Viertes Capitel.

Vom Kettenschluss und von den deductiven Wissenschaften.

[251] §. 1. Aus unserer Analyse des Syllogismus ging hervor, dass die untere Prämisse immer eine Aehnlichkeit zwischen einem neuen Fall und einigen vorher bekannten Fällen behauptet, während die obere Prämisse etwas behauptet, das wir in jenen bekannten Fällen wahr fanden, und das wir uns daher berechtigt fühlen, in anderen Fällen für wahr zu halten, die den ersteren in gewissen gegebenen Einzelheiten gleichen.

Wenn in Beziehung auf die untere Prämisse alle Syllogismen den in den vorhergehenden Capiteln gebrauchten Beispielen glichen; wenn die Aehnlichkeit, welche diese Prämisse behauptet, den Sinnen so einleuchtend wäre, wie in dem Urtheil »Sokrates ist ein Mensch«, oder wenn sie durch directe Beobachtung bestimmt werden könnte: so würden keine Kettenschlüsse erforderlich sein, und die Deductiven Wissenschaften würden nicht existiren. Kettenschlüsse sind nur dafür da, um eine auf beobachtete Fälle gegründete Induction auf andere Fälle auszudehnen, in denen wir nicht allein das nicht direct beobachten können, was zu beweisen ist, sondern in denen wir nicht einmal das Merkmal, welches es beweisen soll, direct beobachten können.

§. 2. Angenommen der Syllogismus wäre, Alle Kühe käuen wieder, das Thier vor mir ist eine Kuh, daher käuet es wieder. Wenn die untere Prämisse überhaupt wahr ist, so ist sie es ohne weiteres; die obere Prämisse bedarf einer vorausgängigen Prüfung, und vorausgesetzt die Induction, wovon sie der Ausdruck ist, wäre richtig vollzogen, so wird der Schluss in Betreff des Thieres vor mir augenblicklich gezogen sein, weil man, sobald sie mit der[251] Formel verglichen wird, findet, dass sie darin eingeschlossen ist. Nehmen wir aber an, der Syllogismus wäre wie folgt: – Aller Arsenik ist giftig, die Substanz vor mir ist Arsenik, folglich ist sie giftig. Die Wahrheit der untern Prämisse ist hier vielleicht nicht so auf den ersten Blick einleuchtend; sie ist vielleicht nicht durch directe Anschauung bewiesen, sondern vielleicht selbst das Ergebniss einer Folgerung. Sie kann der Schluss eines Arguments sein, das, in die syllogistische Form gebracht, so lautet: – Alles was mit Wasserstoff eine Verbindung eingeht, die mit salpetersaurem Silber einen schwarzen Niederschlag giebt, ist Arsenik; die Substanz vor mir entspricht dieser Bedingung: folglich ist sie Arsenik. Um daher den letzten Schluss zu beweisen, die Substanz vor mir ist giftig, bedarf es eines Verfahrens, das, um syllogistisch ausgedrückt zu werden, zwei Syllogismen erfordert, und wir haben so einen Kettenschluss.

Wenn wir aber so Syllogismus zu Syllogismus addiren, so fügen wir in Wirklichkeit Induction zu Induction. Zwei getrennte Inductionen müssen stattgefunden haben, um diese Kette von Folgerungen möglich zu machen; Inductionen, die wahrscheinlich auf verschiedene Reihen von einzelnen Fällen gegründet sind, die aber in ihren Resultaten convergiren, so dass der den Gegenstand der Untersuchung bildende Fall in das Bereich beider fällt. Die Geschichte dieser Inductionen ist in den oberen Prämissen der zwei Syllogismen niedergelegt. Erstlich, wir, oder andere für uns, haben verschiedene Gegenstände untersucht, welche unter den gegebenen Umständen den gegebenen Niederschlag gaben, und haben gefunden, dass sie die durch das Wort Arsenik mitbezeichneten Eigenschaften besassen; sie waren metallisch, flüchtig, ihre Dämpfe rochen nach Knoblauch u.s.w. Danach haben wir oder andere verschiedene Probestücke untersucht, welche diesen metallischen und flüchtigen Charakter besassen, deren Dämpfe nach Knoblauch rochen etc., und unabänderlich gefunden, dass sie giftig waren. Die erste Beobachtung glauben wir auf alle Substanzen ausdehnen zu können, welche den Niederschlag geben; die zweite auf alle metallischen und flüchtigen Substanzen, welche der untersuchten gleichen; und folglich nicht bloss auf diejenigen, von denen man sieht, dass sie so sind, sondern auch auf diejenigen, von denen man auf eine frühere Induction hin schliesst,[252] dass sie so sind. Von der Substanz vor uns sieht man, dass sie nur unter die eine dieser Inductionen fällt, aber mit Hülfe der einen wird sie unter die andere gebracht. Wir schliessen immer wie vorher vom Besondern auf Besonderes, aber wir schliessen nun vom beobachteten Besondern auf ein nichtbeobachtetes Besondere, wovon man nicht sieht, dass es ihnen in den Hauptpunkten gleicht, sondern wovon man folgert, dass es dies thut, weil es ihnen in etwas anderm gleicht, das wir durch eine ganz verschiedene Reihe von Fällen veranlasst wurden, als ein Merkmal der ersteren Aehnlichkeit zu betrachten.

