II. Die orthodoxen und heterodoxen Heilslehren

der indischen Intellektuellen.

[134] Antiorgiastischer und ritualistischer Charakter der brahmanischen Religiosität – Vergleich mit den hellenischen und konfuzianischen Intellektuellenschichten S. 134. – Das Dharma und das Fehlen des Naturrechtsproblems S. 141. – Wissen, Askese und Mystik in Indien S. 146. – Der Sramana und die brahmanische Askese S. 157. – Das brahmanische Schrifttum und die Wissenschaft in Indien S. 162. – Die Heilstechnik (Yoga) und die Entwicklung der Religionsphilosophie S. 167. – Die orthodoxen Erlösungslehren S. 170. – Die Heilslehre und die Berufsethik des Bhagavadgita S. 189. – Die heterodoxe Soteriologie des vornehmen Berufsmönchtums: 1. Der Jainismus S. 202. – 2. Der alte Buddhismus S. 217.


Für den Charakter der offiziellen indischen Religiosität war entscheidend, daß ihr Träger, der brahmanische Priesteradel, eine vornehme Bildungsschicht, später geradezu eine Schicht vornehmer Literaten, war. Dies hatte vor allem jene Folge, welche in solchen Fällen immer – z.B. auch beim Konfuzianismus – eintrat: daß die orgiastischen und emotionell-ekstatischen Elemente der alten magischen Riten nicht übernommen wurden und für längere Zeiträume entweder ganz verkümmerten oder als geduldete unoffizielle Volksmagie fortlebten. Reste der alten Orgiastik fanden sich im Veda wie namentlich v. Schröder176 nachgewiesen hat, in Einzelzügen. Trunkenheit und Tanz Indras und der Schwerttanz der Maruts (Korybanten) entstammen dem Heldenrausch und der Heldenekstase. Auch der große priesterliche Kultakt: das Soma-Opfer, war ursprünglich offenbar eine kultisch temperierte Rausch-Orgie, die vielbesprochenen Dialoglieder des Rigveda vermutlich verblaßte Reste kultischer Dramen177. Aber das offizielle Ritual der Veden und alle ihre Lieder und Formeln ruhen auf Opfer- und Gebet, und nicht auf den typischen orgiastischen Mitteln: Tanz, sexuellem oder alkoholischem Rausch, Fleisch-Orgie, welche alle vielmehr sorgsam ausgeschieden und abgelehnt blieben. Rituelle Begattung auf dem Acker als Mittel Fruchtbarkeit zu schaffen, und der Phallos-(Lingam-)Kult mit seinen phallischen[134] Kobolden, den Gandharven, sind in Indien wie sonst uralt. Aber der Rigveda schweigt davon. Er kennt auch das dem kultischen Drama eigene leibhaftige Auftreten der Götter und Dämonen nicht, – zweifellos weil es schon den alten vornehmen priesterlichen Sängern der altvedischen Zeit178, erst recht aber der brahmanischen Erb-Priesterschaft teils als vulgär, teils aber auch als bedenkliche Konkurrenz gegenüber ihrer eigenen auf Ritualkenntnis ruhenden Zaubermacht erschien. Der alte Frucht-barkeitsgott Rudra mit seinem sexual- und fleisch-orgiastischen Kult, später als Çiva einer der drei großen Hindugötter, einerseits Patron des späteren klassischen Sanskrit-Dramas, andererseits durch den universell verbreiteten Lingam-Kult verehrt, ist im Veda diabolischen Charakters. Vischnu, sein Nebenbuhler in der späteren Trias und ebenfalls ein durch Pantomimen verehrter großer Himmels- und Fruchtbarkeitsgott, Patron der Tanz-Dramen und erotischen Orgien des Krischna-Kultes, ist in den Veden eine Nebenfigur. Den Laien ist beim Opfer der »Kelch entzogen«: nur der Priester trinkt Soma. Aber auch das Fleisch: nur der Priester ißt Opferfleisch. Die im alten wie im modernen asiatischen Volksglauben so überaus wichtigen, weiblichen Gottheiten: – Fruchtbarkeitsdämonen mit meist sexual-orgiastischem Kult –, schieben die Veden ganz in den Hintergrund. Im Atharva-Veda: – in seiner literarischen Fixierung wesentlich jünger, dem Material nach aber wohl ebenso alt wie die anderen Veden, – tritt allerdings an Stelle des kultischen wieder der magische Charakter der Sprüche und Lieder hervor. Dies hängt zusammen teils mit der Provenienz des Materials: aus dem Kreise der privaten magischen »Seelsorge«, und nicht, wie in den anderen Veden, des für den politischen Verband dargebrachten Opfers. Teils aber auch: mit der steigenden Bedeutung des Zaubers überhaupt, seit die alte Wehrgemeinde durch die Fürsten macht und damit auch der alte Opferpriesteradel durch den fürstlichen Hofzauberer, den purohita, in den Hintergrund gedrängt war179. Der Atharvaveda ist im einzelnen nicht ganz[135] so spröde gegenüber den Figuren des Volksglaubens (z.B. den Gandharven) wie etwa der Rigveda. Allein auch bei ihm ist nicht Orgiastik und Ekstase, sondern die rituelle Formel das spezifische magische Mittel. Im Yajurveda ist der priesterliche Zauber das absolut beherrschende Element der Religiosität geworden. Die brahmanische Literatur schritt auf diesem Wege der formalistischen Ritualisierung des Lebens immer weiter fort: Neben den Brahmanenstand, wie in China neben dem staatlichen Amtskult, der Hausvater (grihastha) als Träger wichtiger ritueller Pflichten, welche die Grihya-Sutras eingehend reglementierten und die Dharmasutras (Rechtsbücher) zogen dann die gesamten sozialen Beziehungen des Einzelnen in ihren Bereich. Das ganze Leben wurde so umsponnen von einem Netz ritueller und zeremonieller Vorschriften, deren wirklich erschöpfend korrekte Ausführung zuweilen an die Grenzen des überhaupt Möglichen streifte.

