Drittes Capitel.

Eine Wissenschaft von der menschlichen Natur existirt, oder ist möglich.

[449] §. 1. Es ist eine gewöhnliche Ansicht, oder die Ansicht liegt wenigstens in vielen gewöhnlichen Sprechweisen, dass die Gedanken, die Gefühle und die Handlungen empfindender Wesen nicht in demselben strengen Sinne Gegenstand der Wissenschaft sind, wie die äusseren Gegenstände der Natur. Diese Ansicht scheint eine Ideenverwirrung einzuschliessen.

Alle Thatsachen, welche nach beständigen Gesetzen aus einander hervorgehen, sind an sich ein geeigneter Gegenstand der Wissenschaft; obgleich jene Gesetze vielleicht noch nicht entdeckt, oder mit unseren Hilfsmitteln gar nicht zu entdecken sind. Nehmen wir z.B. die bekannteste Classe von meteorologischen Erscheinungen, den Regen und den Sonnenschein. Der wissenschaftlichen Forschung ist es noch nicht gelungen, die Ordnung von Vorausgang und Folge so zu bestimmen, dass wir, wenigstens in unseren Gegenden, im Stande wären, sie mit Gewissheit oder auch nur mit grosser Wahrscheinlichkeit vorauszusagen. Dennoch zweifelt niemand, dass diese Erscheinungen von Gesetzen abhängen, und dass diese Gesetze deri vative, aus bekannten letzten Gesetzen, aus denen der Wärme, der Verdunstung und der elastischen Flüssigkeiten hervorgehende Gesetze sein müssen. Auch kann es nicht bezweifelt werden, dass, wenn wir mit allen diesen vorausgängigen Umständen bekannt wären, wir sogar aus diesen allgemeineren Gesetzen den Zustand des Wetters in einer gegebenen zukünftigen Zeit (vorbehaltlich der Rechnungsfehler) voraussagen könnten. Die Meteorologie besitzt daher nicht allein ein jedes natürliche Erforderniss eine Wissenschaft,[449] sondern sie ist wirklich eine Wissenschaft, obgleich wegen der schwierigen Beobachtung der Thatsachen, von denen die Erscheinungen abhängig sind (eine Schwierigkeit, die der eigenthümlichen Natur der Erscheinungen inhärirt), diese Wissenschaft sehr unvollkommen ist; auch würde sie, wenn sie vollkommen wäre, in der Praxis vielleicht wenig nützen, da die für die Anwendung ihrer Principien erforderlichen Data nur selten zu erhalten wären.

Zwischen der vollkommenen und dieser äusserst unvollkommenen Wissenschaft kann man sich einen Fall von einem intermediären Charakter denken. Es kann sich treffen, dass die grösseren Ursachen, diejenigen, von denen der Haupttheil der Erscheinungen abhängig ist, in dem Bereich der Beobachtung und des Messens liegen; so dass, wenn keine anderen Ursachen dazwischentreten, eine vollständige Erklärung nicht bloss der Erscheinung im allgemeinen, sondern auch aller Abweichungen und Modificationen, die sie zulässt, gegeben werden kann. Aber insofern als andere und vielleicht viele andere in ihren einzelnen Wirkungen unbedeutende Ursachen in vielen oder allen Fällen mit jenen grösseren Ursachen zusammenwirken oder ihnen entgegenwirken, weicht die Wirkung mehr oder weniger von dem ab, was sie sein würde, wenn die grösseren Ursachen allein gewirkt hätten. Wenn nun die kleineren Ursachen der genauen Beobachtung nicht so beständig oder gar nicht zugänglich sind, so kann die Hauptmasse der Wirkung noch, wie vorher, erklärt und sogar vorausgesagt werden; es werden sich aber Abweichungen und Modificationen zeigen, welche wir nicht durchgängig erklären können, und unsere Voraussagungen werden nicht genau, sondern nur annähernd erfüllt werden.

