[Aus den Jahren 1868/69]

[148] Was ich fürchte, ist nicht die schreckliche Gestalt hinter meinem Stuhle, sondern ihre Stimme: auch nicht die Worte, sondern der schauderhaft unartikulierte und unmenschliche Ton jener Gestalt. Ja, wenn sie noch redete, wie Menschen reden!


Eine Kette von Ereignissen, von Bestrebungen, in denen man Zufälligkeiten des äußern Schicksals oder barocke Launenhaftigkeit[148] sucht, offenbart sich später als ein von der sicher tastenden Hand des Instinktes aufgespürter Weg.


Pforte. Der uniformierende Zwang in der Zeiteinteilung.

Reaktion in offenbarer Vernachlässigung bestimmter Gebiete in künstlerischen Studien.


Vielleicht würde mich die philologische Nüchternheit und Steifheit angewidert haben: aber als Bild einer universell belebten und sein philologisches Fach belebenden Persönlichkeit war mir Steinhart von Wert. Corssen als natürlicher Feind aller Spießbürgerei und doch in strammster wissenschaftlicher Tätigkeit.


Das Bild, das von einem Berufe in uns aufsteigt, ist gewöhnlich aus der Person der nächsten Lehrer abstrahiert.

Vor einiger vagen Zerflossenheit in den vielen Richtungen meiner Talente bewahrte mich ein gewisser philosophischer Ernst, der nie zufrieden war, als im Angesichte der nackten Wahrheit und nur Unerschrockenheit, ja Zuneigung zu harten und bösen Konsequenzen. Das Gefühl, in der Universalität nicht zum Grunde zu kommen, trieb mich in die Arme der strengen Wissenschaft.

Sodann die Sehnsucht, aus den raschen Gefühlswechseln künstlerischer Neigungen sich in den Hafen der Objektivität zu retten.

Man ist über sich selbst entweder mit Scham oder mit Eitelkeit ehrlich.


Es hat mir immer der Beachtung wert geschienen, auf welchen individuellen Wegen jemand heutzutage gerade zur klassischen Philologie kommt: denn damit glaube ich etwas Anerkanntes zu sagen, daß einige andre Wissenschaften in ihrer blühenden Jugendlichkeit und erstaunlichen Zeugungskraft ein größeres Recht auf die frische Kraft anstrebender Talente haben, als gerade unsre zwar noch rüstig einherschreitende aber doch hier und da die welken Züge des Alters verratende Philologie. Ich sehe ab von den Naturen, die ein gewöhnliches Brotinteresse auf diese Bahn wirft: und auch jene andern haben wenig Anziehendes an sich, die an der Hand philologischer Erzieher zu demselben Berufe widerstandslos abgerichtet werden. Viele treibt[149] ein eingebornes Lehrtalent: aber auch für diese ist die Wissenschaft nur ein wirksames Werkzeug, nicht das ernste und mit sehnsüchtigen Augen angeschaute Ziel ihrer Lebenswanderung. Eine kleine Gemeinde lebt, die mit künstlerischem Behagen an der griechischen Formenwelt sich ergötzt, eine noch kleinere, für die die Denker des Altertums noch nicht zu Ende gedacht sind und gedacht haben. Ich habe kein Recht mich zu einer dieser Klassen ausschließlich rechnen zu dürfen: denn der Weg, auf dem ich zur Philologie gekommen bin, liegt gleich weit ab von dem der praktischen Klugheit und des niedrigen Egoismus als von dem, auf welchem die begeisterte Liebe zum Altertum die Fackel voranträgt. Dies letzte auszusprechen ist nicht leicht, aber es ist ehrlich.

Vielleicht gehöre ich überhaupt nicht zu den spezifischen Philologen, denen die Natur mit ehernem Griffel auf die Stirn zeichnet: das ist ein Philolog, und die in vollster Ungebrochenheit, mit der Naivität eines Kindes den ihnen vorgezeichneten Weg gehn. An solchen philologischen Halbgöttern kommt man hier und da einmal vorüber und merkt dann, wie grundverschieden alles, was der Instinkt und die Gewalt der Natur schafft, von dem ist, das durch Bildung, Reflexion, vielleicht gar durch Resignation hervorgebracht wird.

Ich will nicht gerade sagen, daß ich zu diesen Resignationsphilologen ganz und völlig gehöre: aber wenn ich so zurücksehe, wie ich von der Kunst zur Philosophie, von der Philosophie zur Wissenschaft und hier wieder in ein immer engeres Bereich geraten bin: so sieht dies fast aus, wie eine bewußte Entsagung.