Im Gegensatz zu den Intellektuellen der althellenischen Polis-Kultur, mit denen sie in Vergleich gestellt werden müssen180, waren eben die Brahmanen (und die von ihnen beeinflußte Intellektuellenschicht) an Magie und Ritual kraft ihrer Stellung gebunden. Den alten hellenischen gentilcharismatischen Priesteradel (etwa der Butaden) hatte die militärische Stadtentwicklung alles realen Einflusses entkleidet und er galt nicht als Träger irgendwelcher geistigen Werte (sondern, namentlich die »Eteobutaden«, als Typus junkerlicher Dummheit). Die Brahmanen haben den Zusammenhang mit Opfer und Magie im Dienst der[136] Fürsten stets bewahrt. In all diesen Hinsichten glich die innere Lage und daher auch das Verhalten und die Richtung des Einflusses der Brahmanen denjenigen der Träger der konfuzianischen Kultur. Beide Male war es ein vornehmer Literatenstand, dessen magisches Charisma auf »Wissen« ruhte. Und zwar auf einem Wissen zeremonieller und ritualistischer Art, niedergelegt in einer heiligen Literatur, die verfaßt war in einer den Alltagssprachen fernstehenden heiligen Sprache. Bildungsstolz und die felsenfeste Ueberzeugung, daß ausschließlich und allein jenes Wissen als Cardinaltugend alles Heil, Unwissenheit als das eigentliche Laster jegliches Unheil bedinge, folgten daraus in beiden Fällen in gleichem Maße. Und ebenso »Rationalismus« im Sinne der Ablehnung aller irrationalen Formen der Heilssuche. Die Ablehnung der Orgiastik in allen ihren Arten war bei Brahmanen und Mandarinen die gleiche. Und wie den konfuzianischen Literaten die taoistischen Magier, so galten den Brahmanen alle nicht durch die Schule der vedischen Bildung gegangenen Magier, Kultpriester und Heilsucher als unklassisch, verächtlich und im Grunde der Ausrottung wert, – die freilich in beiden Fällen nicht wirklich durchführbar war. Denn wenn es auch den Brahmanen gelang, die Entwicklung einer einheitlichen organisierten unklassischen Priesterschaft hintanzuhalten, so doch, wie wir bald sehen werden, um den Preis des Entstehens zahlreicher Mystagogen-Hierarchien teils ganz außerhalb, teils aber auch von innerhalb ihrer eigenen Schicht, und damit eines Zerfalls der Einheitlichkeit der Heilslehre in Sekten-Soteriologien. Dies und eine Reihe damit zusammenhängender andrer wichtiger Unterschiede gegenüber der Chinesischen Entwicklung hängt aber mit der Verschiedenheit der sozialen Grundstruktur beider Intellektuellenstände zusammen. Beide haben Entwicklungsstadien durchgemacht, die zeitweise erhebliche Aehnlichkeiten aufweisen. Im Endstadium erscheint der Gegensatz äußerlich am schärfsten: dort, bei den Mandarinen, eine Beamten- und Amtsanwärterschicht, hier, bei den Brahmanen, ein Literatenstand von teils fürstlichen Kaplänen, teils konsultierenden, respondierenden und lehrenden Theologen und Juristen, Priestern und Seelenhirten. In beiden Fällen befand sich freilich nur ein Bruchteil des Standes in jenen eigentlich typischen Stellungen. Wie zahlreiche chinesische Literaten ohne Amtspfründe teils in den Büros der Mandarinen, teils als Angestellte von Verbänden aller Art[137] ihr Brot fanden, so fanden Brahmanen seit jeher in den verschiedensten Stellungen, darunter auch hohen weltlichen fürstlichen Vertrauensstellungen Verwendung. Aber wir sahen, daß eine eigentliche »Amtslaufbahn« von Brahmanen nicht nur nichts Typisches, sondern geradezu etwas dem Typus Widerstreitendes war, während sie für den Mandarinen als das allein Menschenwürdige galt. Die typischen Pfründen der vornehmen Brahmanen waren keine Staatsgehälter und patrimonialstaatlichen Amtssportel- und Erpressungschancen, sondern feste Land-und Abgaberenten. Und diese waren nicht, wie die Pfründen der Mandarinen, auf jederzeitigen Widerruf und im Höchstfalle auf kurze Zeit, sondern stets dauernd, – lebenslänglich oder auf einige Generationen oder an einzelne oder Organisationen (Klöster, Schulen) für