Dies ist z.B. der Fall mit der Theorie der Ebbe und Fluth. Niemand bezweifelt, dass dieselbe wirklich eine Wissenschaft ist. Soviel von der Erscheinung, als von der Anziehung der Sonne und des Mondes abhängt, verstehen wir vollständig, und können es sogar in Betreff eines ganz unbekannten Theils der Erdoberfläche mit Sicherheit voraussagen; der bei weitem grössere Theil des Phänomens hängt von diesen Ursachen ab. Aber Umstände von einer localen oder zufälligen Natur, wie die Gestalt des Meeresgrundes, die Beschaffenheit der Küsten, die Richtung des[450] Windes etc. haben an vielen oder allen Orten einen Einfluss auf die Höhe und die Zeit der Fluth; da aber ein Theil dieser Umstände entweder nicht genau zu kennen, nicht genau zu messen, oder wenigstens nichts, mit Gewissheit vorauszusehen ist, so weicht die Fluth an bekannten Orten von dem aus allgemeinen Principien berechneten Resultat um eine Differenz ab, die wir nicht erklären können; und an unbekannten Orten kann sie um eine Differenz abweichen, die wir nicht im Stande sind vorauszusehen oder auch nur zu vermuthen. Nichtsdestoweniger ist es aber gewiss, dass diese Abweichungen von Ursachen abhängen und nach Gesetzen unfehlbarer Gleichförmigkeit auf ihre Ursachen folgen; es ist daher, die Fluthlehre nicht allein eben so gut eine Wissenschaft, wie die Meteorologie, sondern sie ist auch, was die Meteorologie bis jetzt wenigstens nicht ist, eine praktische und nützliche Wissenschaft. Es können in Betreff der Fluth allgemeine Gesetze aufgestellt werden; auf diese Gesetze können Voraussagungen gegründet werden, und das Resultat wird in der Hauptsache, wenn auch oft nicht mit vollständiger Genauigkeit, den Voraussagungen entsprechen.

Dies ist es, was diejenigen meinen oder meinen sollten, welche von Wissenschaften sprechen, die keine exacten Wissenschaften sind: Die Astronomie war einst eine Wissenschaft, ohne eine exacte Wissenschaft zu sein. Erst nachdem der allgemeine Gang der Planetenbewegungen und deren Störungen erklärt und auf ihre Ursache zurückgeführt worden waren, konnte sie exact werden. Sie ist zu einer exacten Wissenschaft geworden, weil ihre Phänomene unter Gesetze gebracht wurden, die das Ganze der Ursachen umfassen, durch welche die Phänomene in hohem oder in niederem Grade, in allen oder nur in einigen Fällen influirt werden, und die einer jeden dieser Ursachen den ihr wirklich zukommenden Antheil an der Wirkung zuweisen. Die einzigen bis jetzt in der Theorie der Ebbe und Fluth genau bestimmten Gesetze sind aber die Gesetze der Ursachen, welche das Phänomen in allen Fällen und in einem beträchtlichen. Grade afficiren, während andere Ursachen, die es nur in einigen, oder, wenn in allen Fällen nur in einem geringen Grade afficiren, noch nicht hinreichend bestimmt sind, um uns zu erlauben, ihre Gesetze aufzustellen; noch weniger aber das vollständige Gesetz des Phänomens in der Art[451] abzuleiten, dass wir die Wirkungen der grösseren Ursachen mit denen der kleineren verbinden. Die Lehre von der Ebbe und Fluth ist daher noch keine exacte Wissenschaft; nicht wegen der inhärenten Unfähigkeit es zu sein, sondern der Schwierigkeit wegen, die wirklichen derivativen Gleichförmigkeiten mit völliger Genauigkeit zu bestimmen. Durch eine Combination der genauen Gesetze der grösseren Ursachen und der hinlänglich bekannten Gesetze der kleineren mit denjenigen empirischen Gesetzen oder denjenigen annähernden Generalisationen in Betreff der verschiedenen Abweichungen, welche durch specifische Beobachtung zu erhalten sind, können wir allgemeine Urtheile aufstellen, welche der Hauptsache nach wahr sind, und auf welche wir, wenn wir den Grad von wahrscheinlicher Ungenauigkeit in Anschlag bringen, unsere Erwartungen und unsere Praxis mit Sicherheit gründen können.

§. 2. Die Wissenschaft von der menschlichen Natur ist von dieser Art. Sie erreicht bei weitem nicht das Maass von Genauigkeit, wie die Astronomie, es ist aber kein Grund vorhanden, dass sie nicht eben so gut eine Wissenschaft sein sollte, wie die Fluthlehre, oder wie die Astronomie war, als ihre Rechnungen zwar die Haupterscheinungen, aber nicht die Perturbationen bemeistert hatten.