Dieses erste Beispiel eines Kettenschlusses ist noch sehr einfach, indem die Kette nur aus zwei Syllogismen besteht. Das Folgende ist etwas verwickelter: – Keine Regierung, welche das Wohl ihrer Unterthanen ernstlich sucht, wird leicht umgestürzt werden; irgend eine besondere Regierung sucht ernstlich das Wohl ihrer Unterthanen, daher wird sie wahrscheinlich nicht umgestürzt werden. Wir wollen annehmen, die obere Prämisse dieses Arguments sei nicht von Betrachtungen a priori abgeleitet, sondern eine Generalisation aus der Geschichte, die, richtig oder irrig, auf Betrachtungen von Regierungen gegründet sein muss, über deren Streben nach dem Wohl ihrer Unterthanen kein Zweifel bestand. Man fand oder glaubte zu finden, dass dieselben nicht leicht umgestürzt werden, und man hielt dafür, dass diese Fälle eine Ausdehnung desselben Prädicats auf eine jede Regierung rechtfertigten, welche jenen in dem Attribut gleicht, das Wohl ihrer Unterthanen ernstlich zu wollen. Aber gleicht die fragliche Regierung denselben wirklich in dieser Hinsicht? Hierüber kann man mit vielen Gründen pro und contra streiten, und es muss in jedem Fall durch eine zweite Induction bewiesen werden, denn wir können die Gefühle und Wünsche der Menschen, welche die Regierung führen, nicht direct beobachten. Um die untere Prämisse zu beweisen, bedürfen wir daher eines Arguments von der Form: Eine jede Regierung, welche in einer gewissen Weise handelt, will das Wohl ihrer Unterthanen, die vorausgesetzte Regierung handelt in dieser Weise, folglich will sie das Wohl ihrer Unterthanen. Aber ist es wahr, dass die Regierung in der vorausgesetzten Weise handelt? Auch diese untere Prämisse ist zu beweisen, daher eine neue Induction wie die: – Was durch intelligente[253] und uninteressirte Zeugen behauptet wird, kann als wahr geglaubt werden; dass die Regierung in dieser Weise handelt, wird durch solche Zeugen behauptet, daher kann es als wahr geglaubt werden. Das Argument besteht nun aus drei Stufen. Da uns unsere Sinne den Beweis liefern, dass der Fall von der fraglichen Regierung einer Anzahl früherer Fälle in dem Umstand gleicht, dass durch intelligente und uninteressirte Zeugen etwas von ihr behauptet wird, so folgern wir: erstens, dass in diesen wie in den früheren Fällen die Behauptung wahr ist. Da zweitens von der Regierung behauptet wird, dass sie in einer besondern Weise handelt, und da der Beobachtung nach andere Regierungen in derselben Weise handelten, so ergiebt sich eine bekannte Aehnlichkeit zwischen der fraglichen Regierung und diesen anderen Regierungen ; und da von diesen bekannt ist, dass sie das Wohl ihrer Unterthanen wollten, so wird darauf hin durch eine zweite Induction gefolgert, dass die besondere, in Rede stehende Regierung das Wohl ihrer Unterthanen will. Hieraus erkennt man wiederum eine Aehnlichkeit dieser Regierung mit anderen Regierungen, von denen man glaubte, dass sie mit Wahrscheinlichkeit einer Revolution entgehen werden, und durch eine dritte Induction sagen wir daher voraus, dass auch die besondere Regierung wahrscheinlich dem Umsturz entgehen wird. Dies ist immer noch ein Schliessen vom Besondern auf's Besondere, aber wir schliessen nun auf den neuen Fall aus drei verschiedenen Reihen von früheren Fällen; die directe Wahrnehmung zeigt uns nur, dass der neue Fall nur der einen dieser Reihen von Fällen ähnlich ist, aber aus dieser Aehnlichkeit folgern wir inductiv, dass er das Attribut besitzt, wodurch er der nächsten Reihe ähnlich und der entsprechenden Induction erreichbar wird, wonach wir durch eine Wiederholung desselben Verfahrens folgern, dass er der dritten Reihe ähnlich ist, und von da führt uns eine dritte Induction zu dem endlichen Schluss.

