XI. Unterscheidung von zwei weiteren Klassen von Einzelwissenschaften

[42] Wer die Erscheinungen der Geschichte und Gesellschaft studiert, dem treten abstrakte Wesenheiten überall gegenüber, dergleichen Kunst, Wissenschaft, Staat, Gesellschaft, Religion sind. Sie gleichen zusammengeballten Nebeln, die den Blick hindern, zum Wirklichen zu dringen, und die sich doch nicht greifen lassen. Wie einst die substantialen Formen, die Gestirngeister und Essenzen zwischen dem Auge des Forschers und den Gesetzen standen, welche unter den Atomen und Molekülen walten, so verschleiern diese Wesenheiten die Wirklichkeit des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens, die Wechselwirkung der psychophysischen Lebenseinheiten unter den Bedingungen des Naturganzen und ihrer naturgeborenen genealogischen Gliederung. Ich möchte diese Wirklichkeit sehen lehren – eine Kunst, die lange geübt sein will wie die der Anschauung von räumlichen Gebilden – und diese Nebel und Phantome verscheuchen.

In der unermeßlichen Mannigfaltigkeit von kleinen, scheinbar verschwindenden Wirkungen, die von Individuum zu Individuum durch das Medium materieller Vorgänge ausstrahlen, geht so wenig eine Wirkung verloren, als ein Sonnenstrahl in der physischen Welt. Aber wer vermöchte, dem Lauf der Wirkungen dieses Sonnenstrahls zu folgen? Nur wo gleichartige Effekte in der gesellschaftlichen Welt sich vereinigen, entstehen die Tatbestände, welche eine deutliche und starke Sprache zu uns reden. Von diesen entspringen einige aus einer[42] gleichartigen, aber vorübergehenden Spannung der Kräfte in einer bestimmten Richtung oder auch durch die singulare Gewalt einer einzigen mächtigen Willenskraft, welche doch immer nur in der Richtung solcher in der Geschichte und Gesellschaft angesammelten Spannkräfte große Wirkungen hervorbringen kann. So brechen in der Geschichte plötzliche gewaltige Erschütterungen, wie Revolutionen und Kriege, hervor und gehen vorüber. Dauernde Wirkungen entstehen aus ihnen nur, indem sie in einem schon vorhandenen konstanten gesellschaftlichen Gebilde eine Modifikation hervorbringen: so wirkte die Epoche des Sturms und Drangs vom der mächtigen Person Rousseaus aus auf die angesammelten Spannkräfte in unserem Volksleben und gab unserer Dichtung eine andere Gestalt. Eben diese konstanten Gebilde sind der andere in der gesellschaftlichen Wirklichkeit stark hervortretende Tatbestand, sie entspringen aber ausdauernden Beziehungen der Individuen, und sie allein haben bisher eine wirklich wissenschaftliche theoretische Bearbeitung gefunden.

Wir sahen, die Naturgrundlage der gesellschaftlichen Gliederung, welche in das tiefste metaphysische Geheimnis zurückreicht und von dort her in geschlechtlicher Liebe, Kindesliebe, Liebe zum mütterlichen Boden mit starken dunklen Banden naturgewaltiger Gefühle uns zusammenhält, bringt in den Grundverhältnissen der genealogischen Gliederung und der Niederlassung Gleichartigkeit kleinerer und größerer Gruppen und Gemeinschaft zwischen ihnen hervor; das geschichtliche Leben entwickelt diese Gleichartigkeit, vermöge deren insbesondere die einzelnen Völker sich dem Studium als abgegrenzte Einheiten darbieten. Hierüber hinaus entstehen nun dauernde Gebilde, Gegenstände der gesellschaftlichen Analyse, wenn entweder ein auf einem Bestandteil der Menschennatur beruhender und darum andauernder Zweck psychische Akte in den einzelnen Individuen in Beziehung zueinander setzt und so zu einem Zweckzusammenhang verknüpft, oder wenn dauernde Ursachen Willen zu einer Bindung in einem Ganzen vereinen, mögen nun diese Ursachen in der natürlichen Gliederung oder in den Zwecken, welche die Menschennatur bewegen, gelegen sein. Insofern wir jenen ersteren Tatbestand auffassen, unterscheiden wir in der Gesellschaft die Systeme der Kultur; insofern wir diesen letzteren betrachten, wird die äußere Organisation sichtbar, welche sich die Menschheit gegeben hat: Staaten, Verbände, und, wenn man weiter greift, das Gefüge dauernder Bindungen der Willen, nach den Grundverhältnissen von Herrschaft, Abhängigkeit, Eigentum, Gemeinschaft, welches neuerdings in einem engeren Verstande als Gesellschaft im Gegensatz zum Staat bezeichnet worden ist.

