§ 45. Natur und Geschichte.

[545] Der Dualismus der kantischen Weltanschauung spiegelt sich in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts durch die eigentümliche Spannung des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Keiner früheren Zeit ist dieser Gegensatz, der auch die großen Systeme des Idealismus beherrschte, in sachlicher und methodischer Bedeutung so geläufig gewesen wie der unsrigen, und diesem Umstande sind eine Anzahl neuer verheißungsvoller Verschiebungen entsprungen. Nimmt man dabei aus dem Bereiche der Geisteswissenschaft das, wie gezeigt wurde, streitige Gebiet der Psychologie fort, so bleibt der »Natur« gegenüber, noch mehr dem kantischen Gedanken entsprechend, das gesellschaftliche Leben und seine historische Entwicklung in ihrer ganzen Ausdehnung nach allen Richtungen übrig. Das annexionskräftige Vordringen des naturwissenschaftlichen Denkens fand nun, dem Wesen der Sache nach, an den sozialen Erscheinungen ebenso wie an den psychologischen leicht die Punkte, wo es die Hebel seiner Betrachtungsweise ansetzen konnte, so daß auch auf diesem Gebiete ein ähnliches Ringen wie wegen der Seele notwendig wurde; und so hat sich jener Gegensatz auf den von Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft zugespitzt.

1. Die erste Form, worin der Kampf zwischen naturwissenschaftlicher und historischer Weltanschauung ausgefochten worden ist, war die erfolgreiche Bestreitung der Revolutionsphilosophie durch den französischen Traditionalismus. Nachdem St. Martin und de Maistre die Revolution als das Strafgericht Gottes über die ungläubige Menschheit dargestellt hatten, ging deBonald dazu über, den gesellschaftlichen Theorien des 18. Jahrhunderts, welche auch er für die Greuel der Terreur verantwortlich machte, die Theorie der klerikal-legitimistischen Restauration entgegenzuhalten. Ungeschult im begrifflichen Denken, dilettantisch namentlich in seiner Vorliebe für Etymologisieren, wirkte er durch die Wärme seiner Darstellung und durch die Wucht des Prinzips, das er vertrat. Das ist, lehrt er, der Fehler der Aufklärung, daß sie gemeint hat, die Vernunft könne von sich aus die Wahrheit finden und die Gesellschaft einrichten, daß sie in das Belieben der Individuen die Gestaltung ihres Zusammenlebens legen wollte. In Wahrheit aber ist alles geistige Beben des Menschen ein Produkt der geschichtlichen Tradition. Denn es wurzelt in der Sprache. Die Sprache aber ist (und gerade hier wird der Condillacismus am kräftigsten bekämpft) dem Menschen von Gott als erste Offenbarung gegeben worden; das göttliche »Wort« ist der Quell aller Wahrheit. Das menschliche Wissen ist immer nur ein Teilhaben an dieser Wahrheit, es erwächst aus dem Gewissen, worin wir uns das allgemein Geltende zu eigen machen. Der Träger aber der Tradition des göttlichen Worts ist die Kirche: ihre Lehre ist die von Gott gegebene Universalvernunft, durch die Jahrhunderte fortgepflanzt als der große Baum, an welchem alle echten Früchte menschlicher Erkenntnis reifen. Und nur diese Offenbarung kann deshalb auch[545] die Grundlage der Gesellschaft sein. Der Uebermut der Individuen, die sich dagegen empörten, hat seine Sühne gefunden in der Auflösung der Gesellschaft, die es nun auf dem ewigen Boden neu zu errichten gilt: das war auch der Gedanke, welcher die dunklen und wunderlichen Phantasien von Ballanche lose zusammenhielt.

2. Das philosophische Moment dieser kirchenpolitischen Theorie bestand darin, daß als der geistige Lebensgrund der Individuen die in der historischen Entwicklung der Gesellschaft sich verwirklichende Gattungsvernunft erkannt wurde: zog man die theologischen Anschauungen von diesem Traditionalismus ab, so befand man sich dicht bei Hegels Begriff vom objektiven Geiste. Daher war es äußerst humorvoll, daß Victor Cousin, als er die deutsche Philosophie gerade nach dieser Seite hin sich zu eigen machte, den Ultramontanen gewissermaßen den Rahm von der Milch fortschöpfte. Auch der Eklektizismus lehrte eine Universalvernunft, und er war nicht abgeneigt, darin etwas dem schottischen Common-sense Aehnliches zu sehen, dem er aber doch die metaphysische Basis nach Schelling und Hegel nicht versagte. Als daher Lamenneis, der anfänglich Traditionalist gewesen war und dann durch die Schule der deutschen Philosophie ging, in der »Esquisse d'une philosophie« die Ideenlehre behandelte, konnte er jene Theorie des Gewissens der Sache nach völlig beibehalten.