§. 3. Trotz der grösseren Verwickelung dieser Beispiele im Vergleich mit denjenigen, durch welche wir in den vorhergehenden Capiteln die allgemeine Theorie des Schliessens erläuterten, ist doch eine jede dort aufgestellte Lehre auch in diesen verwickelteren Fällen in gleicher Weise gültig. Die successiven allgemeinen[254] Urtheile sind nicht Stufen in dem Schliessen, sie sind nicht Zwischenglieder in der Kette von Folgerungen zwischen dem beobachteten Besondern und dem Besondern, auf das wir die Beobachtung anwenden. Wenn wir ein hinreichend umfassendes Gedächtniss und das Vermögen besässen, in einer ungeheuren Masse von Details Ordnung zu erhalten, so könnte das Schliessen ohne allgemeine Urtheile von Statten gehen, denn dieselben sind nur Formeln, um Besonderes aus Besonderem zu schliessen. Das Princip des allgemeinen Schliessens ist (wie früher erklärt), dass wenn sich aus der Beobachtung gewisser bekannter, besonderer Fälle ergab, dass was von ihnen wahr ist, auch von irgend anderen als wahr gefolgert werden kann, so kann es von allen anderen Fällen einer gewissen Art gefolgert werden, und damit wir niemals verfehlen mögen, in einem neuen Fall diesen Schluss zu ziehen, wenn er richtig zu ziehen ist, und damit wir ihn zu ziehen vermeiden, wenn dies nicht geschehen kann, so bestimmen wir ein- für allemal, welches die unterscheidenden Merkmale sind, durch welche derartige Fälle erkannt werden können. Der darauf folgende Process ist ein blosses Identificiren eines Gegenstandes, und ein Bestimmen, ob er diese Merkmale besitzt, wir mögen ihn nun durch diese Merkmale selbst identificiren, oder durch andere, von denen wir (durch einen andern und ähnlichen Process) bestimmt haben, dass sie Merkmale von diesen Merkmalen sind. Die wirkliche Folgerung geschieht immer vom Besondern auf Besonderes, von den beobachteten Fällen auf einen nicht beobachteten; aber indem wir diese Folgerungen machen, richten wir uns nach einer Formel, die wir bei diesen Operationen zur Richtschnur genommen haben, und die eine Aufzeichnung der Kriterien ist, durch welche wir früherer Bestimmung zufolge unterscheiden zu können glauben, wann die Folgerung gemacht werden kann und wann nicht. Die wahren Prämissen sind die einzelnen Beobachtungen, wenn sie auch vergessen worden sind, oder wenn sie, als die Beobachtungen von Anderen, uns auch niemals bekannt gewesen sind; aber wir haben den Beweis vor uns, dass wir oder andere sie einst für eine Induction genügend hielten, und wir haben die Merkmale, um zu zeigen, ob ein neuer Fall zu denjenigen Fällen gehört, auf welche man die Induction ausgedehnt haben würde, wenn sie bekannt gewesen wären. Diese Merkmale erkennen wir entweder[255] direct, oder mit Hülfe anderer Merkmale, von denen wir durch eine andere vorausgängige Induction folgerten, dass sie Merkmale von ihnen sind. Vielleicht werden auch diese Merkmale von Merkmalen nur durch eine dritte Reihe von Merkmalen zu erkennen sein, und es kann ein ziemlich langer Kettenschluss entstehen, um einen neuen Fall in das Bereich einer auf besondere Fälle gegründeten Induction zu bringen, und seine Aehnlichkeit mit jenen Fällen kann daher nur in dieser indirecten Weise bestimmt werden.

So war in dem vorhergehenden Beispiel die letzte inductive Folgerung, dass eine gewisse Regierung wahrscheinlich nicht umgestürzt werden wird; diese Folgerung war nach einer Formel gemacht, in welcher der Wunsch nach dem öffentlichen Wohl als ein Merkmal von »nicht leicht umgestürzt zu werden« aufgestellt war; ein Merkmal dieses Merkmals war, in einer besondern Weise handeln; und ein Merkmal eines solchen Handelns war, dass von intelligenten und uninteressirten Zeugen behauptet worden ist, dass es stattfand; dieses Merkmal wurde durch die Sinne als in Besitz der in Rede stehenden Regierung erkannt; hierdurch fiel diese Regierung unter die letzte Induction und durch diese unter alle anderen. Die wahrgenommene Aehnlichkeit dieses Falles mit einer Reihe von beobachteten besonderen Fällen brachte ihn in eine bekannte Aehnlichkeit mit einer andern Reihe, und diese mit einer dritten.

In den verwickelteren Zweigen des Wissens bestehen die Deductionen selten wie in den bisher angeführten Beispielen aus einer einzigen Kette, a ein Merkmal von b, b von c, c von d, daher a ein Merkmal von d. Sie bestehen (um dieselbe Metapher fortzusetzen) aus mehreren an den Enden verbundenen Ketten, etwa so : a ein Merkmal von d, b von e, c von f, d e f von n, daher a b c ein Merkmal von n. Nehmen wir z.B. die folgende Combination von Umständen an: 1) Lichtstrahlen die auf eine reflectirende Fläche fallen; 2) diese Fläche parabolisch; 3) die Lichtstrahlen parallel zu einander und zur Achse der Fläche. Es ist zu beweisen, dass das Zusammenwirken dieser drei Umstände ein Merkmal ist, dass die reflectirten Strahlen durch den Brennpunkt der parabolischen Fläche gehen. Nun ist ein jeder dieser Umstände einzeln genommen ein Merkmal von etwas für den Fall Wesentlichem. Lichtstrahlen,[256] die auf eine reflectirende Oberfläche fallen, sind ein Merkmal, dass diese Strahlen in einem Winkel zurückgeworfen werden, der dem Einfallswinkel gleich ist. Die parabolische Gestalt der Fläche ist ein Merkmal, dass eine aus irgend einem Punkt derselben nach dem Brennpunkt gezogene, und eine mit der Achse parallel gezogene gerade Linie mit der Fläche gleiche Winkel bilden. Und endlich ist die Parallelität der Lichtstrahlen mit der Achse ein Merkmal, dass ihr Einfallswinkel mit einem von diesen gleichen Winkeln zusammenfallt. Die drei Merkmale zusammengenommen sind daher ein Merkmal dieser drei vereinigten Dinge. Aber die drei vereinigten Dinge sind offenbar ein Merkmal, dass der Reflexionswinkel mit dem andern der zwei gleichen Winkel, mit dem durch eine nach dem Brennpunkt gezogene Linie gebildeten Winkel zusammenfallen muss; und dies ist nach einem fundamentalen Axiom in Betreff gerader Linien ein Merkmal, dass die zurückgeworfenen Strahlen durch den Brennpunkt gehen. Die meisten Ketten von physikalischen Deductionen gehören diesem verwickelteren Typus an; sogar in der Mathematik sind sie häufig, wie in allen Sätzen, wo die Voraussetzung zahlreiche Bedingungen einschliesst: »Wenn ein Kreis genommen wird, und wenn in diesem Kreis ein Punkt genommen wird, der nicht der Mittelpunkt ist, und wenn von diesem Punkt gerade Linien nach dem Umfang gezogen werden, so etc.«