Die einzelnen sind in der Wechselwirkung des geschichtlich-gesellschaftlichen[43] Lebens tätig, indem sie in dem lebendigen Spiel ihrer Energien eine Mannigfaltigkeit von Zwecken zu, verwirklichen suchen. Die Bedürfnisse, welche in der menschlichen Natur angelegt sind, werden infolge der Eingeschränktheit des Menschendaseins nicht von der isolierten Tätigkeit des einzelnen befriedigt, sondern in der Teilung der menschlichen Arbeit und in dem Erbgang der Generationen. Dies wird möglich durch die Gleichartigkeit der Menschennatur und die im Dienst dieser Zwecke stehende überschauende Vernunft in ihr. Aus diesen Eigenschaften entspringt die Anpassung des Handelns an den Ertrag der Arbeit des Vorlebens, an die Mitwirkung der Tätigkeit der Gleichzeitigen. So greifen die wesenhaften Lebenszwecke des Menschen durch Geschichte und Gesellschaft hindurch.

Die Wissenschaft unternimmt nun, nach dem Satze vom Grunde, welcher allem Erkennen zugrunde liegt, die Abhängigkeiten festzustellen, welche innerhalb eines solchen auf einem Bestandteil der Menschennatur beruhenden, über das Individuum hinausgreifenden Zweckzusammenhangs zwischen den einzelnen psychischen oder psychophysischen Elementen bestehen, die ihn bilden, sowie die Abhängigkeiten, welche zwischen ihren Eigenschaften stattfinden. Sie bestimmt, wie ein Element das andere in diesem Zweckzusammenhang bedingt, von dem Auftreten einer Eigenschaft in ihm das einer anderen abhängig ist. Da diese Elemente bewußt sind, können sie in gewissen Grenzen in Worten ausgedrückt werden. Daher bildet sich dieser Zusammenhang in einem Ganzen von Sätzen ab. Jedoch sind diese Sätze sehr verschiedener Natur; je nachdem die psychischen Elemente, welche in dem Zweckzusammenhang verbunden sind, vorwiegend dem Denken. oder dem Fühlen oder dem Willen angehören, treten Wahrheiten, Gefühlsaussagen, Regeln auseinander. Und dieser Verschiedenheit ihrer Natur entspricht die ihrer Verbindung, folgerichtig der Abhängigkeiten, welche die Wissenschaft zwischen ihnen findet. Schon an diesem Punkte kann eingesehen werden, daß es einer der größten Fehler der abstrakten Schule war, alle diese Verbindungen gleichmäßig als logische aufzufassen, und sonach schließlich alle diese geistigen Zwecktätigkeiten in Vernunft und Denken aufzulösen. Ich wähle für einen solchen Zweckzusammenhang den Ausdruck: System.