Eine ganz andere Form nahm die Lehre vom objektiven Geist da an, wo sie rein psychologisch und empirisch aufgefaßt wurde. Im geistigen Leben des Individuums spielen sich zahlreiche Vorgänge ab, die lediglich darauf beruhen, daß der einzelne überhaupt nie anders denn als Glied eines psychischen Zusammenhanges existiert. Dieses Uebergreifende aber, in welches jeder hineinwächst und vermöge dessen er ist, was er ist, erweist sich nicht von der naturgesetzlichen Gleichmäßigkeit wie die allgemeinen Formen des seelischen Geschehens: es ist vielmehr stets von historischer Bestimmtheit, und der Gesamtgeist, der dem Individualleben zu Grunde liegt, prägt sich objektiv in der Sprache, in den Sitten, in den öffentlichen Einrichtungen aus Durch deren Studium muß die Individualpsychologie zu einer Sozialpsychologie erweitert werden. Dies Prinzip haben Lazarus und Steinthal aufgestellt, und den eminent historischen Charakter, den die Ausführung davon haben muß, deuteten sie durch den übrigens wenig glücklichen Namen der Völkerpsychologie an. Wo dagegen dieser historische Charakter abgestreift wurde, versuchte man auch die Sozialpsychologie, wie die gesamte Soziologie, zu einer Naturwissenschaft zu machen, welche die bleibenden Gesetzmäßigkeiten auch des seelischen Volkslebens zu ihrem Gegenstande haben soll: diese Tendenz ist namentlich in der neueren französischen Literatur durch Männer wie Tarde u. a. stark vertreten1072 In ganz anderer Richtung hat in Deutschland G. Simmel die Soziologie als eine philosophische Theorie der Formen des gesellschaftlichen Daseins mit dem Problem der Kulturwerte in fruchtbaren Zusammenhang gebracht1073

3. Den sozialen Grundgedanken des Traditionalismus muß man berücksichtigen, um die religiöse Färbung zu verstehen, die im Gegensatz zu den[546] sozial-politischen Theorien des 18. Jahrhunderts für den französischen Sozialismus seit St. Simon charakteristisch ist. Des letzteren Lehre steht aber nicht nur unter dem Druck der zu neuer sozialer und politischer Macht erstarkenden Religiosität, sondern auch in lebhaften Beziehungen zur deutschen Philosophie und sogar zu ihrer Dialektik. Alles dies ist auf seinen Schüler Auguste Comte übergegangen, dessen Gedankenentwicklung einem höchst eigentümlichen Schicksal unterlegen ist.

Seine Absicht geht auf nicht mehr und nicht weniger als auf eine totale Reform der menschlichen Gesellschaft. Auch für ihn gilt es als ausgemacht, daß die Aufklärung mit der Revolution, deren Ursache sie war, Bankerott gemacht hat. Wie die Traditionalisten macht er dafür die Selbständigkeit der Individuen, die freie Forschung und autonome Lebensführung verantwortlich; daraus folge die Anarchie der Meinungen und daraus die Anarchie der öffentlichen Zustände. Das Heil der Gesellschaft ist nur in der Herrschaft des Wissens zu suchen. In festeren Linien soll jene Unterordnung aller Lebenstätigkeiten unter ein allgemein gültiges Prinzip wiedergefunden werden, welche in dem großartigen, aber verfrühten System des katholischen Mittelalters annähernd erreicht war: nur soll an die Stelle der Theologie die positive Wissenschaft treten, die ebensowenig Glaubensfreiheit duldet wie damals die Theologie. Dies romantische Moment hat Comtes Lehre durchgängig bestimmt: es zeigt sich nicht nur in seiner Geschichtsphilosophie durch die begeisterte Schilderung des mittelalterlichen Gesellschaftssystems, nicht nur in seinem Entwurf der »Menschheitsreligion« und ihres Kultus, sondern vor allem auch darin, daß er für die neue Gesellschaftsordnung ein Nebeneinanderbestehen der geistigen und der weltlichen Macht fordert. Dabei soll die Neugestaltung von der Schöpfung des pouvoir spirituel ausgehen, wozu Comte phantastische Versuche mit der Gründung des »abendländischen Komitees« machte. Wie er sich selbst als dessen Vorsteher dachte, so traute er auch sich die Begründung der neuen Lehre zu. Die positive Philosophie aber, auf der sich die neue Gesellschaftsordnung aufbauen soll, ist nichts anderes als das geordnete System der positiven Wissenschaften selbst.

