.

Lassen wir die Dinge ihren natürlichen Gang gehen, so werden die Unfälle so häufig sein können, dass die Scheu sie nicht verlässt.

7. Ja, hätten wir sie im ersten Augenblick an einen Ort gebracht, wo sie sich nicht bewegen konnte, ohne sich heftigen Schmerzen auszusetzen, so würde die Bewegung aufgehört haben, eine Lust für sie zu sein; sie wäre unbeweglich geblieben und hätte sich nie zu einer Kenntniss der äussern Gegenstände erhoben.

8. Allein wenn wir über sie wachen, damit sie nur geringfügige Schmerzen erleide und selbst diese noch ziemlich selten seien, so wird sie alsdann nach Bewegung verlangen, und dieses Verlangen wird nur zuweilen von einigem Misstrauen in ihre Bewegungen begleitet werden. Sie wird also nicht im Stande sein, für immer unbeweglich zu bleiben; wenn sie auch eine Aenderung ihrer Lage fürchtet, so verlangt sie doch so oft nach ihr, als sie ihr förderlich sein kann, und gehorcht abwechselnd diesen beiden Gefühlen.

Daraus wird eine Art Kunstfertigkeit entstehen, die Kunst nämlich, ihre Bewegungen mit Vorsicht zu leiten und die Gegenstände zu benutzen, die nach ihrer Erfahrung dazu dienen können, den Unfällen, welchen sie ausgesetzt ist, vorzubeugen. Durch denselben Zu fall, durch den sie einen Stock ergreift, wird sie allmählich darauf kommen, dass ihr dieser dazu dienen kann, sich zu stützen, zu beurtheilen, an welche Körper sie sich stossen könnte, und die Stellen kennen zu lernen, wohin sie ihren FUSS mit aller Sicherheit setzen kann.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 101-104.
Lizenz:
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Abhandlung über die Empfindungen
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