Die Abhängigkeiten, die solchergestalt in Beziehung auf den Zweckzusammenhang von psychischen oder psychophysischen Elementen innerhalb eines einzelnen Systems bestehen, existieren zunächst in bezug auf diejenigen Grundverhältnisse desselben, welche ihm an allen Punkten gleichförmig eigen sind. Solche bilden die allgemeine Theorie eines Systems. Abhängigkeiten dieser allgemeinsten Art hat Schleiermacher innerhalb des Systems der Religion zwischen der[44] Tatsache des religiösen Gefühls und den Tatsachen der Dogmatik und philosophischen Weltanschauung, zwischen der Tatsache dieses Gefühls und denen des Kultus sowie der religiösen Geselligkeit aufgestellt. Das Thünensche Gesetz drückt das Verhältnis aus, in welchem die Entfernung vom Markte, indem sie die Verwertung der Bodenprodukte beeinflußt, die Intensität der Landwirtschaft bedingt. Solche Abhängigkeiten werden naturgemäß gefunden und dargestellt in dem Zusammenwirken der Analyse des Systems mit dem Schluß aus der Natur der Wechselwirkung der in ihm verbundenen psychischen oder psychophysischen Elemente sowie der Bedingungen von Natur und Gesellschaft, unter denen sie stattfindet. Alsdann bestehen Abhängigkeiten engeren Umfangs zwischen den Modifikationen dieser allgemeinen Eigenschaften eines Systems, welche eine Einzelgestalt desselben bilden. So ist ein Dogma innerhalb eines religiösen Einzelsystems nicht unabhängig von den anderen, welche in demselben mit ihm vereinigt sind; ja die Hauptaufgabe der Dogmengeschichte und Dogmatik, wie sie durch Schleiermachers tiefere Analyse der Religion zu klarem Bewußtsein gelangte, wird darin liegen, an die Stelle eines untergeschobenen logischen Verhältnisses von Abhängigkeit, vermöge dessen nur ein Lehrsystem entsteht, in beiden Wissenschaften die Art von Abhängigkeit der Dogmen untereinander zu setzen, welche in der Natur der Religion, insbesondere des Christentums gegründet ist.

Und zwar beruhen diese Wissenschaften von den Systemen der Kultur auf psychischen oder psychophysischen Inhalten, und diesen entsprechen Begriffe, welche von denen, die von der Individualpsychologie benutzt werden, spezifisch verschieden sind und verglichen mit ihnen als Begriffe zweiter Ordnung im Aufbau der Geisteswissenschaften bezeichnet werden können. Denn die Inhaltlichkeit, wie sie in dem Bestandteil der Menschennatur angelegt ist, auf welchem der Zweckzusammenhang eines Systems beruht, bringt in der Wechselwirkung der Individuen unter den Bedingungen des Naturganzen, in geschichtlicher Steigerung zusammengesetzte Tatsachen hervor, welche sich von der in der Psychologie entwickelten zugrunde liegenden Inhaltlichkeit selber unterscheiden und die Grundlage der Analysis des Systems bilden. So beherrscht der Begriff der wissenschaftlichen Gewißheit in seinen verschiedenen Gestalten, als Überzeugung von Wirklichkeit im Wahrnehmen, als Evidenz im Denken, als Bewußtsein von Notwendigkeit gemäß dem Satz vom Grunde im Erkennen die ganze Theorie der Wissenschaft. So bilden die psychophysischen Begriffe von Bedürfnis, Wirtschaftlichkeit, Arbeit, Wert u. a. die notwendige Grundlage für die von der politischen Ökonomie[45] zu vollziehende Analysis. Und wie zwischen den Begriffen, so besteht (gemäß der Begriffe mit Sätzen verknüpfenden Beziehung) zwischen den fundamentalen Sätzen dieser Wissenschaften und den Ergebnissen der Anthropologie ebenfalls ein Verhältnis, nach welchem die als Wahrheiten zweiter Ordnung in dem aufsteigenden Zusammenhang der Geisteswissenschaften bezeichnet werden können.