Comtes Entwurf dieses positivistischen Systems der Wissenschaften treibt nun zunächst die Auffassung Humes und Condillacs auf die äußerste Spitze: nicht nur die menschliche Erkenntnis ist auf die Verhältnisse der Phänomene untereinander angewiesen, sondern es gibt überhaupt nicht etwas Absolutes, das diesen etwa unerkannt zu Grunde läge. Das einzige absolute Prinzip ist, daß alles relativ ist. Es hat keinen vernünftigen Sinn, von ersten Ursachen oder letzten Zwecken der Dinge zu reden. Allein dieser Relativismus (oder wie man später gesagt hat Korrelativismus) verfällt nun sogleich dem universalistischen Anspruche des mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens, wenn der Wissenschaft die Aufgabe zugesprochen wird, alle jene Relationen unter dem Gesichtspunkte aufzufassen, daß neben den einzelnen Tatsachen deren sich wiederholende räumliche und zeitliche Ordnung als »allgemeine Tatsachen«, aber eben auch nur solche, festgestellt werden. So will der Positivismus durch die »Gesetze« – das ist der übliche Name für die allgemeinen Tatsachen – nicht die besonderen Tatsachen erklären, sondern nur jene Wiederholungen feststellen: allerdings soll sich daraus doch (was[547] freilich unter diesen Voraussetzungen unbegreiflich und ungerechtfertigt ist) die Voraussicht des Zukünftigen als der praktische Ertrag der Wissenschaft ergeben – savoir pour prévoir. Diese Auffassung Comtes hat nicht nur bei Philosophen wie C. Göring, der sie besonders für die Kausalitätstheorie sich zu eigen machte, sondern zum Teil auch bei den Naturforschern, insbesondere bei Vertretern der Mechanik, wie Kirchhoff und Mach, Zustimmung gefunden: man möchte den Begriff des Wirkens aus der wissenschaftlichen Naturauffassung ausschalten und kommt mit der bloßen »Beschreibung« oder der Aufsuchung des adäquatesten »Bildes« zur Elimination der »Kraft«, wie es H. Hertz in den »Prinzipien der Mechanik« durchgeführt hat. Aehnliche Gedanken hat mit der Verallgemeinerung einer abstrakten Dialektik R. Avenarius zu den unsäglich mühseligen Terminologien seines »Empiriokritizismus« ausgesponnen, der alle philosophischen Weltbegriffe als unnötige Variationen eines ursprünglichen, schließlich wieder zu restituierenden Weltbegriffs der »reinen Erfahrung« nachzuweisen sucht.

4. Die Phänomene aber, lehrt Comte, sowohl die einzelnen wie die allgemeinen, sind teils einfach, teils mehr oder minder verwickelt. Dem Verständnis der letzteren muß das der ersteren vorhergehen. Deshalb ordnet er die Wissenschaften (sciences) in einer »Hierarchie« an, die vom Einfachen Schritt für Schritt zum Verwickelten fortschreitet: auf die Mathematik folgt die Astronomie, dann die Physik, weiter die Chemie, die Biologie, der auch die Psychologie eingeordnet wird, und endlich die »Soziologie«. Dies Verhältnis ist jedoch grundsätzlich nicht so aufzufassen, als ob jede folgende Disziplin aus der vorhergehenden oder den vorhergehenden abgeleitet werden sollte: sie setzt vielmehr diese nur in dem Sinne voraus, daß ihre verwickelteren Tatsachen die elementaren in sich enthalten, zu diesen aber die völlig neuen Tatsachen ihrer eigenartigen Kombination hinzufügen. So setzt z.B. die Biologie physikalische und chemische Vorgänge voraus, aber die Tatsache des Lebens ist etwas völlig Neues und daraus nicht Ableitbares, das nun eben durch die biologische Beobachtung festgestellt werden soll. Ebenso steht es mit dem Verhältnis der Soziologie zu den fünf ihr vorhergehenden Disziplinen. Schon die soziale Statik verzichtet mit charakteristischer Ausdrücklichkeit darauf, die Sozialität aus dem Individuum abzuleiten, wie es etwa in der Aufklärungsphilosophie geschah. Die Geselligkeit ist ursprüngliche Tatsache, und das erste soziale Phänomen ist die Familie. Noch selbständiger dagegen ist die soziale Dynamik, die mit Verzicht auf psychologische Erklärung sich die Aufgabe stellt, das Naturgesetz der Geschichte der Gesellschaft zu entdecken. Comte findet dies in dem Prinzip der drei Stadien, welche die Gesellschaft zu durchlaufen habe (ein Aperçu, das bei d'Alembert und Turgot wie bei Hegel und Cousin Vorbilder hat). Intellektuell geht der Mensch aus der theologischen Phase durch die metaphysische in die positive über. In der ersten erklärt er sich die Erscheinungen durch anthropomorphistisch gedachte übernatürliche Kräfte, in der zweiten durch allgemeine Begriffe, welche er sich als das hinter den Erscheinungen wirkende Wesen konstruiert; im positiven Stadium erfaßt er das Einzelne im Zusammenhange der tatsächlich nachweisbaren Bedingungen, denen es nach einem experimentell zu erhärtenden Gesetze folgt. Diesem allgemeinen Zuge des geistigen Lebens sollen alle einzelnen Prozesse,[548] worin es sich spaltet, ebenso unterworfen sein wie die Gesamtbewegung der menschlichen Geschichte, und dabei soll der intellektuelle Prozeß von einem korrespondierenden Entwicklungsgang der äußeren gesellschaftlichen Organisation begleitet sein, die aus dem priesterlich-kriegerischen Zustande über die Herrschaft der Beamten (légistes) zu dem »industriellen« Stadium hinüberführt. Die sehr umständliche, an einzelnen Punkten interessante, aber im ganzen völlig willkürliche, vielfach durch Unkenntnis und Vorurteil entstellte Geschichtsphilosophie, die Comte hier ausführt, ist lediglich als eine Konstruktion für seinen reformatorischen Zweck zu beurteilen. Der Sieg der positiven Weltanschauung und damit zugleich der industriellen Lebensordnung ist das Ziel der historischen Entwicklung der europäischen Völker, an dem sich »der große Gedanke, die positive Philosophie, mit der großen Macht, dem Proletariat, vermählen« wird. Allein als sollte sich das Gesetz vom Kreislauf der drei Phasen zuerst an seinem Urheber bestätigen, so fiel Comte in der letzten (»subjektiven«) Periode seines Denkens in das theologische Stadium zurück, indem er die Menschheit als Grand-être zum Gegenstand einer religiösen Verehrung machte, als deren Hohepriester er den ganzen Apparat des Heiligendienstes in positivistischer Umbildung nachahmte. An diesen wunderlichen Phantasien kommt für die Geschichte der Philosophie höchstens das Motiv in Betracht, das Comte auf seine spätere Bahn geführt hat: er hat es am besten in dem »Discours sur l'ensemble du positivisme« (abgedruckt im ersten Bande der »Politique positive«) zur Darstellung gebracht. Es zeigt seine Abwendung von dem ausgesprochenen Intellektualismus, mit dem er früher überzeugt gewesen war, daß die positive Wissenschaft als solche genügen würde, die Reform der Gesellschaft herbeizuführen Jetzt hat er eingesehen, daß die positive Philosophie zwar lehren kann, wie die neue Ordnung der Dinge aussehen soll, daß aber deren Herbeiführung nur von dem »affektiven Prinzip«, – dem Gefühl zu erwarten ist. Während er daher früher gelehrt hatte, daß das spezifisch Menschliche, wie es sich im historischen Fortgang entwickle, in der Uebermacht der Intelligenz über die Affekte zu suchen sei, so erwartet er jetzt von dem Ueberwiegen des Herzens über den Verstand die Erfüllung seiner Hoffnungen, die er als l'amour pour principe, l'ordre pour base, le progrès pour but formuliert. Da nun Gall nach – gewiesen habe, daß jenes Ueberwiegen eine Grundeigenschaft des weiblichen Gehirns sei, so gründete Comte darauf seinen Kult der Frau, den er zu einem wesentlichen Bestandteile der Menschheitsreligion machen wollte. Er, der mit der stolzen Anforderung eines positivistischen Papsttums begonnen hatte, endete mit dem Appell an das Proletariat und die Frauenemanzipation.