§. 4. Die angeführten Betrachtungen benehmen unserer Ansicht über das Schliessen eine ernstliche Schwierigkeit; es hätte von dieser Ansicht sonst scheinen können, dass sie mit der Thatsache, dass es deductive Wissenschaften giebt, schwer in Einklang zu bringen sei. Wenn alles Schliessen Induction ist, so könnte daraus zu folgen scheinen, dass die Schwierigkeiten des philosophischen Forschens ausschliesslich in den Inductionen liegen müssen, und dass wenn diese leicht und unzweifelhaft wären, es keine Wissenschaft oder wenigstens keine Schwierigkeiten in der Wissenschaft geben könnte. Die Existenz einer so umfassenden Wissenschaft wie die Mathematik, welche von ihren Schöpfern das höchste wissenschaftliche Genie forderte, und die auch noch nach ihrer Schöpfung von dem, der sie sich aneignen will, eine andauernde und nachdrückliche Anstrengung des Geistes verlangt, mag dem Anschein nach schwer nach der vorhergehenden Theorie zu erklären[257] sein. Aber die zuletzt angeführten Betrachtungen klären das Geheimniss auf, indem sie zeigen, dass wenn auch die Inductionen selbst ganz einleuchtend sind, sich doch eine grosse Schwierigkeit darbietet, herauszufinden, ob der den Gegenstand der Untersuchung bildende besondere Fall in ihr Bereich fällt; es bleibt dem wissenschaftlichen Scharfsinn ein weiter Spielraum, um die verschiedenen Inductionen so zu combiniren, dass vermittelst der einen, unter welche der Fall offenbar fällt, er auch in das Bereich der anderen gebracht werde, in welche er nicht direct als eingeschlossen erblickt werden kann.

Wenn die in einer Wissenschaft direct aus Beobachtungen zu machenden augenfälligeren Inductionen gemacht, und wenn allgemeine Formeln aufgestellt worden sind, welche die Grenzen feststellen, innerhalb deren diese Inductionen anwendbar sind: so wird, so oft man sieht, dass ein neuer Fall unter eine dieser Inductionen fällt, diese Induction auf den neuen Fall angewendet, und das Geschäft ist damit beendet. Aber es tauchen fortwährend neue Fälle auf, die nicht augenscheinlich unter eine jener Formeln fallen, durch welche die in Betreff jener Fälle zu lösende Frage beantwortet werden könnte. Wir wollen ein Beispiel aus der Geometrie wählen und der Erläuterung wegen annehmen, der Leser habe uns einstweilen zugestanden, was wir in dem nächsten Capitel zu beweisen suchen werden, dass die ersten Grundsätze der Geometrie Resultate der Induction sind. Unser Beispiel sei der fünfte Satz des ersten Buchs von Euklid. Die Frage ist, sind die beiden Winkel an der Grundlinie eines gleichschenkligen Dreiecks gleich oder ungleich? Das erste in Betracht zu Ziehende ist, welche Inductionen wir haben, aus denen wir Gleichheit oder Ungleich heit folgern können. Um Gleichheit zu folgern, haben wir die folgenden Formeln: – Dinge, welche sich decken, wenn sie aufeinandergelegt werden, sind gleich. Dinge, welche ein und demselben Ding gleich sind, sind einander selbst gleich. Ein Ganzes und die Summe seiner Theile sind gleich. Die Summen gleicher Dinge sind gleich. Die Unterschiede gleicher Dinge sind gleich. Um Gleichheit zu beweisen, existiren keine andere Formeln. Um Ungleichheit zu folgern, haben wir die folgenden Formeln: – Ein Ganzes und seine Theile sind ungleich. Die Summen gleicher und ungleicher. Dinge sind ungleich. Die Unterschiede gleicher und ungleicher[258] Dinge sind ungleich. In allem acht Formeln. Die Winkel an der Grundlinie eines gleichschenkligen Dreiecks fallen augenscheinlich unter keine derselben. Die Formeln geben gewisse Merkmale der Gleichheit und Ungleichheit an, aber bei den Winkeln kann man nicht durch Anschauung wahrnehmen, ob sie irgend eines dieser Merkmale besitzen. Bei der Untersuchung erhellt es, dass es der Fall ist, und es gelingt uns zuletzt, sie unter die Formel zu bringen, »die Unterschiede gleicher Dinge sind gleich.« Woher rührt nun die Schwierigkeit, diese Winkel als die Unterschiede gleicher Dinge zu erkennen? Weil jeder von ihnen der Unterschied nicht eines einzigen Paares, sondern unzähliger Paare von Winkeln ist; und von diesen haben wir zwei zu den ken und zu wählen, die entweder intuitiv als gleich wahrgenommen werden konnten, oder welche eines der in den verschiedenen Formeln aufgestellten Merkmale der Gleichheit besitzen. Durch einen Aufwand von Scharfsinn, der bei dem ersten Entdecker bedeutend gewesen sein musste, fand man zwei Winkel, welche diese Erfordernisse mit sich vereinigten. Erstens konnte man durch Anschauung wahrnehmen, dass ihre Unterschiede die Winkel an der Grundlinie sind; zweitens besassen sie eines der Merkmale der Gleichheit, nämlich sie deckten sich, wenn sie aufeinandergelegt wurden. Dieses Sichdecken wurde indessen nicht durch Anschauung wahrgenommen, sondern nach einer andern Formel gefolgert.

