5. Kapitel
Weitsichtigkeit / Tschang Giän

[139] Daß die Erkenntnis der Menschen einander übertrifft, kommt davon her, daß es weitsichtige und kurzsichtige Menschen gibt. Die Gegenwart ist im Verhältnis zur Vergangenheit Zukunft, ebenso wie die Gegenwart der Zukunft gegenüber Vergangenheit ist. Darum, wer die Gegenwart kennt, kann auch die Vergangenheit erkennen.[139] Wer die Vergangenheit erkennt, vermag auch die Zukunft zu erkennen. Vergangenheit und Gegenwart, frühere oder spätere Zeit, ist alles dasselbe. Darum kennt der Weise nach obenhin und nach untenhin Jahrtausende.

Der König Wen von Dschou sprach: »Hiän Hi ist mir schon wiederholte Male entgegengetreten, aber er hat kein Recht gehabt, er hat mir widersprochen, aber was er sagte, entsprach der Ordnung. Der Verkehr mit ihm ist nicht bequem, aber auf die Dauer gewinne ich dabei. Wenn ich ihn nicht zu meinen Lebzeiten in den Adelstand erhebe, so werden Weise der Zukunft mich tadeln.« Darauf ernannte er ihn zum fünften Hohen Rat. »Schen Hou Be versteht es, meinen Gedanken entgegenzukommen. Was ich wünsche führt er aus, noch ehe ichs ausgesprochen. Der Verkehr mit ihm ist zwar bequem, aber auf die Dauer verliere ich dabei. Wenn ich ihn nicht zu meinen Lebzeiten entferne, so werden die Weisen der Zukunft mich deshalb tadeln.« Darauf verabschiedete er ihn und ließ ihn gehen16.

Schen Hou Be begab sich nach Dschong und schmeichelte den Neigungen des Fürsten von Dschong, indem er alles zum Voraus tat, was jener wünschte. Nach drei Jahren, da ward er mit der Regierung von Dschong beauftragt. Nach weiteren fünf Monaten brachten ihn die Leute von Dschong um. So war das Verfahren des Königs Wen vor dem Richterstuhle der Weisen der Nachwelt gerechtfertigt.

Der Herzog Ping von Dsin ließ eine große Glocke gießen, deren Klang er durch die Sachverständigen prüfen ließ. Alle waren der Meinung, sie habe die rechte Stimmung. Nur der Musiker Kuang (Schï Kuang) sagte: »Sie stimmt nicht, ich bitte, sie umgießen zu lassen.« Der Herzog Ping sprach: »Die Sachverständigen sind alle der Meinung, daß sie in der rechten Stimmung sei.« Der Musikmeister Kuang sprach: »Wenn es in Zukunft einen musikalischen Menschen geben wird, so wird er merken, daß die Glocke nicht richtig gestimmt ist. Darüber empfinde ich für meinen Fürsten Scham.« Als dann später der Musikmeister Hüan (Schï Güan) aufkam, erkannte er richtig, daß die Glocke nicht gut gestimmt war. So wollte[140] der Musikmeister Kuang die Glocke gut stimmen lassen, in Gedanken an die Musikverständigen der Zukunft.

Der große Herzog Lü Wang wurde mit Tsi belehnt. Der Herzog Dan von Dschou wurde mit Lu belehnt. Die beiden Herrscher waren gut befreundet und redeten miteinander über die Grundsätze, nach denen sie ihre Staaten regierten. Der große Herzog Wang sprach: »Ich achte die Weisen und ehre das Verdienst.« Der Herzog Dan von Dschou sprach: »Ich liebe die Nächsten und schätze die Gnade.« Der große Herzog Wang sprach: »Infolge dieser Grundsätze wird der Staat Lu abnehmen.« Der Herzog Dan von Dschou sprach: »Lu wird zwar abnehmen, aber Tsi wird auch nicht im Besitz der Familie Lü bleiben.« Im Laufe der Zeit wurde Tsi immer größer, bis es schließlich die Hegemonie im Reich erlangte. Aber nach vierundzwanzig Generationen bemächtigte sich der Usurpator Tiän Tschong Dsï des Staates. Der Staat Lu verkleinerte sich immer mehr, bis er sich schließlich kaum noch halten konnte. Aber das Herrscherhaus erlosch erst nach vierunddreißig Generationen.