5. Es hängt mit den praktischen, d.h. politischen Zwecken, die Comte verfolgte, zusammen, daß ihm auch in der Geschichte die Gesetze, die allgemeinen Tatsachen wichtiger erschienen als die besonderen: nach jenen sollte ja auch hier eine das Handeln leitende prévoyance stattfinden. Abgesehen davon aber war Comte, trotz der mathematisch-naturwissenschaftlichen Einseitigkeit seiner sachlichen Bildung doch weitschauenden Geistes genug, um die Eigenart der verschiedenen Disziplinen zu verstehen und zu wahren, und wie er schon der Biologie eigene Methoden zu sichern suchte, so nahm er für seine Soziologie ausdrücklich die »historische Methode« in Anspruch. Auf dem biologischen[549] Gebiete ist die Reihenfolge der Erscheinungen einer Tierrasse nur eine äußerliche Evolution, welche den bleibenden Charakter dieser Rasse nicht ändert und nicht angeht (daher Comte auch durchaus Gegner der Deszendenzlehre Lamarcks war): in der Soziologie aber handelt es sich um eine durch die Entwicklung bedingte Umwandlung des menschlichen Geschlechts, welche durch den Wechsel der Generationen und die dadurch ermöglichte dauernde Kumulation bestimmter Lebensvorgänge herbeigeführt werde. Freilich soll dann die »historische Methode« auch wieder wesentlich auf die allgemeinen Tatsachen Rehen und so »die Beobachtung durch die Theorie geleitet« werden, so daß eben aus der Geschichtsforschung nur eine geschichtsphilosophische Konstruktion wird. So war es vielleicht nicht mehr ganz in Comtes Sinn, aber doch eine Folgerung aus seiner Lehre, daß sich hie und da das Bestreben geltend machte, »die Geschichte zu einer Naturwissenschaft zu erheben«, worauf namentlich John Stuart Mill in seiner Methodologie hinwies. Hatte doch auch Schopenhauer der Historik den Charakter einer Wissenschaft abgesprochen, weil sie nur Besonderes, nichts Allgemeines lehre. Diesem Mangel schien nun dadurch abgeholfen zu werden, daß man über die Beschreibung einzelner Ereignisse hinaus zu »allgemeinen Tatsachen« vorzudringen suchte. So geschah es am eindrucksvollsten von Comtes englischem Schüler Thomas Buckle, der in seiner History of civilization in England (1857) der Geschichtswissenschaft die Aufgabe dahin stellen wollte, daß sie nur Naturgesetze des Völkerlebens zu suchen habe. Dafür aber bieten nach Buckle jene leisen Wandlungen des gesellschaftlichen Zustandes, die sich in den Zahlen der statistischen Forschung aussprechen, sehr viel brauchbareres und exakteres Material als die Erzählung einzelner Ereignisse, auf welche sich die alte chronikhafte Geschichtsschreibung beschränkt. Hier enthüllt sich der eigentliche Sinn des Gegensatzes: auf der einen Seite das Massenleben mit seinen gesetzmäßigen Veränderungen, – auf der andern der selbständige Wert der einmaligen, in sich bestimmten Gestalt. In dieser Hinsicht ist das Wesen der historischen Weltauffassung von niemand so tief ergriffen und so eindringlich und warm dargestellt worden wie von Carlyle, der sich selbst aus der Aufklärungsphilosophie an der Hand des deutschen Idealismus, besonders Fichtes, herausgearbeitet hatte und unermüdlich für die Anerkennung der vorbildlichen und schöpferischen Persönlichkeiten der Geschichte, für das Verständnis und die Verehrung der »Heroen« eintrat.