immer – vergeben. Aeußerlich am ähnlichsten sieht sich dagegen die Lage der chinesischen und der indischen Intellektuellenschichten an, wenn man die, Zeit der Teilstaaten in China mit dem Zustand Indiens etwa in der Zeit der ältern Jatakas oder wieder in der Epoche der mittelalterlichen Expansion des Brahmanentums vergleicht. Damals waren in Indien die hinduistischen Intellektuellen in starkem Maße eine Schicht von Trägern literarischer und philosophischer Schulung, gewidmet der Spekulation und Diskussion über rituelle, philosophische und wissenschaftliche Fragen. Teils lebten sie in der Zurückgezogenheit grübelnd und Schulen bildend, teils zwischen den Fürsten und Adelshöfen wechselnd und wandernd, sich trotz aller Spaltungen doch als eine letztlich einheitliche Gruppe von Kulturträgern fühlend. Sie waren Berater der einzelnen Fürsten und Adligen in privaten und politischen Fragen, Organisatoren von Staaten auf der Basis der korrekten Lehre. Also ganz ähnlich wie dies in China in der Zeit der Teilstaaten die dortigen Literaten waren. Stets bestand aber ein gewichtiger Unterschied.

Die höchste Brahmanenstellung war in alter Zeit die des Hofkaplans; später und bis zur englischen Herrschaft war der rangälteste consultierende Jurist: der brahmanische Oberpandit, meist der erste Mann des Landes. Die chinesischen Literaten aller philosophischen Schulen scharten sich um ein als lebendiger Träger der heiligen Tradition geweihtes Oberhaupt: den kaiserlichen Oberpontifex, welcher als solcher, dem von der Literatenschaft vertretenen Anspruch nach, auch das einzige legitime weltliche Oberhaupt, der Oberlehensherr sämtlicher[138] weltlicher Teilfürsten des chinesischen »Kirchenstaats« war. Etwas dem Entsprechendes gab es in Indien nicht. Die Literatenschicht stand hier in der Epoche der massenhaften Teilstaaten einer Vielheit von Kleinherrschern gegen über, die keinen legitimen Oberherrn über sich hatten, von dem sie ihre Macht ableiteten. Der Begriff der Legitimität war hier vielmehr lediglich der: daß der einzelne Fürst dann und insoweit als ein »legitimer«, d.h. rituell korrekter Herrscher galt, als er sich in seinem Verhalten, zumal gegenüber den Brahmanen, an die heilige Tradition band. Andernfalls war er »Barbar« ebenso wie ja auch die Feudalfürsten Chinas an dem Maßstab ihrer Korrektheit gegenüber der Literatenlehre gemessen wurden. Kein König Indiens aber, so groß auch – wie wir sahen – seine faktische Macht selbst in rein rituellen Dingen sein mochte, war je als solcher zugleich ein Priester. Und zwar geht dieser Unterschied gegenüber China offenbar in die ältesten auch nur hypothetisch erreichbaren Zeiten der beiderseitigen Geschichte zurück. Schon die altvedische Ueberlieferung bezeichnet die schwarzhäutigen Gegner der Arier im Gegensatz zu diesen als »priesterlos« (abrahmana). Bei den Ariern steht dagegen von Anfang an neben dem Fürsten selbständig der im Opferritual geschulte Priester. Dagegen weiß die älteste Ueberlieferung der Chinesen von selbständigen Priestern neben einem rein weltlichen Fürsten nichts. Bei den Indern ist das Fürstentum ersichtlich aus der rein weltlichen Politik, aus den Kriegszügen charismatischer Kriegshäuptlinge, herausgewachsen, in China dagegen, wie wir sahen, aus dem Oberpriestertum. Welche historischen Vorgänge die Entstehung dieses überall höchst wichtigen Gegensatzes der Einheit oder Zweiheit der politischen und priesterlichen höchsten Gewalt in diesem Falle erklären, dafür ist es wohl ausgeschlossen jemals auch nur bis zu hypothetischen Vermutungen zu gelangen. Es findet sich der gleiche Unterschied ja auch bei ganz »primitiven« Völkern und Reichen, und zwar auch in unmittelbarer Nachbarschaft voneinander und bei sonst gleicher Kultur und Rasse. Er ist offenbar oft durch ganz konkrete und in diesem Sinn historisch »zufällige« Umstände ursprünglich herbeigeführt und wirkte dann fort.