Wir können dem Zusammenhang der Argumentation, welchem diese Analyse der Einzelwissenschaften des Geistes gewidmet ist, nunmehr ein weiteres Glied einfügen. Die Tatsachen, welche die Systeme der Kultur bilden, können nur vermittels der Tatsachen, welche die psychologische Analyse erkennt, studiert werden. Die Begriffe und Sätze, welche die; Grundlage der Erkenntnis dieser Systeme ausmachen, stehen in einem Verhältnis von Abhängigkeit zu den Begriffen und Sätzen, welche die Psychologie entwickelt. Aber dies Verhältnis ist so verwickelt, daß nur eine zusammenhängende erkenntnistheoretische und logische Grundlegung, welche von der besonderen Stellung des Erkennens zu der geschichtlichen, der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgeht, die Lücke ausfüllen kann, welche zwischen den Einzelwissenschaften der psychophysischen Einheiten und denen der politischen Ökonomie, des Rechts, der Religion u. a. bis heute besteht. Diese Lücke wird von jedem Einzelforscher gefühlt. Die englisch-französische Wissenschaftslehre, welche such hier ein bloßes Verhältnis der deduktiven und der induktiven Operation sieht, und daher auf dem rein logischen Wege durch Untersuchung der Tragweite dieser beiden Operationen die schwierige Frage zu lösen glaubt, hat ihre Unfruchtbarkeit nirgend deutlicher als in den weitläufigen Debatten über diesen Punkt dargetan. Die methodologischen Voraussetzungen dieser Debatten sind irrig. Die Frage ist nicht, wie diese Forscher sie stellen, ob solche Wissenschaften einer deduktiven Entwicklung fähig seien, welche dann einer induktiven Verifikation und Anpassung an die komplexen Verhältnisse des tatsächlichen Lebens unterliege, oder ob sie induktiv zu entwickeln und dann durch eine Deduktion aus der menschlichen Natur zu bestätigen seien. Diese Fragestellung selber ist in der Übertragung eines abstrakten Schemas aus den Naturwissenschaften gegründet. Nur das Studium der Arbeit des Erkennens, welche unter den Bedingungen der besonderen Aufgabe der Geisteswissenschaften steht, kann das Problem des hier bestehenden Zusammenhangs auflösen.

Man könnte sich nun vorstellen, es gebe Wesen, deren Wechselwirkung nur in einem solchen Ineinandergreifen psychischer Akte in, einem oder einer Mehrheit von Systemen verliefe. Man dächte sich, dann alle Wirkungen solcher Wesen als fähig, in einen solchen Zweckzusammenhang[46] einzugreifen und schränkte ihr ganzes Verhältnis zueinander auf diese Fähigkeit, ihre Zwecktätigkeit einem oder mehreren solcher Zusammenhänge anzupassen, ein. Obgleich ein jedes dieser Wesen sein Tun dem der vor oder neben ihm befindlichen anpaßte, um es zweckmäßig einzurichten, verbliebe jedes derselben für sich, nur die Intelligenz stiftete zwischen ihnen einen Zusammenhang, sie rechneten aufeinander, aber kein lebendiges Gefühl von Gemeinschaft bestünde zwischen ihnen; sie vollzögen so pünktlich und vollständig, gleich bewußten Atomen, die Aufgaben ihrer Zweckzusammenhänge, daß kein Zwang und kein Verband zwischen ihnen notwendig wäre.

Der Mensch ist nicht ein Wesen solcher Art. Es bestehen andere Eigenschaften seiner Natur, welche in der Wechselwirkung dieser psychischen Atome zu den dargelegten noch andere konstante Beziehungen hinzufügen, deren am meisten ins Auge fallenden von uns' als Staat bezeichnet werden. Es besteht infolge hiervon eine andere theoretische Betrachtung des gesellschaftlichen Lebens, welche in den Staatswissenschaften ihren Mittelpunkt hat. Die regellose Gewalt seiner Leidenschaften so gut als sein inniges Bedürfnis und Gefühl von Gemeinschaft machen den Menschen, wie er Bestandteil in dem Gefüge dieser Systeme ist, so zu einem Glied in der äußeren Organisation der Menschheit. Von der Struktur, welche ein Zusammenhang psychischer Elemente in dem Zweckganzen eines Systems zeigt, von der Analysis derselben, welche die Beziehungen in einem solchen System untersucht, unterscheiden wir die Struktur, welche in dem Verbande von Willenseinheiten entsteht, und die Analysis der Eigenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft, der Gemeinsamkeiten, der Verbände, des Gefüges, das in Herrschaftsverhältnissen und äußerer Bindung vom Willen entsteht.

Die Grundlage, auf welcher diese andere Form dauernder Beziehungen in der Wechselwirkung beruht, reicht ebenso tief als die, welche die Tatsache der Systeme hervorbringt. Sie liegt zunächst in der Eigenschaft des Menschen, vermöge deren er ein geselliges Wesen ist. Mit dem Naturzusammenhang, in welchem der Mensch steht, den Gleichartigkeiten, die so entspringen, den dauernden Beziehungen von psychischen Akten in einem Menschenwesen auf solche in einem anderen sind dauernde Gefühle von Zusammengehörigkeit verbunden, nicht nur ein kaltes Vorstellen dieser Verhältnisse. Andere gewaltsamer wirkende Kräfte nötigen die Willen zum Verbande zusammen: Interesse und Zwang. Wirken diese beiden Arten von Kräften nebeneinander: so kann die uralte Streitfrage, welchen Anteil jede von ihnen an der Entstehung des Verbandes, des Staates[47] habe, nur durch historische Analysis von Fall zu Fall aufgelöst werden.