In diesen beiden Extremen zeigen sich von neuem die großen Gegensätze der Weltansicht, die schon in der Renaissance walteten, aber noch nicht zu so klarer methodischer Ausprägung gelangt waren. Ein historisches und ein naturwissenschaftliches Jahrhundert war damals in dem Sinne zu unterscheiden, daß aus dem Kampfe der Traditionen die neue Naturforschung als das wertvollste Ergebnis hervorging (vgl. Kap. IV). Aus dem Siege des naturwissenschaftlichen Denkens ergaben sich dann die großen metaphysischen Systeme und als deren Konsequenz die unhistorische Denkart der Aufklärung; und ihr stellte die deutsche Philosophie ihre historische Weltanschauung gegenüber. Es ist zu beachten, daß diesem Gegensatze auf dem psychologischen Gebiet fast durchgängig der des Intellektualismus und des Voluntarismus entspricht. Deshalb steht es nicht im Einklang mit der Entwicklung der Psychologie des[550] 19. Jahrhunderts, wenn sich in dessen letzten Jahrzehnten die sog. naturwissenschaftliche Methode in die Geschichte hineinzudrängen gesucht hat. Freilich sind es nicht die großen Historiker, die dieser Irrung verfallen, wohl aber hie und da solche, die entweder selbst den Schlagworten des Tages gegenüber zu schwach sind oder sich ihrer zur Wirkung auf die Masse bedienen. Besonders unerfreulich ist bei dieser sog. naturwissenschaftlichen Behandlung der geschichtlichen Gebilde oder Vorgänge der Mißbrauch von Vergleichen und Analogien: als ob es eine Einsicht wäre, wenn man die Gesellschaft einen Organismus nennt, oder wenn man die Wirkungen der Völker aufeinander als Endosmosen und Exosmosen bezeichnet.

Der Einbruch des naturwissenschaftlichen Denkens in die Historik hat sich jedoch nicht auf dieses methodische Postulat nach »Gesetzen« des geschichtlichen Verlaufs beschränkt, sondern hat auch sachliche Bedeutung gewonnen. Zu der Zeit, als Feuerbachs aus der Hegelschen Dialektik entarteter Materialismus (vgl. oben § 44, 6) noch in Blüte stand, schufen Marx und Engels die materialistische Geschichtsphilosophie des Sozialismus, in der sich Motive aus Hegel und aus Comte eigenartig kreuzen. Den Sinn der Geschichte finden auch sie in den »Prozessen des gesellschaftlichen Lebens«. Dies Gesamtleben aber ist wesentlich wirtschaftlicher Natur: das Bestimmende in allen gesellschaftlichen Zuständen sind die ökonomischen Verhältnisse, sie bilden die letzten Motive für alle Tätigkeiten. Ihr Wechsel und ihre Entwicklung bedingen deshalb allein das staatliche Leben und die Politik, aber ebenso auch die Wissenschaft und die Religion. So sind alle die verschiedenen Kulturtätigkeiten nur Auszweigungen des ökonomischen Lebens, und alle Geschichte sollte deshalb Wirtschaftsgeschichte sein.

6. Wenn somit die Geschichte ihre Autonomie gegen die Verwischung der Grenzlinien der Wissenschaften zu verteidigen hat, so ist umgekehrt in der Naturforschung des 19. Jahrhunderts ein eminent historisches Moment, das entwicklungsgeschichtliche, zu einer herrschenden Stellung gelangt. In der Tat finden wir die heutige Naturwissenschaft in ihren allgemeinen Theorien wie in ihren besonderen Untersuchungen durch zwei große Prinzipien bestimmt, die scheinbar im Gegensatze zueinander stehen, in Wahrheit aber sich gegenseitig ergänzen: das Prinzip der Erhaltung der Energie1074 und das der Entwicklung.