Die Folgen dieses Unterschiedes nun waren in jeder Hinsicht höchst bedeutende. Zunächst äußerlich für die soziologische Struktur der beiderseitigen Intellektuellenschichten. In der Zeit[139] der Teilstaaten entstammten die chinesischen Literaten faktisch noch in der Regel den alten gentilcharismatisch qualifizierten »großen« Familien, wennschon das persönliche Charisma der Schriftbildung doch bereits so bedeutend war, daß – wie wir sahen – Parvenus in Ministerstellen zunehmend häufig erschienen. Als nun das kaiserliche Oberpontifikat die Fülle der weltlichen Macht wieder in sich vereinigte, war der Monarch, als Oberpontifex, in der Lage, seinem Machtinteresse entsprechend, die Zulassung zum Amt an die rein persönliche Qualifikation der korrekten Schriftbildung zu binden und dadurch den Patrimonialismus gegenüber dem Feudalsystem endgültig zu sichern: die Literatenschicht wurde nun eine – in vieler Hinsicht, sahen wir, eigenartige – Bürokratenschicht. In Indien war der Gegensatz zwischen Gentilcharisma und persönlichem Charisma noch in historischer Zeit ebenfalls, wie wir sahen, nicht wirklich erledigt. Immer aber war es die gelernte Priesterschaft selbst, deren Ansichten über die Qualifikation des Novizen maßgebend waren. Mit der vollen Angleichung des Brahmanentums an den vedischen Priesteradel entschied sich dann die Frage des Charisma mindestens für die offizielle Lehre. Als die ersten Universal-monarchien entstanden, hatte sich die selbständige Priesterschaft als gentilcharismatische Zunft, d.h. als »Kaste« mit fester Bildungsqualifikation als Voraussetzung des Amtirens, schon so in den sicheren Besitz der geistlichen Autorität gesetzt, daß daran nicht mehr zu rütteln war.

Im Yajur-Veda ist diese erst im Atharva-Veda auftauchende Stellung der Brahmanen voll durchgebildet. »Brahman«, im Rig-veda das Gebet, ist jetzt »heilige Macht« und »Heiligkeit«. Die Brahmanas führten das nur weiter aus: »Die Brahmanen, welche den Veda gelernt haben und ihn lehren, sind menschliche Götter« heißt es181. Kein hinduistischer Fürst oder Großkönig konnte eine pontifikale Gewalt beanspruchen und die späteren – islamischen – Fremdherrscher waren erst recht disqualifiziert und auch weit entfernt davon es zu tun. Derjenige Punkt, in welchem dieser Gegensatz der gesellschaftlichen Strukturen der chinesischen und indischen Intellektuellenschicht wichtige Folgen hatte, war »weltanschauungsmäßiger« und praktisch ethischer Natur.

Ein theokratischer Patrimonialismus und ein Literatentum[140] von staatlichen Amtsanwärtern waren in China der geeignete Boden für eine rein utilitarische Sozialethik. Der »Wohlfahrtsstaats«- Gedanke mit stark materieller Wendung dieses Wohlfahrtsbegriffs folgte zwar vor allem aus der charismatischen Verantwortlichkeit des Herrschers für das äußere, meteorologisch bedingte Wohlergehen der Untertanen. Daneben aber aus der Stellung der sozialphilosophisch interessierten und dabei bildungsstolzen Literatenschicht gegenüber den bildungsfremden Massen. Die Banausen können ja nichts Andres als materielle Wohlfahrt erstreben, und materielle Versorgung ist auch das beste Mittel der Erhaltung von Ruhe und Ordnung. Schließlich folgte sie auch aus dem Pfründner-Ideal der Bürokratie selbst: dem gesicherten festen Einkommen als der Grundlage der Gentleman-Existenz. Der ständische Gegensatz der Bildung gegen die Unbildung und die Reminiszenzen leiturgischer Bedarfsdeckung führten dabei zu einer gewissen Annäherung an »organische« Gesellschafts- und Staats-Theorien, wie sie naturgemäß jeder politischen Wohlfahrtsanstalt nahe liegen. Aber: der nivellierende chinesische Patrimonialbürokratismus hielt dabei diese ganz unverkennbaren Ansätze in mäßigen Schranken. Nicht etwa die organische Ständegliederung, sondern die patriarchale Familie war das Bild, unter welchem die soziale Schichtung vornehmlich gesehen wurde. Autonome soziale Mächte konnte die patriarchale Bürokratie sich gegenüber nicht anerkennen. Die in der Wirklichkeit lebendigen »Organisationen«, vor allem: die Gilden und gildenartigen Verbände und die Sippen, waren, je mächtiger und autonomer sie tatsächlich waren, desto weniger von der Theorie als Grundlage einer organischen Gesellschaftsgliederung verwertbar. Sie blieben für sie vielmehr in ihrer reinen Faktizität einfach abseits liegen. Die typische »Berufs«- Konzeption der organischen Gesellschaftsauffassungen war daher in China nur in Ansätzen vorhanden und blieb vor allem der herrschenden vornehmen literarischen Intellektuellenschicht – wie wir sahen – fremd.