Der grössern Klarheit wegen füge ich hier eine Analyse des Beweises bei. Man wird sich erinnern, dass Euklid seinen fünften Satz mit Hülfe des vierten beweist. Dies ist uns hier nicht erlaubt, weil wir deductive Wahrheiten nicht auf vorhergehende deductive Wahrheiten, sondern auf ihre ursprünglichen inductiven Fundamente zurückführen wollen. Wir müssen daher anstatt des Schlusses die Prämissen des vierten Satzes nehmen, und den fünften direct aus den ersten Grundsätzen beweisen. Dieses erfordert sechs Formeln. (Wir müssen wie im Euklid damit beginnen, die[259] leichen Seiten A B, A C um gleiche Entfernungen zu verlängern, und die Endpunkte B E, D C miteinander zu verbinden.)

4. Vom Kettenschluss und von den deductiven Wissenschaften

Erste Formel: Die Summen gleicher Dinge sind gleich.

A D und A E sind Summen gleicher Grössen der Voraussetzung nach. Da sie dieses Merkmal der Gleichheit besitzen, so schliesst man nach dieser Formel, dass sie gleich sind.

Zweite Formel: Wenn gleiche gerade Linien auf einander gelegt werden, so decken sie sich.

A C, A B kommen der Voraussetzung nach unter diese Formel; A D, A E wurden durch die vorhergehende Stufe darunter gebracht, was nach der zweiten Formel ein Merkmal ist, dass sie sich decken werden, wenn sie aufeinandergelegt werden. Sich ganz decken, heisst, sich in allen Theilen, und natürlich auch an den Endpunkten D, E und B, C decken.

Dritte Formel: Gerade Linien, deren Endpunkte sich decken, decken sich.

B E und C D wurden durch die vorhergehende Formel unter diese Induction gebracht; sie werden sich daher decken.

Vierte Formel: Winkel, deren Seiten sich decken, decken sich.

Da die dritte Induction gezeigt hat, dass sich B E und CD decken, und die zweite, dass sich A B und A C decken, so werden hierdurch die Winkel A B E und A C D ins Bereich der vierten Formel gebracht und demnach decken sie sich.

Fünfte Formel: Dinge, welche sich decken, sind gleich.

Die Winkel ABE und A CD werden durch die unmittelbar Vorhergehende Induction unter diese Formel gebracht. Da dieser Kettenschluss mutatis mutandis auch auf die Winkel E B C, D G B anwendbar ist, so werden auch diese unter die fünfte Formel gebracht. Und schliesslich

Sechste Formel: Die Unterschiede von Gleichem sind gleich.

Da der Winkel A B C der Unterschied von A B E und C B E, und der Winkel A C B der Unterschied von A C D und D G B ist, wovon bewiesen wurde, dass sie gleich sind: so werden A B C und A C B durch das Ganze des vorausgehenden Processes in das Bereich der letzten Formel gebracht.[260]

Die Schwierigkeit liegt hier darin, dass wir uns die zwei Winkel an der Grundlinie des Dreiecks A B C als Reste vorstellen müssen, die dadurch entstehen, dass ein Winkelpaar aus dem andern herausgeschnitten wird, während ein jedes Paar correspondirende Winkel von Dreiecken sein sollen, welche zwei Seiten und den dadurch eingeschlossenen Winkel gleich haben. Durch diesen glücklichen Kunstgriff lässt man so viele verschiedene Inductionen auf denselben particularen Fall hinwirken. Und da dies durchaus keine so augenfällige Idee ist, so kann man aus einem so nahe an der Schwelle der Mathematik stehenden Beispiel ersehen, welcher Spielraum dem wissenschaftlichen Geschick wohl in den hohem Zweigen dieser wie auch anderer Wissenschaften noch bleiben mag, um einige wenige einfachen Inductionen so zu combiniren, dass dadurch unter eine jede derselben unzählige Fälle gebracht werden, die nicht augenscheinlich in ihnen eingeschlossen liegen, und wie lange, wie zahlreich und verwickelt die Processe sein mögen, welche nothwendig sind, um die Inductionen zusammenzubringen, wenn auch eine jede Induction an sich sehr leicht und einfach sein mag. – Alle in der Geometrie enthaltenen Inductionen sind in den einfachen Inductionen, deren Formeln die Axiome und einige wenige der sogenannten Definitionen sind, enthalten. Der Ueberrest der Wissenschaft besteht in den Processen, welche ausgeführt werden, um unvorhergesehene Fälle innerhalb dieser Inductionen zu bringen, oder (in syllogistischer Sprache) um die für die Vervollständigung des Syllogismus nothwendigen unteren Prämissen zu beweisen, da die oberen Prämissen aus Definitionen und Axiomen bestehen. In diesen Definitionen und Axiomen ist das Ganze der Merkmale niedergelegt, durch deren kunstvolle Verbindung man es möglich fand, alles in der Geometrie Bewiesene zu entdecken und zu beweisen. Da dieser Merkmale nur so wenige sind, und da die Inductionen, welche sie liefern, uns so geläufig und klar sind: so bildet die Verbindung von mehreren derselben, woraus Deductionen oder Kettenschlüsse entstehen, die ganze Schwierigkeit der Wissenschaft, und mit geringer Ausnahme ihren ganzen Umfang, und daher ist die Geometrie eine Deductive Wissenschaft.