Das erstere ist die für die jetzige physikalische Theorie als allein brauchbar erkannte Form, die das Kausalitätsaxiom durch Rob. Mayer, Joule und Helmholtz gefunden hat. Das erkenntnistheoretische Postulat, daß es nichts Neues in der Natur gebe, sondern jede folgende Erscheinung nur eine Umformung der vorhergehenden sei, war von Descartes als das Gesetz von der Erhaltung der Bewegung (vgl. oben § 31, 6), von Leibniz als das Gesetz von der Erhaltung der Kraft (§ 31, 10), von Kant als dasjenige von der Erhaltung der Substanz (§ 38, 7) formuliert worden. Die Entdeckung des mechanischen Aequivalents der Wärme und die begriffliche Unterscheidung von kinetischer und potentieller Energie gestattete die Formulierung, daß die Summe der Kraft in der Natur quantitativ unveränderlich und nur qualitativ veränderlich[551] ist, daß aber in jedem in sich abgeschlossenen materiellen System die jeweilige räumliche Verteilung und Richtung der kinetischen und der potentiellen Energie durch den vorhergehenden Zustand eindeutig bestimmt ist. Es ist nicht zu verkennen, daß damit der Ausschloß anderer als materieller Kräfte aus der Naturerklärung noch schärfer vollzogen ist als bei Descartes: anderseits aber mehren sich schon jetzt die Anzeichen, daß damit eine Rückkehr zu der dynamischen Auffassung der Materie eingeleitet ist, wie diese begrifflich bei Leibniz, Kant und Schelling gefordert wurde (vgl. oben § 38, 7).

7. Auch das Prinzip der Evolution war im modernen Denken vielfach vorbereitet. In philosophischer Form war es von Leibniz und Schelling begrifflich und zeitlos (wie bei Aristoteles, vgl. § 13) entworfen worden (s. oben § 31, 11 und 42, 3), und unter Schellings Schülern war es Oken, der im Bereiche des organischen Lebens die aufsteigende Reihe der Klassen und Arten auch als zeitlichen Prozeß zu betrachten anfing. Er wagte mit den Hilfsmitteln der vergleichenden Morphologie, zu der auch Goethes Studien beigetragen hatten, jenes »Abenteuer« des »Archäologen der Natur«, von dem Kant gesprochen hatte (vgl. oben § 40, 6): alle Organismen sind verschiedengestalteter »Urschleim«, und die höheren sind aus den niederen durch immer mannigfaltigere Anhäufung von Urschleimbläschen hervorgegangen. Zu gleicher Zeit (1809) gab Lamarck in seiner »Philosophie zoologique« die erste systematische Darstellung der Deszendenztheorie: er erklärte die Verwandtschaft der Organismen durch die Abstammung aus einer gemeinsamen Urform und ihre Verschiedenheit durch den Einfluß der Umgebung und die dadurch hervorgerufene Gewöhnung an den stärkeren oder geringeren Gebrauch der einzelnen Glieder. Durch das wechselnde Verhältnis von Vererbung und Anpassung sollten die stabil werdenden Veränderungen der Arten erklärt werden. Diesen Erklärungsmomenten fügte nun Charles Darwin das entscheidende hinzu: die natürliche Zuchtwahl. In dem »Kampf ums Dasein«, den die Organismen wegen des durchgängigen Mißverhältnisses zwischen ihrer Vermehrung und dem Maße der verfügbaren Nahrungsmittel zu bestehen haben, überleben diejenigen, deren Variation in Bezug darauf günstig, d.h. zweckmäßig ist. Die Voraussetzung der Theorie ist also neben dem Prinzip der Vererbung dasjenige der Variabilität: dazu kam die durch die gleichzeitigen geologischen Forschungen ermöglichte Annahme sehr großer Zeiträume für die Kumulation der unendlich kleinen Abweichungen.

Diese biologische Hypothese gewann nun sogleich dadurch allgemeinere Bedeutung, daß sie eine rein mechanische Erklärung der Zweckmäßigkeiten versprach, die das Problem des organischen Lebens ausmachen, und man glaubte damit die Notwendigkeit des Fortschritts der Natur zu immer »höheren« Bildungen verstanden zu haben. Man hatte das »Zweckmäßige« im Sinne des Lebensfähigen, d.h. desjenigen, was sich selbst zu erhalten und fortzupflanzen vermag, mechanisch erklärt, und man glaubte nun die gleiche Erklärung auf alles andere anwenden zu können, was auch in andern Beziehungen, insbesondere nach normativer Hinsicht »zweckmäßig« erscheint. So wurde die Selektionstheorie, nach Darwins eigenen Anregungen, sehr bald von vielen Seiten auf Psychologie, Ethik, Soziologie und Geschichte angewendet und von eifrigen Anhängern als die allein wissenschaftliche Methode gepriesen. Wenige[552] waren sich darüber klar, daß damit die Natur unter eine Kategorie der Geschichte gestellt wurde, und daß diese Kategorie zu einer solchen Anwendung doch eine wesentliche Veränderung erfahren hatte. Denn der naturwissenschaftliche Evolutionismus mit Einschluß der Selektionstheorie kann zwar die Veränderung, aber nicht den Fortschritt erklären: er kann nicht begründen, daß das Ergebnis der Entwicklung eine »höhere«, d.h. eine wertvollere Form ist.