Sehr anders in Indien. Hier hatte die selbständig neben den politischen Herrschern stehende Priestermacht mit der ebenso selbstherrlich neben ihr stehenden Welt der politischen Gewalten zu rechnen. Sie erkannte deren Eigengesetzlichkeit an, – einfach weil sie es mußte. Denn das Machtverhältnis zwischen Brahmanen und Kschatriyas war, wie wir sahen, lange Zeit hindurch[141] sehr schwankend. Und auch nachdem die ständische Superiorität der Brahmanen, in der offiziellen Theorie der letzteren wenigstens, feststand, blieb die Gewalt der inzwischen entstandenen Großkönige doch eine selbständige und dem Wesen nach rein weltliche, nicht hierokratische, Macht. Zwar war der Pflichtenkreis der Könige wie der jedes Standes gegenüber der brahmanischen Hierokratie bestimmt durch ihr Dharma, welches Bestandteil des brahmanisch regulierten heiligen Rechts war. Aber dies Dharma war eben bei jedem Stand, und so auch bei den Königen, ein anderes und – mochte es auch, der Theorie nach, nur von den Brahmanen maßgebend zu interpretieren sein – doch nach deren eigenen Maßstäben ein durchaus eigenes und selbständiges, nicht etwa mit dem Dharma der Brahmanen identisches oder aus ihm abgeleitetes182. Es gab keine universell gültige, sondern durchaus nur eine ständisch besonderte private und Sozialethik, die wenigen unbedingt allgemeinen rituellen Verbote (vor allem: der Kuhschlachtung), von denen früher geredet wurde, ausgenommen. Die Konsequenzen waren sehr weitreichend. Denn da nicht nur die Kastengliederung der Welt, sondern ebenso die Abstufung göttlicher, menschlicher, tierischer Wesen aller Rangstufen von der Karmanlehre aus dem Prinzip der Vergeltung vorgetaner Werke abgeleitet wurde, so war für sie das Nebeneinanderbestehen von ständischen Ethiken, die untereinander nicht nur verschieden, sondern geradezu einander schroff widerstreitend waren, gar kein Problem. Es konnte – im Prinzip – ein Berufs-Dharma für Prostituierte, Räuber und Diebe ganz ebenso geben wie für Brahmanen und Könige. Und es gab die allerernsthaftesten Ansätze zu diesen äußersten Konsequenzen auch tatsächlich. Der Kampf des Menschen mit dem Menschen in allen seinen Formen war prinzipiell ebensowenig ein Problem, wie sein Kampf mit den Tieren und auch mit den Göttern und wie die Existenz des schlechthin Häßlichen, Dummen und des – vom Maßstab des Dharma eines Brahmanen oder sonstigen »Wiedergeborenen« aus gesehen – schlechthin Verwerflichen. Die Menschen waren nicht – wie für den klassischen Konfuzianismus – prinzipiell gleich, sondern wurden zu allen Zeiten ungleich geboren,[142] so ungleich wie Menschen und Tiere. Allerdings hatten sie alle die gleichen Chancen vor sich: Aber nicht in diesem Leben, sondern auf dem Wege der Wiedergeburt konnten sie entweder hinauf bis in den Himmel oder hinab bis in das Tierreich oder die Hölle gelangen. Die Konzeption eines »radikal Bösen« war in dieser Weltordnung überhaupt nicht möglich, denn eine »Sünde schlechthin« konnte es ja nicht geben. Sondern immer nur einen rituellen Verstoß gegen das konkrete, durch die Kastenzugehörigkeit bedingte Dharma. Es gab in dieser in ihrer Abgestuftheit ewigen Welt keinen seligen Urstand und kein seliges Endreich, und deshalb auch keine – im Gegensatz zur positiven Sozialordnung – »natürliche« Ordnung der Menschen und Dinge, also auch kein »Naturrecht« irgendwelcher Art. Sondern es gab – für die Theorie zum mindesten – nur heiliges, ständisch besondertes, aber positives Recht und innerhalb der von ihm – als indifferent – unreglementiert belassenen Gebiete positive Satzungen der Fürsten, Kasten, Gilden, Sippen und Vereinbarungen der Individuen. Die Gesamtheit aller Probleme, welche im Occident das »Naturrecht« ins Leben riefen, fehlte eben vollständig und prinzipiell. Denn es gab schlechthin eben keinerlei »natürliche« Gleichheit der Menschheit vor irgendeiner Instanz, am allerwenigsten vor irgendeinem überweltlichen »Gott«. Dies ist die negative Seite der Sache. Und diese ist die wichtigste: sie schloß die Entstehung sozialkritischer und im naturrechtlichen Sinn »rationalistischer« Spekulationen und Abstraktionen vollständig und für immer aus183 und hinderte das Entstehen irgendwelcher[143] »Menschenrechte«. Schon weil ja das Tier und der Gott, wenigstens bei konsequenter Durchführung der Lehre, nur andre, ebenfalls Karman-bedingte Inkarnationen von Seelen waren und es für die Gesamtheit aller dieser Wesen offenbar abstrakt gemeinsame »Rechte« sowenig geben konnte wie