Ich sollte denken, daß ein Mensch mit vierundzwanzig Jahren das Wichtigste seines Lebens bereits hinter sich hat: mag er auch später erst zutage bringen, was sein Leben lebenswert macht. Ungefähr nämlich bis in diesen Zeitraum faßt die junge Seele aus allen Ereignissen und Erfahrungen, die sie im Leben als im Denken macht, noch das Typische heraus: und aus der Welt dieser Typen wird sie nie und nimmermehr herauskommen. Wenn später dieser idealisierende Blick des Auges erloschen ist: stehen wir im Banne jener Welt von Typen, die wir als das Vermächtnis unserer Jugend überkommen.

Eine andre Frage ist es, ob wir an der angegebnen Altersgrenze schon imstande sein werden,[150]

Mir nun, der ich jene angegebne Altersgrenze kaum überschritten habe, sei es erlaubt


Meine Erziehung ist in ihren Hauptteilen mir selbst überlassen worden. Mein Vater, ein protestantischer Landgeistlicher in Thüringen, starb allzufrüh: mir fehlte die strenge und überlegne Leitung eines männlichen Intellekts. Als ich im Knabenalter nach Schulpforta kam, lernte ich nur ein Surrogat der väterlichen Erziehung kennen, die uniformierende Disziplin einer geordneten Schule. Gerade aber dieser fast militärische Zwang, der, weil er auf die Masse wirken soll, das Individuelle kühl und oberflächlich behandelt, führte mich wieder auf mich selbst zurück. Ich rettete vor dem einförmigen Gesetz meine privaten Neigungen und Bestrebungen, ich lebte einen verborgnen Kultus bestimmter Künste, ich bemühte mich in einer überreizten Sucht nach universellem Wissen und Genießen die Starrheit einer gesetzlich bestimmten Zeitordnung und Zeitbenutzung zu brechen. Es fehlte an einigen äußern Zufälligkeiten; sonst hätte ich es damals gewagt, Musiker zu werden. Zur Musik nämlich fühlte ich schon seit meinem neunten Jahre den allerstärksten Zug; in jenem glücklichen Zustande, in dem man noch nicht die Grenzen seiner Begabung kennt und alles, was man liebt, auch für erreichbar hält, hatte ich unzählige Kompositionen niedergeschrieben und mir eine mehr als dilettantische Kenntnis der musikalischen Theorie erworben. Erst in der letzten Zeit meines Pförtner Lebens gab ich, in richtiger Selbsterkenntnis, alle künstlerischen Lebenspläne auf; in die so entstandene Lücke trat von jetzt ab die Philologie.

Ich verlangte nämlich nach einem Gegengewicht gegen die wechselvollen und unruhigen bisherigen Neigungen, nach einer Wissenschaft, die mit kühler Besonnenheit, mit logischer Kälte, mit gleichförmiger Arbeit gefördert werden könnte, ohne mit ihren Resultaten gleich ans Herz zu greifen. Dies alles aber glaubte ich damals in der Philologie zu finden. Die Vorbedingungen zu deren Studium werden einem Pförtner Schüler geradezu an die Hand gegeben. Es werden in dieser Anstalt mitunter spezifisch philologische Aufgaben gestellt, z.B. kritische Kommentare über bestimmte sophokleische oder äschyleische Chorgesänge. Sodann ist es ein besonderer Vorzug der Schulpforte,[151] der einem zukünftigen Philologen sehr zustatten kommt, daß unter den Schülern selbst eine angestrengte und mannigfache Lektüre griechischer und römischer Schriftsteller zum guten Ton gehört. Das Glücklichste aber war, daß ich auf ausgezeichnete philologische Lehrer traf, an deren Persönlichkeiten ich mein Urteil über ihre Wissenschaft bildete. Wenn ich damals gerade Lehrer gehabt hätte, von der Art, wie sie auf Gymnasien mitunter gefunden werden, engherzige froschblütige Mikrologen, die von der Wissenschaft nichts als den gelehrten Staub kennen: ich hätte den Gedanken weit weggeworfen, jemals einer Wissenschaft anzugehören, der solche Schächer dienen. So aber lebten vor meinen Augen Philologen, wie Steinhart, Keil, Corssen, Peter, Männer mit freiem Blick und frischem Zuge, die mir zum Teil auch ihre nähere Neigung schenkten. So kam es, daß ich schon in den letzten Jahren meines Pförtner Lebens mich selbständig mit zwei philologischen Arbeiten beschäftigte. In der einen wollte ich die Sagen vom Ostgotenkönig Ermanarich in ihren Verzweigungen nach den Quellen (Jordanes, Edda usw.) darstellen, in der andern eine spezielle Form der griechischen Tyrannis, die megarische zeichnen. Man pflegt in der Schulpforte bei dem Abgange irgendein schriftliches Denkmal zu hinterlassen: zu diesem Zwecke war jene zweite Arbeit bestimmt, die mir unter den Händen zu einem Charakterbilde des Megarensers Theognis wurde.

