235.
An Georg Brandes

[1291] Turin, den 4. Mai 1888


Verehrter Herr, was Sie mir erzählen, macht mir großes Vergnügen und mehr noch, daß ich's gestehe – Überraschung. Seien Sie überzeugt davon, daß ich's Ihnen »nachtrage«: Sie wissen, alle Einsiedler sind »nachträgerisch«? ...

Inzwischen wird, wie ich hoffe, meine Photographie bei Ihnen angelangt sein. Es versteht sich von selbst, daß ich Schritte tat, nicht gerade um mich zu photographieren (denn ich bin gegen Zufalls-Photographien äußerst mißtrauisch), sondern um jemandem, der eine Photographie von mir hat, dieselbe zu entfremden. Vielleicht ist mir's gelungen; denn noch weiß ich es nicht. Im andern Fall will ich meine erste Reise nach München (diesen Herbst wahrscheinlich) benutzen, um mich wieder zu versinnbildlichen.

Der »Hymnus auf das Leben« wird dieser Tage seine Reise nach Kopenhagen antreten. Wir Philosophen sind für nichts dankbarer, als wenn man uns mit den Künstlern verwechselt. Man versichert mich übrigens von seiten der ersten Sachverständigen, daß der Hymnus durchaus aufführbar, singbar, und in Hinsicht auf Wirkung sicher sei (– rein im Satz: dies Lob hat mir am meisten Freude gemacht). Der vortreffliche Hofkapellmeister Mottl von Karlsruhe (Sie wissen, der Dirigent der Bayreuther Festaufführungen) hat mir eine Aufführung in Aussicht gestellt. –

Aus Italien meldet man mir eben, daß die Gesichtspunkte meiner zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« in einem Berichte über deutsche Geschichtsliteratur sehr zu Ehren gebracht seien, den ein Wiener Gelehrter, Dr. von Zackauer, im Auftrage des Florenzer Archivio Storico gemacht hat. Der Bericht läuft in dieselben aus. –[1291] Diese Wochen in Turin, wo ich noch bis zum 5. Juni bleibe, sind mir besser geraten als irgendwelche Wochen seit Jahren, vor allem philosophischer. Ich habe fast jeden Tag ein, zwei Stunden jene Energie erreicht, um meine Gesamt-Konzeption von oben nach unten sehn zu können: wo die ungeheure Vielheit von Problemen, wie im Relief und klar in den Linien, unter mir ausgebreitet lag. Dazu gehört ein Maximum von Kraft, auf welches ich kaum mehr bei mir gehofft hatte. Es hängt alles zusammen, es war schon seit Jahren alles im rechten Gange, man baut seine Philosophie wie ein Biber, man ist notwendig und weiß es nicht: aber das alles muß man sehn, wie ich's jetzt gesehen habe, um es zu glauben. –

Ich bin so erleichtert, so erstarkt, so guter Laune – ich hänge den ernstesten Dingen einen kleinen Schwanz von Posse an. Woran hängt das alles? Sind es nicht die guten Nordwinde, denen ich das verdanke, diese Nordwinde, die nicht immer aus den Alpen kommen? – sie kommen mitunter auch aus Kopenhagen! ....

Es grüßt Sie dankbar ergeben

Ihr Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1291-1292.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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