Da die Phänomene, womit sich diese Wissenschaft befasst, die Gedanken, die Gefühle und die Handlungen menschlicher Wesen sind, so würde sie die ideale Vollkommenheit einer Wissenschaft erreicht haben, wenn sie uns in den Stand setzte, mit derselben Gewissheit vorauszusagen, wie ein Individuum sein ganzes Leben hindurch denken, fühlen und handeln wird, womit die Astronomie uns erlaubt, die Orte und die Verfinsterungen der Himmelskörper vorauszusagen. Es ist kaum nöthig zu sagen, dass dies nicht einmal annäherungsweise geschehen kann. Die Handlungen von Individuen können nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit vorausgesagt werden, wäre es auch nur, weil wir das Ganze der Umstände, in welchen diese Individuen sich befinden werden, nicht vorhersehen können. Aber es kann auch sogar bei einer gegebenen Combination von (gegenwärtigen) Umständen keine zugleich präcise und allgemein wahre Behauptung bezüglich der Art, wie menschliche Wesen denken, fühlen oder handeln werden,[452] gemacht werden. Aber nicht darum, weil jedermanns Art zu denken, zu fühlen und zu handeln nicht von Ursachen abhängig ist; auch ist es gar nicht zweifelhaft, dass wenn unsere Data in Beziehung auf irgend ein Individuum vollständig sein könnten, wir sogar jetzt schon genug von den letzten Gesetzen, durch welche geistige Erscheinungen bestimmt werden, wissen, um in vielen Fällen mit ziemlicher Gewissheit voraussagen zu können, was in der grösseren Anzahl von voraussetzbaren Combinationen von Umständen seine Handlungsweise oder seine Denkungsart sein würde. Aber die Eindrücke und die Handlungen menschlicher Wesen sind nicht das Resultat ihrer gegenwärtigen Umstände allein, sondern sie sind das Gesammtresultat dieser Umstände und des Charakters der Individuen; und die Agentien, welche den menschlichen Charakter bestimmen, sind so zahlreich und verschieden (indem nichts, was einem das Leben hindurch begegnet, ohne Einfluss bleibt), dass sie im Durchschnitt niemals in zwei Fällen genau ähnlich sind. Wenn daher auch unsere Wissenschaft von der menschlichen Natur theoretisch vollkommen wäre, d.h. wenn wir aus gegebenen Daten einen Charakter berechnen könnten, wie wir die Bahn eines Planeten berechnen können, so könnten wir dennoch weder positive Voraussagungen machen, noch allgemeine Sätze aufstellen, da die Data niemals alle gegeben, noch in verschiedenen Fällen jemals genau gleich sind.

Insofern aber viele von diesen Wirkungen – welche der menschlichen Vorausgicht und Beherrschung zu unterwerfen von höchster Wichtigkeit ist – ähnlich der Fluth bei weitem mehr durch allgemeine Ursachen, als durch alle partiellen Ursachen zusammengenommen bestimmt werden, indem sie in der Hauptsache von den Umständen und Eigenschaften abhängen, welche allen Menschen oder wenigstens einem grossen Theile derselben gemein sind, und nur in einem geringen Grade von den Idiosyncrasien der Organisation oder der besonderen Geschichte des Individuums: so ist es mit Rücksicht auf alle diese Wirkungen offenbar möglich, Voraussagungen zu machen, die sich fast immer bewähren werden, und allgemeine Sätze (Urtheile) aufzustellen, welche fast immer wahr sein werden. Und wenn es genügt zu wissen, wie die grosse Mehrheit des Menschengeschlechts, oder einer Nation, oder einer Classe von Personen denken, fühlen und handeln wird, so[453] werden diese Sätze allgemeinen Sätzen äquivalent sein. Für die Zwecke der politischen und socialen Wissenschaft ist dies genügend. So wie wir früher bemerkten, ist eine annähernde Generalisation bei socialen Untersuchungen für die meisten praktischen Zwecke mit einer genauen Generalisation gleichbedeutend; eine Generalisation, welche nur wahrscheinlich ist, wenn sie von individuellen und ohne Unterschied gewählten menschlichen Wesen behauptet wird, ist gewiss, wenn sie von dem Charakter und der gesammten Handlungsweise von Massen behauptet wird.

Es ist daher keine Herabsetzung der Wissenschaft von der menschlichen Natur, wenn diejenigen ihrer allgemeinen Sätze, welche hinreichend ins Detail eingehen, um als eine Grundlage für die Voraussagung von Phänomenen im Concreten zu dienen, meistentheils nur annäherungsweise wahr sind. Um aber dem Studium einen acht wissenschaftlichen Charakter zu geben, ist es unbedingt nöthig, dass diese annähernden Generalisationen, welche an und für sich nur auf die niedrigste Art von empirischen Gesetzen hinaus laufen würden, deductiv mit den Naturgesetzen, aus denen sie hervorgehen, verbunden seien, dass sie in die Eigenschaften, von denen die Phänomene abhängen, aufgelöst seien.

Mit anderen Worten, man kann sagen, die Wissenschaft von der menschlichen Natur existire im Verhältniss als die approximativen Wahrheiten, welche eine praktische Kenntniss des Menschengeschlechts zusammensetzen, als Folgesätze der allgemeinen Gesetze der menschlichen Natur, auf denen sie beruhen, dargestellt werden können; wodurch die eigentlichen Grenzen dieser approximativen Wahrheiten gezeigt und wir in den Stand gesetzt würden, als eine Anticipation der specifischen Erfahrung andere Wahrheiten aus irgend einem neuen Zustande der Umstände abzuleiten.

Der eben angegebene Satz ist der Text, wovon die beiden folgenden Capitel den Commentar geben werden.[454]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 2, Braunschweig 31868, S. 449-455.
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