Als ich nach sechsjährigem Aufenthalte der Schulpforte als einer strengen, aber nützlichen Lehrmeisterin Lebewohl gesagt hatte, ging ich nach Bonn. Hier wurde ich mit Erstaunen gewahr, wie gut unterrichtet und doch wie schlecht erzogen so ein Fürstenschüler auf die Universität kommt. Er hat eine Menge für sich gedacht, und jetzt fehlt ihm die Geschicklichkeit, diese Gedanken zu äußern. Er hat noch nichts von dem bildenden Einflusse der Frauen erfahren; aus Büchern und Überlieferungen glaubt er das Leben zu kennen, und doch kommt ihm jetzt alles so fremdartig und unangenehm vor. So erging es mir in Bonn: nicht alle die Mittel, nach denen ich griff, um jene Übelstände zu beseitigen, mochten gut gewählt sein, und Verdrießlichkeiten, unbequemer Umgang, übernommene Verpflichtungen usw. machten[152]

Ich, der Sohn eines protestantischen Landgeistlichen, wurde am 15. Oktober 1844 in dem Dorfe Röcken, unweit Merseburg, geboren und verlebte hier die ersten vier Jahre meines Lebens. Als aber der unzeitige Tod meines Vaters eine neue Heimat zu suchen nötigte, war es Naumburg, auf das die Wahl meiner Mutter fiel. Hier bin ich in einem Privatinstitute für das Domgymnasium desselben Ortes vorgebildet worden, doch ohne diesem später dauernd anzugehören. Es bot sich nämlich bald eine Gelegenheit, in der benachbarten Schulpforte Aufnahme zu finden. Die Vorbedingungen zu einem Studium der Philologie werden einem Pförtner Schüler geradezu an die Hand gegeben. Es werden in dieser Anstalt mitunter spezifisch philologische Aufgaben gestellt, z. B. kritische Kommentare über bestimmte sophokleische oder äschyleische Chorgesänge. Dann ist es ein besonderer Vorzug der Schulpforte, daß unter den Schülern selbst eine angestrengte und mannigfache Lektüre griechischer und römischer Schriftsteller zum guten Ton gehört. Das Glücklichste aber war, daß ich gerade auf ausgezeichnete philologische Lehrer traf, auf Männer wie Steinhart, Corssen, Koberstein, Keil, Peter, die mir zum Teil auch ihre nähere Neigung schenkten:

Als ich nach einem sechsjährigen Aufenthalte der Schulpforte als einer strengen aber nützlichen Lehrmeisterin dankbar Lebewohl gesagt hatte, ging ich nach Bonn. Hier richteten sich meine Studien eine Zeitlang auf die philologische Seite der Evangelienkritik und der neutestamentlichen Quellenforschung. Außer diesen theologischen Streifzügen war ich Zuhörer in den philologischen und archäologischen Seminarien. Aus der Ferne verehrte ich die Persönlichkeit Friedrich Ritschls. So fand ich es ganz natürlich, zu gleicher Zeit mit ihm Bonn zu verlassen und mir Leipzig als neue akademische Heimat zu wählen.

Hier fühlte ich mich sehr wohl; vor allem fand ich eine Anzahl gleichstrebender Kameraden, mit denen ich mich bald zu einem philologischen Vereine verband. In ihm habe ich fünf größere Vorträge gehalten, deren Titel aufzuzählen hier am Ort sein wird. »Die letzte Redaktion der Theognidea«, »Die Quellen des Suidas«, »Die aristotelischen Schriftenverzeichnisse«, »Die Gleichzeitigkeit Homers und Hesiods«, »Der Zyniker Menipp und die Varronischen Satiren«. Auf[153] die Veranlassung Ritschls sind sodann im Rheinischen Museum folgende Aufsätze gedruckt worden: »Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung«, »Das Danaelied des Simonides«, »de Laertii Diogenis fontibus«. Im Jahre 1866 machte ich mich daran, eine von der philosophischen Fakultät gestellte Preisaufgabe zu lösen. Die Nachricht, daß ich dies mit Glück getan habe, bekam ich in Naumburg. Ich hatte mich nämlich im Sommer 1867 exmatrikulieren lassen, weil ich inzwischen als brauchbar zum soldatischen Dienste befunden worden war. Als reitender Artillerist hatte ich vollauf zu arbeiten und zu lernen; doch geriet ich infolge eines unglücklichen Sturzes in eine gefährliche Krankheit, die in ihrem Verlaufe wiederum das Angenehme mit sich brachte, daß ich zeitiger zu meinem Studium zurückkehren konnte, als es die militärische Regel erlaubt haben würde. Im Oktober 1868 verließ ich Naumburg als völlig Genesener, um in Leipzig meine Promotion und Habilitation vorzubereiten. Es war nämlich meine Absicht, beide Akte gleichzeitig zu bewerkstelligen; nach den bestehenden akademischen Gesetzen war mir aber die Habilitation nicht vor Ostern 1869 erlaubt. –


Friedrich Wilhelm Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 148-154.
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