246.
An Hans von Bülow

[1309] Sils-Maria, Engadin,

den 10. August 1888


Verehrter Herr, inzwischen nahm ich mir die Freiheit, einem Freunde zur Übersendung der Anfangs-Nummer einer Oper Mut zu machen. Vielleicht, dachte ich mir, wirkt sie »appetitmachend«. Die Oper heißt »Der Löwe von Venedig«. Ich sähe diesen Löwen mit dem größten Vergnügen in der Menagerie Pollini ...

Diese Oper ist ein Vogel der seltensten Art. Man macht jetzt so etwas nicht mehr. Alle Eigenschaften im Vordergrunde, die heute, skandalös, aber tatsächlich, der Musik abhanden kommen. Schönheit, Süden, Heiterkeit, die vollkommen gute, selbst mutwillige Laune des allerbesten Geschmacks – die Fähigkeit, aus dem Ganzen zu gestalten, fertig zu werden und nicht zu fragmentarisieren (vorsichtiger Euphemismus für »wagnerisieren«).

Mein Freund, Herr Peter Gast, ist eine der tiefsten und reichsten Naturen, die der Zufall in diese verarmende Zeit hineingeworfen hat.[1309] Mein »Schüler«, ich bekenne es, im engsten Sinne, aus meiner Philosophie gewachsen, wie niemand sonst. 32 Jahre, bis jetzt in vollkommener Unabhängigkeit, gebürtig aus dem sächsischen Erzgebirge (einer erstaunlich tüchtigen Familie zugehörig, die seit Jahrhunderten die Kultur der ersten Stadt des Erzgebirges in der Hand gehabt hat). Strengste musikalische Erziehung, bevorzugter Schüler des alten Richter in Leipzig, eine Periode überwundener Wagnerei hinterdrein. Seitdem Isolation in Venedig, in wunderbarer Einfalt der Verhältnisse, ohne »Öffentlichkeit«, ohne »Cant«, »Würden« und andere Eitelkeiten. – Seine Mutter Wienerin. –

Der Text der Oper ist einfach das matrimonio segreto, von meinem Freunde übersetzt. Dasselbe galt im vorigen Jahrhundert als Musterlibretto; der erste Entwurf ist von Garrik. Einer Andeutung Stendhals folgend haben wir das Werk ins Venezianische übersetzt, das heißt, es nicht nur dort spielen lassen, vielmehr versucht, Venedig in dies Werk zu übersetzen ... Mein Freund, der seit 6 Jahren daselbst in einer geheimnisvollen und glücklichen Verborgenheit lebt, hat, wie mir wenigstens scheint, einen Zauber an Venedigs Farbe der morbidezza für die Musik erfunden, hinzuzurechnen viele reizend-derbe Realitäten des südlichen Lazzaronismus. Wirkungsvollster vierter Akt mit einem Gondoliere-Chor am Schluß, couleur locale ersten Ranges. Es existiert ein ausgezeichnet lesbar und schön geschriebener Klavier-Auszug, das kalligraphische Meisterstück meines Freundes, gleich der Partitur selbst. – Die Ouvertüre ist in Zürich zum ersten Male (in der Tonhalle) aufgeführt worden. Kein Mensch schreibt eine solche Ouvertüre mehr – aus ganzem Holze ...

Jetzt, wo Wagner von St. Petersburg bis Montevideo die Theater beherrscht, gehört ein Bülowscher Mut dazu, gute Musik zu riskieren ...

Mit dem Ausdruck alter Verehrung

Prof. Dr. Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1309-1310.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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