§. 5. Man wird hernach sehen, dass gewichtige wissenschaftliche Gründe vorhanden sind, um einer jeden Wissenschaft soviel als[261] möglich den Charakter einer Deductiven Wissenschaft zu geben; zu versuchen, die Wissenschaft aus den möglichst wenigen und einfachen Inductionen aufzubauen, und diese, wenn auch durch die verwickelsten Combinationen, hinreichend zu machen, um auch solche auf verwickelte Fälle bezüglichen Wahrheiten zu beweisen, welche, wenn wir es wollten, durch Inductionen aus der specifischen Erfahrung bewiesen werden könnten, Ein jeder Zweig der Physik war ursprünglich experimentell, eine jede Generalisation beruhte auf einer speciellen Induction, und war aus ihrer eigenen unterschiedenen Reihe von Beobachtungen abgeleitet. Da es, wie man sagt, rein experimentelle Wissenschaften, oder besser gesagt, da es Wissenschaften sind, in denen die Schlüsse meistens nur aus einer Stufe bestehen und durch einen einzigen Syllogismus ausgedrückt werden, so wurden alle diese Wissenschaften bis zu einem gewissen Grad, und einige sogar gänzlich zu Wissenschaften des reinen Schliessens, wodurch eine Menge von Wahrheiten, die bereits durch Induction aus eben so vielen verschiedenen Reihen von Experimenten erkannt waren, als Deductionen oder Corollarien aus inductiven Sätzen von einem einfacheren und allgemeineren Charakter dargestellt werden konnten. So wurden die Mechanik, die Hydrostatik, die Optik, die Akustik und die Wärmelehre allmälig mathematisch gemacht, und die Astronomie wurde durch Newton den Gesetzen der allgemeinen Mechanik unterworfen. Warum die Substitution dieses weitläufigen Verfahrens für einen anscheinend leichteren und natürlicheren Process mit Recht für den grössten Triumph der Naturforschung gehalten wird, können wir jetzt noch nicht untersuchen. Es ist aber nöthig zu bemerken, dass obgleich Wissenschaften durch diese allmälige Umwandlung mehr und mehr Deductiv zu werden streben, sie darum nicht weniger Inductiv sind; ein jeder Schritt in der Deduction ist immer noch eine Induction. Der Gegensatz besteht nicht zwischen den Ausdrücken Deductiv und Inductiv, sondern zwischen Deductiv und Experimentell. Eine Wissenschaft ist in dem Verhältniss experimentell, als ein jeder neue Fall, der irgend besondere Züge darbietet, einer neuen Reihe von Experimenten und Beobachtungen, einer neuen Induction bedarf. Sie ist Deductiv im Verhältniss, als sie bezüglich einer neuen Art Fälle durch ein Verfahren Schlüsse ziehen kann, welches diese Fälle unter alte Inductionen bringt, und zwar dadurch,[262] dass bestimmt wird, dass Fälle, bei denen man nicht direct beobachten kann, ob sie die erforderlichen Merkmale besitzen, nichtsdestoweniger Merkmale von diesen Merkmalen besitzen.

Wir können daher jetzt wahrnehmen, welches der generische Unterschied ist zwischen Wissenschaften, welche Deductiv gemacht werden können, und solchen, die vorläufig Experimentell bleiben müssen. Wenn wir durch unsere verschiedenen Inductionen nicht über Sätze hinausgekommen sind, wie diese: a ein Merkmal von b, oder a und b Merkmale von einander, c ein Merkmal von d, oder c und d Merkmale von einander, ohne den Zusammenhang von a und b mit c und d zu kennen: so haben wir eine Wissenschaft von gesonderten und gegenseitig unabhängigen Generalisationen, etwa wie diese, die Säuren röthen blaue Pflanzenstoffe und die Alkalien färben sie grün. Aus keinem dieser Sätze könnten wir den andern direct oder indirect folgern, und soweit eine Wissenschaft aus solchen Sätzen besteht, ist sie rein experimentell. Die Chemie hat in ihrem gegenwärtigen Zustand diesen Charakter noch nicht abgelegt. Es giebt aber andere Wissenschaften, in denen die Sätze folgender Art sind: a ein Merkmal von b, b ein Merkmal von c, c von d, d von e etc. In diesen Wissenschaften können wir die Leiter von a zu e durch ein syllogistisches Verfahren hinaufsteigen; wir können schliessen, dass a ein Merkmal von e ist, und ein jeder Gegenstand, der das Merkmal a hat, auch die Eigenschaft e besitzt, obgleich wir vielleicht niemals im Stande waren, a und e zusammen zu beobachten, und obgleich vielleicht sogar d, unser einziges directes Merkmal von e, in diesen Gegenständen nicht wahrzunehmen, sondern nur zu erschliessen ist. Oder wenn wir die erste Metapher verändern, man kann sagen, wir gelangten auf unterirdischem Wege von a zu e; die Merkmale b, c, d, welche den Weg anzeigen, müssen alle von den Gegenständen, in Betreff deren wir forschen, besessen werden, aber sie sind unter der Oberfläche; a ist das einzige sichtbare Merkmal, und durch es sind wir im Stande, alle übrigen successive aufzufinden.