Wu Ki17 verwaltete das Gebiet außerhalb des westlichen Gelben Flusses. Da verleumdete ihn Wang Tso bei dem Fürsten Wu von We. Der Fürst Wu ließ ihn vom Amte abberufen. Als Wu Ki nach An Men kam, hielt er den Wagen an und blickte nach dem Westfluß. Er weinte lange und stieg ab. Sein Knappe sprach zu ihm: »Ich dachte, daß Ihr die ganze Welt ebenso leicht ablegen könntet, wie man ein Paar alte Schuhe ablegt. Warum weint Ihr nun so, da Ihr den Westfluß verlassen müßt?« Wu Ki wischte sich die Tränen ab und erwiderte ihm: »Das verstehst Du nicht. Wenn der Fürst mich erkannt hätte, und ich meine ganze Kraft an die Verwaltung des Westflusses hätte setzen können, so hätte ich ihm zur Weltherrschaft helfen können. Nun hat statt dessen der Fürst auf die Reden von Verleumdern gehört und mich nicht erkannt, so wird es nicht lange dauern, bis die Gegend am westlichen Fluß vom Staate Tsin geraubt wird. Das aber wird der Anfang des Niedergangs von We sein.« Wu Ki verließ darauf We und begab sich nach Tschu. Kurze Zeit darauf wurde das ganze Gebiet am Westfluß[141] von Tsin annektiert und Tsin wurde immer mächtiger. Das hatte Wu Ki unter Tränen vorausgesehen.

Der Minister Gung Schu Dso von We war krank. Der König Hui18 ging hin, um nach ihm zu sehen. Er sprach: »Eure Krankheit ist schwer, wem soll ich das Wohl des Staates anvertrauen?« Gung Schu erwiderte: »Ich habe einen Knappen namens Gung Sun Yang und bitte, daß Ihr das Reich ihm anvertraut. Wenn Ihr nicht auf seine Worte hören wollt, dann sorgt wenigstens dafür, daß er das Gebiet unseres Staates nicht verläßt.« Der König erwiderte nichts. Nachdem er sich verabschiedet hatte, sprach er zu seiner Umgebung: »Ist das nicht traurig? Der Gung Schu war immer so weise und nun will er mich dazu überreden, die Leitung des Staates dem Gung Sun Yang anzuvertrauen. Das ist eine Dummheit!«

Als Gung Schu gestorben war, reiste Gung Sun Yang nach Westen in den Staat Tsin. Der Herzog Hiau von Tsin hörte auf ihn und so wurde Tsin immer mächtiger, während We immer schwächer wurde. Das kam aber nicht von der Dummheit des Gung Schu Dso, sondern der König von We war der Dumme. Das Unglück der Dummen ist, daß sie das, was nicht dumm ist, für dumm halten.

Fußnoten

1 Das Sternbild Dou enthält sechs Sterne des Schützen, das Sternbild Dung Bi enthält die Sterne γ des Pegasus und α der Andromeda, das Sternbild Dschen enthält vier Sterne des Raben.


2 Hüan Tang (die dunkle Halle) ist der nördliche Flügel der Ming Tang, Tai Miau ist das mittlere Gemach.


3 Nach Yin Lü Piän Buch VI, 2 müßte es heißen die Kraft des Lichten.


4 Gemeint ist der König Min.


5 Der König Ho Lü von Wu war ein entfernter Angehöriger des Königs Liau, dem er auf dem Throne folgte. King Gi war der Sohn des Verstorbenen, darum wollte er ihn töten lassen. King Gi war aber so stark und schnell, daß jedermann sich vor ihm fürchtete. Yau Li war von zwerghafter Gestalt, aber durch seine Unerschrockenheit in schwierigen Unternehmungen berühmt.


6 Das war die Art, wie der König dem Yau Li helfen sollte, indem er ihn vor dem Verdacht schützte, daß er mit ihm in freundschaftlicher Beziehung stehe.


7 In Dso Dschuan Ai Gung 20. Jahr steht, daß King Gi nach Tschu gegangen war. Wogegen in Wu Yüo Tschun Tsiu ebenfalls We als sein Aufenthaltsort genannt wird.


8 Im Dso Dschuan steht die Geschichte unter Herzog Min 2. Jahr. Der Herzog I von We war wegen seiner Vorliebe für Kraniche berühmt.


9 Vgl. Dschuang Dsï X, 2.


10 Die fünf Tugenden sind: 1. Größe, 2. Mut, 3. Pflichtgefühl, 4. Weisheit, 5. Güte. Diese Aufzählung stimmt mit der konfuzianischen: Güte, Pflichtgefühl, Sitte, Weisheit, Treue nicht überein.


11 Weil er nämlich das Reich nicht seinem Sohne überlassen hatte.


12 Weil er nämlich ohne deren Wissen geheiratet hatte.


13 Weil er nämlich den Wein, der zu seinen Zeiten erfunden wurde, mit Genuß trank, obwohl er ihn nachher verbot.


14 Tang verbannte den Giä nach Nan Tschau, König Wu von Dschou tötete den Dschou Sin in Süan Schï.


15 Vgl. Lun Yü Buch XIII, 18.


16 Die Geschichte steht Dso Dschuan Herzog Hi 7. Jahr.


17 Wu Ki ist ein Bürger aus We. Das Gebiet westlich vom Fluß war wichtig zum Schutz gegen die Nordstämme.


18 Der König Hui ist derselbe wie der in Mong Dsï I, A I erwähnte. Er ist der Sohn des Fürsten Wu der eben genannten Geschichte.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 139-142.
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