gemeinsame »Pflichten«. Es gab nicht einmal den Begriff »Staat« und »Staatsbürger« oder auch »Untertan«, – sondern nur das ständische Dharma: die Rechte und Pflichten des »Königs« und der anderen Kasten, einer jeden in sich und jeder im Verhältnis zu den anderen. Dabei wird dem Kschatriya, als dem Patron des Rayat (»Clienten«), das Dharma der Fürsorge für den »Schutz« der Bevölkerung – immerhin nur wesentlich: des äußeren Sicherheitsschutzes – zugeschrieben und ihm die Pflicht der Sorge für die Rechtspflege und die Redlichkeit des Verkehrs und was damit zusammenhängt, als ethisches Gebot auferlegt. Im übrigen gilt es für den Fürsten wie für andere, aber für ihn im eminenten Sinn, als allererste Pflicht, die Brahmanen zu unterhalten und zu fördern, vor allem ihnen bei ihrer autoritären Regelung der sozialen Ordnung gemäß den heiligen Rechten seinen Arm zu leihen, Angriffe auf ihre Stellung aber nicht zu dulden. Die Bekämpfung von brahmanenfeindlichen Irrlehren ist selbstverständlich verdienstlich und wird verlangt und geleistet. Aber das ändert daran nichts, daß der Stellung des Fürsten und der Politik in eigentümlich penetranter Art ihre Eigengesetzlichkeit gewahrt bleibt. Die chinesische Literatur kennt für die Epoche der Teilfürsten wenigstens in der Theorie – wie einflußlos diese gerade in dieser Hinsicht auch sein mochte – den Begriff »gerechter« und »ungerechter« Kriege und eines »Völkerrechts«, als Ausdruck der chinesischen Kulturgemeinschaft. Der zum Alleinherrscher aufgestiegene kaiserliche Pontifex vollends, der die Weltherrschaft, auch über die Barbaren, beanspruchte, führte nur »gerechte« Kriege. Denn jeder Widerstand gegen ihn war Rebellion. Unterlag er, so galt dies als Symptom dafür, daß ihm das Charisma vom Himmel versagt sei oder er es verwirkt habe. Aehnliches galt nun auch für den indischen Fürsten. Auch wenn er unterlag[144] oder wenn es seinen Untertanen andauernd nicht gut ging, war dies ein Beweis für magische Verfehlungen oder mangelndes Charisma. Der Erfolg des Königs entschied also. Aber das hatte nichts mit seinem »Recht« zu tun. Sondern mit seiner persönlichen Eignung und, vor allem: der Zauberkraft seines Brahmanen. Denn diese, und nicht sein ethisches »Recht«, verschaffte dem König den Sieg, wenn eben der Brahmane sein Handwerk verstand und charismatisch qualifiziert war. Auch in Indien hatte, wie im Occident, die ritterliche Konvention der epischen Kschatriya-Zeit gewisse Standessitten für die Fehde geschaffen, deren Verletzung als verwerflich und unritterlich galt, wenn auch wohl niemals im indischen Ritterkampf so weitgehende Courtoisie geübt worden ist, wie sie der berühmte Heroldsruf der französischen Ritterschaft an die Gegner vor der Schlacht von Fontenoy repräsentiert: »Messieurs les Anglais, tirez les premiers.« Im ganzen herrschte das Gegenteil. Nicht nur die Menschen, auch die Götter (Krischna) setzen sich im Epos um des Erfolges halber höchst unbekümmert auch über die elementarsten Regeln ritterlichen Kampfes hinweg. Und wie in der hellenischen Polis der klassischen Zeit184, so galt auch für die Fürsten schon des Epos und der Maurya-Epoche, erst recht aber der späteren Zeit der nackteste »Macchiavellismus« in jeder Hinsicht als selbstverständlich und ethisch gänzlich unanstößig. Das Problem einer »politischen Ethik« hat die indische Theorie nie beschäftigt und, in Ermangelung einer Universalethik und eines Naturrechts, auch nicht beschäftigen können. Das Dharma des Fürsten185 ist, Krieg zu führen um des Kriegs und um der Macht rein als solcher willen. Er hatte den Nachbar durch List, Betrug und alle noch so raffinierten, unritterlichen und heimtückischen Mittel, durch Ueberfall, wenn er in Not war, durch Anstiftung von Verschwörungen unter seinen Untertanen, Bestechung seiner Vertrauten zu vernichten, die eigenen Untertanen aber durch Spionage, Lockspitzel[145] und ein raffiniertes System von Tücke und Argwohn im Zaum zu halten und fiskalisch nutzbar zu machen. Das Macht-pragma und der für unsre Begriffe durchaus »unheilige« Egoismus des Fürsten war hier, gerade von der Theorie, ganz und gar seinen eigenen Gesetzen überlassen, alle theoretische Politik gänzlich amoralische Kunstlehre von den Mitteln, politische Macht zu erlangen und zu erhalten, weit hinausgehend über alles, was wenigstens die Durchschnittspraxis selbst der Signoren der italienischen Frührenaissance in dieser Hinsicht kannte und jeglicher »Ideologie« in unserem Sinn des Wortes gänzlich bar.