§. 6. Wir können nun verstehen, wie sich eine experimentelle Wissenschaft durch den blossen Fortschritt des Experiments in eine Deductive verwandeln kann. Wie bereits bemerkt, sind die[263] Inductionen in einer experimentellen Wissenschaft gesondert, wie a ein Merkmal von b, c ein Merkmal von d, e von f u.s.w.; es kann nun eine neue Reihe von Fällen und eine darauf folgende Induction zu jeder Zeit den Zwischenraum zwischen diesen unzusammenhängenden Bogen überbrücken; es kann z.B. bestimmt werden, dass b ein Merkmal von c ist, was uns sofort in den Stand setzt, deductiv zu beweisen, dass a ein Merkmal von c ist. Oder es kann, wie dies zuweilen geschieht, eine umfassende Induction hoch in der Luft einen Bogen errichten, der eine ganze Anzahl auf einmal überbrückt, indem es sich zeigt, dass b, d, f und alle übrigen Merkmale von irgend einem Ding oder von Dingen sind, zwischen denen bereits ein Zusammenhang nachgewiesen ist. So entdeckte z.B. Newton, dass sowohl die regelmässigen als auch die anscheinend anomalen Bewegungen aller Körper des Sonnensystems (eine jede dieser Bewegungen war durch eine besondere logische Operation aus besonderen Merkmalen gefolgert worden) Merkmale einer Bewegung um einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt mit einer Centripedalkraft sind, welche in geradem Verhältniss der Massen und umgekehrt wie die Quadrate der Entfernungen von diesem Mittelpunkt variirt. Dies ist das grösste je vorgekommene Beispiel einer plötzlichen Umwandlung einer bis dahin bis zu einem hohen Grad bloss experimentellen Wissenschaft in eine deductive.

Umwandlungen derselben Art, wenn auch in einem kleineren Maassstabe, finden in den weniger ausgebildeten Zweigen des physikalischen Wissens fortwährend Statt, ohne dass sie deshalb den Charakter von experimentellen Wissenschaften abwerfen könnten. So wird in Beziehung auf die zwei angeführten, unzusammenhängenden Sätze, die Säuren röthen blaue Pflanzenstoffe, Alkalien färben sie grün, von Liebig bemerkt, dass alle durch Säuren gerötheten blauen Farbstoffe (so wie auch umgekehrt alle rothen Farbstoffe, welche durch Alkalien gebläut werden) Stickstoff enthalten, und es ist sehr möglich, dass dieser Umstand einst das verknüpfende Band zwischen den zwei fraglichen Sätzen abgeben wird, indem er zeigt, dass die antagonistische Wirkung von Säuren und Alkalien in der Erzeugung und Zerstörung der blauen Farbe das Resultat eines allgemeineren Naturgesetzes ist. Obgleich diese Verknüpfung getrennter Generalisationen ein Gewinn ist, so strebt[264] sie doch nur wenig, dem Ganzen einer Wissenschaft einen deductiven Charakter zu verleihen, weil die neuen Reihen von Beobachtungen und Experimenten, die uns einige allgemeinen Wahrheiten zu verknüpfen erlauben, uns gewöhnlich mit einer noch grösseren Anzahl von unzusammenhängenden neuen Reihen bekannt machen. Daher ist die Chemie, obgleich ähnliche Erweiterungen und Vereinfachungen ihrer Generalisationen fortwährend stattfinden, in der Hauptsache noch eine experimentelle Wissenschaft, und wird es wahrscheinlich bleiben, bis man zu einer umfassenden Induction gelangt, welche ähnlich der Newton's eine grosse Anzahl von bekannten kleineren Inductionen verknüpfen und die ganze Methode der Wissenschaft auf einmal verändern wird. Die Chemie ist bereits im Besitz einer grossen Generalisation, welche innerhalb ihrer beschränkten Sphäre diesen umfassenden Charakter besitzt, obgleich sie sich auf eine untergeordnete Seite der chemischen Erscheinungen bezieht; es ist dies der, die atomistische Theorie oder die Lehre von den chemischen Aequivalenten genannte Grundsatz von Dalton, der uns vor der Anstellung des Experiments bis zu einer gewissen Weite erlaubt, die Verhältnisse, in denen sich zwei Substanzen verbinden werden, vorauszusehen, und der so zu einer Quelle neuer, deductiv erreichbarer chemischer Wahrheiten, und zu einem verbindenden Princip für alle vorher durch das Experiment erhaltenen Wahrheiten von derselben Art wird.


§. 7. Die Entdeckungen, welche die experimentelle Methode einer Wissenschaft in eine Deductive verwandeln, bestehen meistentheils darin, dass entweder durch Deduction oder direct durch das Experiment festgestellt wird, dass die Varietäten eines besonderen Phänomens die Varietäten eines anderen besser bekannten Phänomens gleichförmig begleiten. So wurde die bis dahin auf der untersten Stufe der experimentellen Wissenschaften stehende Lehre vom Schall zu einer deductiven Wissenschaft, als durch das Experiment bewiesen wurde, dass eine jede Art Schall abhängig und daher ein Merkmal ist von einer bestimmten und bestimmbaren Art einer schwingenden Bewegung in den Theilchen des fortpflanzenden Mittels. Nachdem dies festgestellt war, so folgte, dass eine jede Beziehung der Succession oder Coexistenz, welche zwischen Erscheinungen der einen bekannteren Art bestand, auch[265] zwischen den ihnen entsprechenden Erscheinungen der andern Art bestand. Da ein jeder Ton ein Merkmal einer besondern schwingenden Bewegung war, so wurde er dadurch zum Merkmal von allem, was nach bekannten Gesetzen der Dynamik aus dieser Bewegung gefolgert werden konnte; und alles, was nach denselben Gesetzen ein Merkmal einer schwingenden Bewegung der Theilchen eines elastischen Mittels war, wurde ein Merkmal des entsprechenden Tons. Und so werden viele in Beziehung auf den Schall vorher nicht geahnte Wahrheiten aus den bekannten Gesetzen der Fortpflanzung der Bewegung in einem elastischen Mittel ableitbar, während bereits empirisch bekannte Thatsachen zu einer Indication von vorher nicht entdeckten entsprechenden Eigenschaften schwingender Körper werden.

