2. Kapitel
Wie man zu köstlichen Speisen kommt / Ben We

[179] Wenn man etwas erstrebt und bei der Wurzel anfängt, so vergehen kaum vierzehn Tage, und man hat es. Wenn man aber nach etwas strebt und beim Wipfel beginnt, so macht man sich vergebliche Mühe. Große Werke und ein berühmter Name wachsen aus der rechten Handhabung der Regierungsmaßregeln und aus dem Einfluß der Weisen als ihrer Wurzel hervor; denn wer anders als der Weise versteht sich aufs Regieren und Beeinflussen? Darum heißt es: Die Wurzel ist, Weise zu bekommen.

Ein Mädchen aus dem Stamme Yu Sin pflückte einst Maulbeerblätter und fand dabei einen Säugling in einem hohlen Maulbeerbaum7. Sie brachte ihn ihrem Fürsten. Der Fürst ließ ihn durch einen Koch aufziehen8. Als man nach seiner Herkunft forschte, ergab sich folgendes: Seine Mutter wohnte am I-Flusse und war guter Hoffnung. Im Traum sagte ein Gott zu ihr: »Wenn aus dem steinernen Mörser Wasser fließt, so gehe nach Osten, aber sieh dich nicht um. Am andern Tag sah sie aus dem steinernen Mörser Wasser fließen.

Sie erzählte ihren Nachbarn ihren Traum und ging nach Osten[179] zehn Meilen weit. Da sah sie rückwärts. Da war ihre ganze Stadt lauter Wasser, sie selbst aber wurde zur Strafe in einen hohlen Maulbeerbaum verwandelt. Darum wurde das Knäblein Yin genannt. Das ist die Geschichte von der Geburt I Yins im hohlen Maulbeerbaum.

Als er groß wurde, ward er sehr weise. Tang hörte von I Yin, da sandte er jemand zu dem Herrn von Sin und ließ ihn um denselben bitten. Aber der Herr von Sin war nicht dafür. Doch wünschte auch I Yin dem Tang anzugehören. Darauf bat Tang um eine Tochter des Herrn von Sin zur Frau. Darüber war der Herr von Sin erfreut und gab ihr den I Yin als Brautführer mit9. So verschmäht ein weiser Fürst kein Mittel, um einen tüchtigen Staatsmann zu bekommen, und ein tüchtiger Staatsmann ist zu allem bereit, um einen weisen Fürsten zum Herrn zu bekommen, und erst wenn sie einander gefunden haben, sind sie zufrieden. Ohne daß sie es sich vornehmen, stehen sie einander nahe, ohne daß sie es versprechen, sind sie einander treu. Sie bieten miteinander alle ihre Weisheit und Kraft auf, um die Gefahren zu beseitigen und den Übeln zu steuern. Von Herzen freuen sie sich aneinander. Auf diese Weise werden große Werke und Ruhm vollendet. Freilich gibt es nicht nur Staatsmänner, die ungesellig und selbstbewußt sind, sondern auch Herren, die anmaßend sind und alles selber ma chen wollen. Auf diese Weise aber geht der Ruhm sicher in die Brüche und das Bestehen der Staatsgrundlagen wird gefährdet. Darum hat Huang Di Vorkehrungen getroffen, daß nach allen Seiten Weise gesucht würden, und Yau und Schun haben den Bo Yang und Sü Örl gefunden und darnach Erfolg gehabt. Und es gibt Mittel, die Tugenden der Weisen zu erkennen10.

Bo Ya schlug die Zither11 und Dschung Dsï Ki hörte zu. Als er einst die Zither schlug, waren seine Gedanken beim Taischan. Dschung Dsï Ki sprach: »Wie schön in Deinem Zitherspiel das Steilerhabene zum Ausdruck kommt, gleich als wäre es der Taischan.«

Nach einer Weile waren seine Gedanken bei fließendem Wasser. Dschung Dsï Ki sprach abermals: »Wie schön in Deinem Zitherspiel[180] das Rauschen zum Ausdruck kommt gleich als von fließenden Wassern.«

Als Dschung Dsï Ki starb, da zerbrach Bo Ya seine Zither und riß die Saiten entzwei und spielte sein Leben lang nie wieder die Zither, weil er der Meinung war, daß auf der Welt niemand mehr sei, der es wert wäre, daß man ihm auf der Zither vorspiele.

Nicht nur beim Zitherspiel kommt so etwas vor, sondern mit der Tüchtigkeit verhält es sich ebenso. Aber selbst wenn man tüchtige Leute hat und sie nicht höflich behandelt, wie könnten da die tüchtigen Leute ihre Treue voll entfalten. Es ist, wie wenn der Wagenlenker nicht geschickt ist, dann kann das beste Pferd nicht von sich aus tausend Meilen weit am Tage laufen.

Als Tang den I Yin bekommen hatte, stellte er ihn im Ahnentempel dar. Er stellte ihn in das Licht des heiligen Feuers und bestrich ihn mit dem Blut des Opferschweines. Am folgenden Tage hielt er Hof und empfing ihn, da redete er mit Tang über die feinsten Gerichte.