Natur und Umfang der Wissenschaften, welche so entstehen, ergibt sich erst näher aus der Erörterung der Kultursysteme und ihrer Wissenschaften. Bevor wir in diese eintreten, ziehen wir zwei weitere Folgerungen in dem Zusammenhang der Beweisführung, welche durch diese Analyse der Geisteswissenschaften hindurchgeht.

Augenscheinlich besteht dasselbe Verhältnis, vermöge dessen Begriffe und Sätze der Wissenschaften der Kultur von denen der Anthropologie abhängig waren, auch auf diesem Gebiet der Wissenschaften von der äußeren Organisation der Gesellschaft. Die Tatsachen zweiter Ordnung, welche hier die Grundlage bilden, werden an einem späteren Punkt erörtert werden, da sie erst nach einer näheren Analysis der Systeme der Kultur mit hinreichender Deutlichkeit gesehen werden können. Aber wie wir sie auch bestimmen werden, sie müssen dasselbe Problem einschließen, dessen Vorhandensein Beweis für die Notwendigkeit einer Wissenschaft ist, welche unter den allgemeinen Bedingungen menschlichen Erkennens die Gestaltung des auf die geschichtliche und gesellschaftliche Wirklichkeit gerichteten Erkenntnisprozesses untersucht, seine Grenzen, seine Mittel, den Zusammenhang der Wahrheiten darlegt, in welchem voranzuschreiten der Wille der Erkenntnis in der Menschheit auf diesem Gebiet gebunden ist. Die Lücke im Zusammenhang des wissenschaftlichen Denkens hat sich den Staatswissenschaften so fühlbar gemacht, als denen der Religion oder politischen Ökonomie.

Faßt man alsdann das Verhältnis dieser beiden Klassen von Wissenschaften zueinander ins Auge, so entsteht hier für den Logiker eine Forderung an methodisches Bewußtsein über den Zusammenhang des Erkenntnisvorgangs, in dem diese Einzelwissenschaften entstanden sind, welche noch weiter führt. Die Wissenschaften einer jeden dieser beiden Klassen können gemäß der Natur des Vorgangs von Zerlegung, in welchem sie sich schieden, nur in der beständigen Relation ihrer Wahrheiten auf die in der anderen Klasse gefundenen entwickelt werden. Und innerhalb einer jeden dieser Klassen besteht dasselbe Verhältnis, oder wie könnten die Wahrheiten der Wissenschaft der Ästhetik ohne die Beziehung zu denen der Moral wie zu denen der Religion entwickelt werden, da doch der Ursprung der Kunst, die Tatsache des Ideals, in diesen lebendigen Zusammenhang zurückweist ? Wir erkennen auch hier, indem wir analysieren und den Teilinhalt abstrakt entwickeln; aber Bewußtsein über diesen Zusammenhang und Verwertung desselben: das ist die große methodologische Anforderung, welche aus diesem Tatbestand entspringt; nie[48] darf die Beziehung des so gewissermaßen herauspräparierten Teilinhaltes auf den Organismus der Wirklichkeit, in welchem allein das Leben selber pulsiert, vergessen werden, vielmehr kann das Erkennen: nur von dieser Beziehung aus den Begriffen und Sätzen ihre genaue Form geben und ihren angemessenen Erkenntniswert zuteilen. Es war der Grundfehler der abstrakten Schule, die Beziehung des abstrahierten Teilinhaltes auf das lebendige Ganze außer acht zu lassen und schließlich diese Abstraktionen als Realitäten zu behandeln. Es war der komplementäre, aber nicht minder verhängnisvolle Irrtum der historischen Schule, in dem tiefen Gefühl der lebendigen, irrational gewaltigen, alles Erkennen nach dem Satze vom Grunde überschreitenden Wirklichkeit aus der Welt der Abstraktion zu flüchten.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 42-49.
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