Die gleiche Erscheinung wiederholt sich nun für alle profanen Lebensgebiete. Sie befähigte den Hinduismus, im Gegensatz zur Fachmenschenfeindschaft des Konfuzianismus, allen einzelnen Lebens- und Wissensgebieten ihr gesondertes Recht zuteil werden zu lassen und also wirkliche »Fachwissenschaften« zu schaffen. So – neben bedeutenden mathematischen und grammatischen Leistungen – vor allem eine formale Logik als Kunstlehre des rationalen Beweises (hetu, daher hetuvadin, der Logiker). Eine eigene Philosophenschule: Nyaya186 befaßte sich mit dieser Kunstlehre des Syllogismus und die als orthodox anerkannte Vaiçeshika-Schule187 gelangte unter Anwendung dieser formalen Hilfsmittel auf dem Gebiet der Kosmologie zum Atomismus. Im hellenischen Altertum wurde die weitere Pflege der Atomistik nach Demokritos und die Entwicklung zu einer modernen Naturwissenschaft trotz viel weitergehender mathematischer Unterbauten durch den stark sozial bedingten Einbruch und Sieg des ihr feindlichen, ausschließlich sozialkritischen und sozialethischen Interesses seit Sokrates gehemmt. In Indien wurde umgekehrt durch die sozial verankerte Unerschütterlichkeit gewisser metaphysischer Voraussetzungen alle Philosophie in die Bahnen individuellen Erlösungsstrebens gedrängt188.[146] Das wirkte als Schranke sowohl für die Fachwissenschaften wie für die Fragestellungen des Denkens überhaupt. Die konsequent »organische« Gesellschaftslehre des Hinduismus konnte das Dharma jedes »Beruf es«, in Ermangelung anderer Maßstäbe, nur den Eigengesetzlichkeiten seiner Technik entnehmen und schuf daher überall nur technische Kunstlehren für Spezialberufe und Sondersphären des Lebens, von der Bautechnik bis zur Logik als Kunstlehre des Beweisens und Disputierens und bis zur Kunstlehre der Erotik189. Dagegen keinerlei Prinzipien einer universellen, für das Leben in der Welt im allgemeinen Anforderungen stellenden Ethik. Diejenige Literatur der Inder, welche man mit den philosophischen Ethiken des Abendlandes in Parallele stellen kann, war – oder richtiger: wurde im Verlauf der Entwicklung – vielmehr etwas ganz anderes: eine metaphysisch und kosmologisch unterbaute Kunstlehre von den technischen Mitteln, aus dieser Welt heraus erlöst zu werden. An diesem Punkt verankerte sich letztlich alles philosophische und theologische Inte resse in Indien überhaupt. Die Ordnungen des Lebens und sein Karman-Mechanisms waren ewig. Eine religiöse Eschatologie der Welt war hier sowenig möglich wie im Konfuzianismus. Sondern nur eine (praktische) Eschatologie des Einzel-Individuums, welches jenem Mechanismus und dem »Rade« der Wiedergeburten zu entrinnen trachten wollte.

Die Tatsache dieser Ideen-Entwicklung sowohl wie ihre Art stehen wiederum im Zusammenhang mit der sozialen Eigenart der indischen Literatenschicht, welche ihr Träger war. Denn wenn die Brahmanen ebenso wie die Mandarinen ihr Standesgefühl aus dem Stolz auf ihr Wissen um die Ordnungen der Welt speisten, so blieb doch der gewaltige Unterschied bestehen: daß die chinesischen Literaten eine politische Amtsbürokratie darstellten, welche mit magischer Technik nichts zu tun hatten, diese verachteten Künste vielmehr den taoistischen Zauberern überließen, während die Brahmanen der Herkunft und dem bleibenden Wesen nach Priester, und das heißt: Magier waren. Darauf beruhte geschichtlich die sehr verschiedene Stellung beider zur Askese und Mystik.