8. In allgemeinster Ausdehnung ist das Prinzip der Entwicklung schon vor Darwin von seinem Landsmann Herbert Spencer proklamiert und zum Grundbegriffe seines Systems der synthetischen Philosophie gemacht worden, in welchem viele Fäden der englischen Philosophie zusammengezogen werden. Er geht vom Agnostizismus (vgl. oben § 44, 4) insofern aus, als er das Absolute, das Unbedingte, das einheitliche Sein, das er auch gern die Kraft nennt, für unerkennbar erklärt. Religion und Philosophie haben vergebens daran gearbeitet, dies für uns Unbestimmbare in bestimmten Vorstellungen aufzufassen. Die menschliche Erkenntnis ist auf eine Interpretation der Phänomene, d.h. der Manifestationen des Unerkennbaren beschränkt, und die Philosophie hat nur die Aufgabe, durch allgemeinste Generalisation die Ergebnisse der besonderen Wissenschaften zu einer möglichst einfachen und geschlossenen Totalität zusammenzuarbeiten.

Den Grundunterschied der Phänomene bestimmt Spencer – mit einer wenig glücklichen Anlehnung an Hume, vgl. oben § 33, 4 – als denjenigen der »starken« und der »schwachen« Kundgebungen des Unerkennbaren, d.h. der Impressionen und der Ideen: und damit leitet sich, obwohl Spencer mit Recht den Vorwurf des Materialismus ablehnt, doch eine solche Wendung seiner Weltanschauung ein, welche das überwiegende Interesse auf den Charakter der physischen Phänomene richtet. Denn wenn er als die aus allen besonderen Wissenschaften sich ergebende Grundform der Erscheinung des Absoluten eben die Entwicklung gefunden haben will, so versteht er darunter – einer Anregung des Naturforschers v. Baer folgend – die Tendenz aller natürlichen Gebilde, aus dem Homogenen ins Heterogene überzugehen. Diese lebendige Variation, in der sich die ewig tätige Kraft darstellt, besteht nun in zwei Vorgängen, die erst miteinander die Evolution ausmachen und die Spencer als, Differentiation und Integration bezeichnet. Einerseits nämlich geht das Einfache vermöge der Vielheit der Wirkungen, die jeder Ursache zukommen, in eine Mannigfaltigkeit auseinander; es differenziert und individualisiert sich, es gliedert und bestimmt sich vermöge der Fülle von Beziehungen in die es eintritt: anderseits schließen sich die so gesonderten Einzelerscheinungen wieder zu festen Verbänden und funktionellen Systemen zusammen, und durch die Integrationen entstehen dann neue Einheiten, die höher, reicher und feiner gegliedert sind als die ursprünglichen. So ist der tierische Organismus eine höhere Einheit als die Zelle, so ist die Gesellschaft ein höheres »Individuum« als der einzelne Mensch.

Dies Schema wird nun von Spencer auf die Gesamtheit des materiellen wie des geistigen Geschehens angewendet, und mit rastloser Arbeit hat er es an den Tatsachen aller einzelnen Wissenschaften zu erhärten gesucht. Physik und Chemie erwiesen sich dafür freilich spröde: sie stehen unter dem Prinzip[553] der Erhaltung der Energie. Aber schon die astrophysische Theorie zeigt die Differentiation des ursprünglichen Gasballes in den Sonnenkern und die peripherischen Gebilde der Planeten mit ihren Trabanten, sowie die entsprechende Integration in dem gegliederten und geordneten System der Gesamtbewegung aller dieser Körper. Zur vollen Entfaltung aber gelangt das System natürlich in der Biologie und Soziologie. Das Leben betrachtet Spencer im allgemeinen als eine fortschreitende Anpassung der inneren an äußere Beziehungen. Daraus erklärt sich das individualisierende Wachstum des einzelnen Organismus und aus dieser notwendigen Variation nach der Methode der Selektionstheorie die Abänderung der Arten.

