4. »Das Geheimnis der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit«

[73] »Das Geheimnis als das der gebildeten Gesellschaft zieht sich zwar aus dem Gegensatz in das Innere hinein. Dennoch hat die große Welt wiederum ausschließlich ihre Zirkel, in denen sie das Heiligtum bewahrt. Sie ist gleichsam die Kapelle für dieses Allerheiligste. Aber für die im Vorhofe ist die Kapelle selbst das Geheimnis. Die Bildung ist also in ihrer exklusiven Stellung für das Volk dasselbe... was die Roheit für den Gebildeten ist.«

Zwar – dennoch, wiederum – gleichsam – aber – also – das sind die magischen Haken, welche die Ringe der spekulativen Entwickelungskette zusammenschließen. Herr Szeliga hat das Geheimnis aus der Sphäre der Verbrecher in die haute volée sich hineinziehen lassen. Jetzt muß er das Geheimnis konstruieren, daß die vornehme Welt ihre ausschließlichen Zirkel hat und daß die Geheimnisse dieser Zirkel Geheimnisse für das Volk sind. Zu dieser Konstruktion bedarf es außer den schon angeführten Zauberhaken der Verwandlung eines Zirkels in eine Kapelle und der Verwandlung der nichtaristokratischen Welt in einen Vorhof zu dieser Kapelle. Es ist abermals ein Geheimnis für Paris, daß alle Sphären der bürgerlichen Gesellschaft nur einen Vorhof für die Kapelle der haute volée bilden.

Herr Szeliga verfolgt zwei Zwecke. Einmal soll das Geheimnis, welches sich in dem exklusiven Zirkel der haute volée inkarniert hat, zum »Gemeingut der Welt« fortbestimmt werden. Zweitens soll der Notar Jacques Ferrand als Lebensglied des Geheimnisses konstruiert werden. Er verfährt wie folgt:

»Die Bildung kann und will in ihren Kreis noch nicht alle Stände und Unterschiede hereinziehen. Erst das Christentum und die Moral sind imstande, Universalreiche auf dieser Erde zu gründen.«

Für Herrn Szeliga ist die Bildung, die Zivilisation, identisch mit der aristokratischen Bildung. Er kann daher nicht sehen, daß Industrie und Handel ganz andre Universalreiche gründen als Christentum und Moral, Familienglück und Bürgerwohl. Aber wie kommen wir zum Notar Jacques Ferrand ? Höchst einfach!

Herr Szeliga verwandelt das Christentum in eine individuelle Eigenschaft, in die »Frömmigkeit«, und die Moral in eine andre individuelle Eigenschaft, in die »Rechtschaffenheit.« Er faßt diese beiden Eigenschaften in ein Individuum zusammen, das er Jacques Ferrand tauft, weil Jacques Ferrand beide Eigenschaften nicht besitzt, sondern heuchelt. Jacques Ferrand ist nun das »Geheimnis der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit.« Das »Testament«[73] Ferrands ist dagegen »das Geheimnis der scheinenden Frömmigkeit und Rechtschaffenheit«, also nicht mehr der Frömmigkeit und Rechtschaffenheit selbst. Wollte die kritische Kritik dies Testament als Geheimnis konstruieren, so mußte sie die scheinende Rechtschaffenheit und Frömmigkeit für das Geheimnis dieses Testamentes, nicht umgekehrt dies Testament für das Geheimnis der scheinenden Rechtschaffenheit erklären.

Während das Pariser Notariat in Jacques Ferrand ein bittres Pasquill auf sich erblickte und die Entfernung dieser Person aus den in Szene gesetzten »Mystères de Paris« von der Theaterzensur erwirkte, sieht die kritische Kritik in demselben Moment, wo sie gegen das »Luftreich der Begriffe polemisiert«, in einem Pariser Notar keinen Pariser Notar, sondern Religion und Moral, Rechtschaffenheit und Frömmigkeit. Der Prozeß des Notars Lehon hätte sie aufklären müssen. Die Stellung, welche der Notar in dem Roman Eugen Sues behauptet, hängt genau mit seiner offiziellen Stellung zusammen.

»Les notaires sont au temporel ce qu'au spirituel sont les curés; ils sont les dépositaires de nos secrets.« (Monteil, »Hist[oire] des français des div[ers] états« etc., t. IX, p. 37.)

Der Notar ist der weltliche Beichtvater. Er ist Puritaner von Profession, und »Ehrlichkeit«, sagt Shakespeare, »ist kein Puritaner.« Er ist zugleich der Kuppler für alle möglichen Zwecke, der Lenker der bürgerlichen Intrigen und Kabalen.

Mit dem Notar Ferrand, dessen ganzes Geheimnis die Heuchelei und das Notariat ist, sind wir, wie es scheint, noch keinen Schritt weitergekommen, doch man höre!

»Ist dem Notar die Heuchelei nun Sache des vollständigsten Bewußtseins, der Madame Roland aber gleichsam Instinkt, so steht zwischen ihnen die große Masse derer, die hinter das Geheimnis nicht kommen können und doch sich unwillkürlich gedrungen fühlen, daß sie es möchten. So ist es denn nicht Aberglauben, welcher hoch und niedrig in die unheimliche Behausung des Charlatans Bradamanti (Abbé Polidori) führt, nein, es ist das Suchen des Geheimnisses, um vor der Welt gerechtfertigt zu stehn.«

»Hoch und niedrig« strömt nicht zu Polidori, um ein bestimmtes Geheimnis zu finden, welches vor aller Welt gerechtfertigt dasteht, »hoch und niedrig« sucht bei ihm das Geheimnis schlechthin, das Geheimnis als absolutes Subjekt, um vor der Welt gerechtfertigt dazustehen, wie wenn man[74] nicht eine Axt, sondern das Instrument in abstracto suchte, um Holz zu spalten.

Alle Geheimnisse, die Polidori besitzt, beschränken sich auf ein Mittel zum Abortieren für Schwangere und ein Gift zum Töten. – Herr Szeliga in spekulativer Wut läßt den »Mörder« zum Gift Polidoris seine Zuflucht nehmen, »weil er nicht Mörder, sondern geachtet, geliebt, geehrt sein will«, als wenn es sich bei einer Mordtat um Achtung, Liebe, Ehre und nicht um den Kopf handelte! Aber der kritische Mörder bemüht sich nicht um seinen Kopf, sondern um »das Geheimnis.« – Da nicht alle Welt mordet und polizeiwidrig schwanger ist, wie soll Polidori jeden in den gewünschten Besitz des Geheimnisses setzen? Herr Szeliga verwechselt den Charlatan Polidori wahrscheinlich mit dem gelehrten Polydorus Virgilius, der im 16. Jahrhundert lebte und zwar keine Geheimnisse entdeckt hat, wohl aber die Geschichte der Entdecker der Geheimnisse, der Erfinder – zum »Gemeingut der Welt« zu machen strebte. (Siehe Polidori Virgilii liber de rerum inventoribus, Lugduni MDCCVI.)

Das Geheimnis, das absolute Geheimnis, wie es sich zuletzt als »Gemeingut der Welt« etabliert, besteht also in dem Geheimnis zu abortieren und zu vergiften. Das Geheimnis konnte sich nicht geschickter zum »Gemeingut der Welt« machen, als indem es sich in Geheimnisse verwandelte, die für niemand Geheimnisse sind.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 73-75.
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