Aber die Wissenschaft der Zahlen ist das grosse Agens, um eine experimentelle Wissenschaft in eine deductive zu verwandeln. Die Eigenschaften der Zahlen allein sind unter allen bekannten Phänomenen im strengsten Sinne Eigenschaften aller Dinge. Nicht alle Dinge sind farbig, schwer, oder besitzen Ausdehnung; aber alle Dinge sind zählbar, und wenn wir diese Wissenschaft in ihrer ganzen Ausdehnung betrachten, von der niedern Arithmetik an bis zur Variationsrechnung, so erscheinen die bereits festgestellten Wahrheiten nichts weniger als unendlich zu sein und lassen noch eine unbegrenzte Erweiterung zu.

Obgleich diese Wahrheiten von allen Dingen affirmirt werden können, so lassen sie sich doch nur in Beziehung auf deren Quantität auf sie anwenden. Wenn aber entdeckt wird, dass in einer Classe von Erscheinungen Veränderungen der Qualität regelmässig Veränderungen der Quantität entsprechen, sei es in denselben oder in anderen Erscheinungen: so wird eine jede mathematische Formel, welche auf in dieser besondern Weise variirende Quantitäten anwendbar ist, ein Merkmal einer entsprechenden allgemeinen Wahrheit in Betreff der sie begleitenden Veränderungen in der Qualität; und da die Wissenschaft der Quantität (soweit es eine Wissenschaft sein kann) gänzlich deductiv ist, so wird die Theorie dieser besondern Art von Qualitäten bis zu dieser Ausdehnung ebenfalls deductiv.

Das überraschendste Beispiel hiervon, welches die Geschichte darbietet (obgleich es kein Beispiel ist von einer experimentellen[266] Wissenschaft, welche in eine deductive verwandelt wurde, sondern von einer beispiellosen Ausdehnung eines deductiven Verfahrens in einer Wissenschaft, die bereits deductiv war) ist die von Descartes begonnene und von Clairaut vollendete Revolution in der Geometrie. Diese grossen Mathematiker wiesen auf die Wichtigkeit der Thatsache hin, dass einer jeden Art Lage von Punkten, Richtung von Linien, oder Form von Curven oder Flächen (welche alle Qualitäten sind) eine besondere Beziehung der Quantität zwischen zwei oder drei rechtwinkligen Coordinaten entspricht, so dass, wenn das Gesetz bekannt wäre, nach welchem diese Coordinaten beziehungsweise zu einander variiren, eine jede andere geometrische Eigenschaft der fraglichen Linie oder Fläche sowohl in Beziehung auf Quantität als Qualität daraus gefolgert werden könnte. Hieraus folgte, dass eine jede geometrische Frage gelöst werden konnte, wenn die entsprechende algebraische Frage zu lösen war, und die Geometrie erhielt einen (factischen oder potentiellen) Zuwachs von neuen Wahrheiten, die einer jeden Eigenschaft der Zahlen entsprachen, welche der Fortschritt des Calcüls aus Licht gefördert hat oder in Zukunft noch fördern kann. In derselben allgemeinen Weise wurde die Mechanik, die Astronomie, und in einem geringeren Grade ein jeder Zweig der gewöhnlich sogenannten Physik algebraisch gemacht. Man fand, dass die verschiedenen Arten von physikalischen Erscheinungen, womit es diese Wissenschaften zu thun haben, bestimmbaren Arten in der Quantität eines Umstandes, oder wenigstens verschiedenen Arten der Form oder Lage entsprechen, für die bereits entsprechende Gleichungen der Quantität gefunden waren oder von den Geometern entdeckt werden konnten.

Bei diesen verschiedenen Umwandlungen erfüllen die Urtheile der Wissenschaft der Zahlen die Function, welche allen, einen Kettenschluss bildenden Urtheilen zukommt, die nämlich, uns in den Stand zu setzen, durch eine indirecte Methode, durch Merkmale von Merkmalen zu Eigenschaften der Gegenstände zu gelangen, die wir nicht direct (oder nicht bequem) durch das Experiment bestimmen können. Wir wandern von einer gegebenen sichtbaren oder fühlbaren Thatsache durch die Wahrheiten der Zahlen zu der gesuchten Thatsache. Die gegebene Thatsache ist ein Merkmal, dass zwischen den Quantitäten einiger der betreffenden[267] Elemente eine Beziehung besteht, während die gesuchte Thatsache eine gewisse Beziehung zwischen den Quantitäten einiger anderer Elemente voraussetzt; wenn nun diese letzten Quantitäten in irgend einer bekannten Weise von den ersten abhängig sind, oder umgekehrt, so können wir aus der numerischen Beziehung zwischen der einen Reihe von Quantitäten auf die zwischen der andern Reihe bestehenden schliessen, indem die Lehrsätze des Calcüls die Zwischenglieder darbieten. Und so wird die eine der zwei physikalischen Thatsachen ein Merkmal der andern, indem sie ein Merkmal von dem Merkmal eines Merkmals derselben ist.[268]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 1, Braunschweig 31868, S. 251-269.
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