Auch das gesellschaftliche Leben ist in seinem ganzen historischen Verlauf nichts anderes als die fortschreitende Anpassung des Menschen an seine natürliche und lebendige Umgebung: die Vervollkommnung, welche die Gattung dabei gewinnt, beruht auf dem Aussterben der unpassenden und auf dem Ueberleben der passenden Funktionen. Von dieser Lehre her will Spencer auch den alten Streit des Rationalismus und des Empirismus entscheiden, und zwar ebenso auf logischem wie auf ethischem Gebiet. Der Associationspsychologie gegenüber erkennt er an, daß es für das Individuum unmittelbar evidente Grundsätze und in dem Sinne eingeborne Wahrheiten gibt, daß sie nicht durch die Erfahrung des Individuums begründet sein können. Aber die Stärke, mit der diese Urteile auftreten, so daß das Bewußtsein sich in der Unmöglichkeit findet sie zu negieren, beruht darauf, daß sie von der Gattung erworbene intellektuelle und emotionelle Gewohnheiten sind, die sich als zweckmäßig bewährt und erhalten haben. Das Apriori ist überall ein Entwicklungsprodukt der Vererbung. So überlebt insbesondere für die Moral an selbstverständlichen Gefühls- und Willensweisen alles, was die Selbsterhaltung und Entwicklung des Individuums, der Gesellschaft und der Gattung zu fördern geeignet ist.1075

Jede besondere Entwicklung endlich erreicht ihr natürliches Ende, wenn eine Gleichgewichtslage gewonnen ist, in der überall die inneren Beziehungen den äußeren vollständig angepaßt sind, so daß die Fähigkeit weiterer Gliederung[554] und Variation erschöpft ist. Ein solches System kann daher nur durch äußere Einwirkung gestört und zerstört werden, so daß seine einzelnen Teile in neue Evolutionsprozesse einzutreten vermögen. Dagegen sträubt sich Spencer gegen die Annahme der Möglichkeit, daß jemals das ganze Universum mit allen den besonderen Systemen, die es enthält, in eine vollkommene und damit dauernde Gleichgewichtslage gelangen könne: wenn er damit den Naturforschern widerspricht, die im Prinzip eine derartige Verteilung der Energien, wonach alle Veränderungen ausgeschlossen wären, für möglich erachten, so stammt dies in letzter Instanz doch daher, daß Spencer das Unerkennbare als die ewig sich manifestierende Kraft und die Entwicklung selbst als das allgemeinste Gesetz ihrer Manifestationen betrachtet.

9. Alles in allem genommen, ist Spencers Ausführung des Prinzips der Entwicklung durchweg kosmologischen Charakters, und darin zeigt sie eben die durch die Prävalenz der Naturforschung im 19. Jahrhundert bedingte Veränderung dieses beherrschenden Prinzips selbst: man überschaut diesen Vorgang am besten, wenn man Hegel und Spencer vergleicht. Bei jenem ist die Entwicklung das Wesen des sich selbst offenbar werdenden Geistes, bei diesem das Gesetz des Wechsels für die Erscheinungen einer unerkennbaren Kraft. Um in Hegels Sprache zu reden (vgl. oben S. 514), das Subjekt ist wieder zur Substanz geworden. In der Tat ähnelt das »Unerkennbare« Spencers am meisten der »Indifferenz des Realen und des Idealen«, die Schelling als das Absolute bezeichnete. Achtet man auf diese Analogie, so ist zu erwarten, daß die kosmologische Form des Entwicklungsprinzips nicht die abschließende sein wird, sondern daß das historische Denken, als die eigentliche Heimat dieses Prinzips, auch seine philosophische Durchführung auf die Dauer bestimmen wird. In England selbst (und noch mehr in Amerika) ist seit dem eindrucksvollen Buche von Hutchinson Stirling und seit Wallaces vortrefflicher Einführung der Hegelschen Logik eine entschiedene Wendung zu Hegel zu bemerken: auch in Deutschland beginnen sich von Jahr zu Jahr sichtlich die Vorurteile zu zerstreuen, die einer gerechten Würdigung Hegels bisher im Wege standen, und mit Abstreifung der uns fremd gewordenen Terminologie wird schließlich dieses größte System der Entuicklung seine historische Wirkung von Neuem entfalten.1076

Die gleiche Tendenz, die historische Form des Entwicklungsgedankens zurückzugewinnen, finden wir in den logischen und erkenntnistheoretischen Bestrebungen, welche auf das abzielen, was Dilthey mit glücklichem Ausdruck als Kritik der historischen Vernunft verlangt hat. Es gilt die Einseitigkeit zu durchbrechen, welche der Logik seit ihren griechischen Ursprüngen in der Richtung anhaftet, daß als Ziel und Norm ihrer Gesetzmäßigkeit formell das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen (vgl. oben § 12) und sachlich die Erkenntnis der Natur gilt. Unter diesen Voraussetzungen standen nicht nur die extremen Richtungen der mathematisierenden Logik (vgl. oben § 44. 4), sondern auch die bedeutenden Werke von J. Stuart Mill und Stanley Jevons, die wesentlich als logische Theorie der Naturforschung[555] zu charakterisieren sind. Demgegenüber zeigen die Bearbeitungen der logischen Wissenschaft von Lotze und Sigwart, bei dem letzteren besonders in der zweiten Auflage, ein sehr viel universelleres Gepräge, und im Zusammenhange mit der Bewegung des historischen Idealismus, der sich sachlich an die Fichtesche Weltanschauung anlehnt (vgl. oben § 44, 6), bahnt sich ein tieferes Verständnis der logischen Formen der Historik an, wie es sich in Rickerts Untersuchungen über die »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung« (1896-1902) ankündigt.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 545-556.
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