Tang sprach: »Kann man solche Dinge zubereiten?«

I Yin erwiderte: »Euer Land ist klein, da läßt sich nicht alles beschaffen, wenn man Großkönig ist, dann läßt sich alles beschaffen. Von den Tieren der drei Naturreiche haben die im Wasser lebenden einen tranigen Geruch, die fleischfressenden einen wilden Geruch und die grasfressenden einen ranzigen Geruch. Trotz schlechten Geruchs kann etwas gut schmecken, es kommt nur auf die Zubereitung an.«

Die Grundlage aller Gerichte ist vor allem das Wasser. Es gibt fünf Geschmacksarten12, drei Materialien13, neun Kochweisen, neun Veränderungen der Speisen, bei denen es auf die Anwendung der verschiedenen Feuer ankommt. Zuweilen muß es rasch sein, zuweilen langsam. Den Beigeschmack des Tranigen, Wilden, Ranzigen bekommt man durch stärkere Gegenmittel weg, wenn man die rechte Reihenfolge nicht verfehlt. Bei der Mischung muß man süß, sauer und bitter, scharf und salzig richtig abwägen, man muß wissen, was von jedem früher, was später zugesetzt wird und wie viel von jedem.[181]

Diese Verteilung ist sehr kompliziert, muß sich aber in allen Stücken nach der Regel richten. Die Veränderungen, die mit den Speisen nach dem Anrichten in der Schüssel vor sich gehen, sind so fein und kompliziert, daß man gar nicht darüber reden und sie erklären kann, es ist wie bei den subtilsten Kunstgriffen beim Schießen und Wagenlenken, wie bei der Gestaltung durch die Kräfte des Lichten und Dunkeln, den festen Gesetzen der Jahreszeiten.

Die abgelagerten Speisen dürfen nicht verdorben sein, die gargekochten nicht zerkocht, die süßen nicht widerlich, die sauern nicht zusammenziehend, die salzigen nicht versalzen, die scharfen nicht brennend, die milden nicht fad, die fetten nicht abgestanden.

Die besten der Fleischspeisen sind die Lippen des Orang-Utang und geröstete Küan-Küan14, die Schwänze junger Schwalben, das Mark von Büffeln und Elefanten15. Westlich von den Wanderdünen im Süden des Zinnoberberges gibt es Phönixeier, die die Leute des Landes Yü essen.

Die besten Fische sind die Rochen vom Dung-Ting-See und die Sardellen16 des Ostmeeres. In der Nektarquelle gibt es einen Fisch, der heißt Scharlachschildkröte. Er hat sechs Beine und Perlen wie Nephrit17. Im Kuan-Wasser gibt es einen Fisch, der heißt Yau (Flugfisch), er sieht aus wie ein Karpfen und hat Flügel, er fliegt häufig des Nachts aus dem Westmeer ins Ostmeer.

Unter den Gemüsen sind die besten: die Algen vom Kunlungebirge, die Früchte des Baumes des Lebens18. Im Osten des Dschï Gu-Berges19, im Lande Mitteltal, gibt es die Blätter des Rotholzes und Schwarzholzes. Im Süden von Yü Wu am Ufer des Südpols gibt es ein Gemüse, das heißt der Baum der Erkenntnis20, seine Farbe ist wie grüner Nephrit. Ferner gibt es die Petersilie des südlichen Hua-Berges und die Sellerie des Yün-Mong-Sees21. In Tsin Yüan gibt es ein Kraut, das heißt Erdblüte.

Unter den Gewürzen sind die besten: der Ingwer von Yang-Pu, der Zimmt von Dschau Jau, die Pilze von Yüo-Lo, Sauce aus Aalen und Stören, das Salz von Da Hia, der Tau von Dsai Go, dessen Farbe wie Nephrit ist, und die Eier von Tschang Tsche22.

Unter den Getreidearten sind die besten: das Korn vom schwarzen[182] Berg, die Hirse vom Bu-Dschou-Berg, der Sorghum vom Yang-Schan, die schwarze Hirse von der Südsee.

Unter den verschiedenen Arten von Wasser sind die besten: der Tau von San-We23, das Wasser aus den Brunnen des Kunlungebirges, das Wasser aus den Hügeln am Dsü Giang (Yangtse), das man Zitterwasser nennt, das Wasser vom weißen Berge. Auf dem Berge der hohen Quelle gibt es eine Sprudelquelle, dort ist der Ursprung des Wassers von Gi Dschou.

Unter den Früchten sind die besten: die Früchte des Apfelbaumes; im Norden des Tschangberges auf Tou Yüan gibt es alle Arten von Früchten, die die Götter speisen, im Osten des Berges Gi an dem Orte Tsing Niau gibt es süße Apfelsinen, die Mandarinenfrüchte von Giang Pu und die Pumalos Yün Mong, die Steinohren24 vom Flusse Han. Um sie herbeizuholen, bedarf es eines grünen Drachens oder eines Gespanns Windsbräute25.

Wenn man nicht erst Großkönig ist, so kann man das nicht alles vollständig bekommen, und auch wenn man Großkönig ist, muß man es nicht erzwingen wollen. Erst muß man die Wahrheit erkennen. Die Wahrheit liegt aber nicht draußen, sondern sie beruht auf uns selbst. Sind wir selbst fertig, so ist unser Königtum fertig. Ist das Königtum fertig, so sind die feinsten Gerichte alle zu unsrer Verfügung.

Darum muß man auf das Nahe achten, um das Ferne zu verstehen, man muß sich selbst vollenden, um die andern vollenden zu können: das ist die Summe der Lehren der alten Könige, es bedarf nicht eitler Vielgeschäftigkeit.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 179-183.
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