[147] Der Konfuzianismus verschmähte diese je länger je energischer als eine dem Würdegefühl des vornehmen Mannes widerstreitende gänzlich nutzlose und barbarische, vor allem: parasitäre, Gaukelei. In der Epoche des amtsfreien Literatentums zur Zeit der Teilfürsten blühte zwar das Anachoretentum und die Kontemplation der Philosophen, und gänzlich sind diese Beziehungen auch später nicht abgerissen, wie wir sahen. Aber mit der Umwandlung in eine diplomierte Amtspfründnerschicht steigerte sich die Verwerfung jeder solchen, innerweltlich und sozial-utilitarisch angesehen, wertlosen Lebensführung als unklassisch. Reminiszenzen der Mystik geleiteten den Konfuzianismus nur als sein schattenhaftes heterodoxes Gegenbild. Die eigentliche Askese aber starb so gut wie völlig ab. Und endlich die wenig wichtigen orgiastischen Reste in der Volksreligiosität änderten an der prinzipiellen Ausrottung dieser irrationalen Mächte nichts. Dagegen konnte das Brahmanentum die historischen Beziehungen zur alten Magier-Askese, aus der es hervorgewachsen war, nie ganz abstreifen. Der Name des Novizen (bramacharin) ist von der magischen Novizenkeuschheit abgeleitet und die Vorschrift kontemplativen Waldlebens als – so zu sagen – »Altenteils«-Existenz (heute meist als Abmilderung der ursprünglichen Sitte, der Tötung der Alten gedeutet) entstammte der gleichen Quelle190. Sie sind in den klassischen Quellen auf die beiden andern wiedergeborenen Stände erstreckt191, aber wohl ursprünglich Bestandteile nur der Magieraskese gewesen. Beide Vorschriften sind heute und wohl schon seit langer Zeit obsolet. Aber ihre Fixierung in der klassischen Literatur blieb bestehen. Und vollends die kontemplative Mystik vom Typus der Gnosis, die Krone klassisch-brahmanischer Lebensführung, stand als Ziel vor jedem Brahmanen voller Bildung, mochte auch die Zahl derer, welche sich ihr wirklich voll zuwendeten, in der mittelalterlichen Vergangenheit oft bereits ähnlich gering sein wie sie es heute durchweg ist. Wir müssen uns der Stellung der brahmanischen Bildung zu Askese[148] und Mystik und, soweit dabei der Zusammenhang es unentbehrlich macht, auch gewissen Vorstellungskreisen der Philosophie, welche in Verbindung damit auf dem Boden jener Bildung gewachsen ist, etwas näher zuwenden. Denn teils auf Grundlage der Konzeptionen, welche hier entstanden, teils im charakteristischen Gegensatz zu ihnen – jedenfalls aber nur in enger Beziehung dazu – konnten die hinduistischen Erlösungsreligionen mit Einschluß des Buddhismus entstehen.

Die indische Askese war technisch wohl die rational entwickeltste der Welt. Es gibt fast keine asketische Methodik, welche nicht in Indien virtuosenhaft geübt und sehr oft auch zu einer theoretischen Kunstlehre rationalisiert worden wäre, und manche Formen sind nur hier bis in ihre letzten, oft für uns schlechthin grotesken Konsequenzen hineingesteigert worden. Das Kopfabwärtshängen des Urdhamukti-Sadhus und das Lebendig-Begraben (Samadh) sind noch bis ins 19. Jahrhundert geübt worden, die Alchemie bis in die Gegenwart192. Der Ursprung der klassischen Askese war hier wie überall die alte Praxis der Magier-Ekstase in deren verschiedenen Funktionen und ihr Zweck dem entsprechend ursprünglich durchweg: die Erlangung magischer Kräfte. Der Asket weiß sich im Besitz von Macht über die Götter. Er kann sie zwingen, sie fürchten ihn und müssen seinen Willen tun. Will ein Gott Ausnahmsleistungen vollbringen, so muß auch er Askese üben. So hat das höchste Wesen der älteren Philosophie, um die Welt zu gebären, mächtige asketische Anstrengungen machen müssen. Daß die magische Kraft der Askese (Tapas) als durch eine Art von (hysterischer) Bruthitze bedingt galt (wie der Name zeigt) kam dieser Vorstellung entgegen. Durch hinlängliche Grade außeralltäglicher asketischer Leistungen kann man schlechthin jede Wirkung erzielen. Mit dieser Voraussetzung wird bekanntlich noch in der klassischen Sanskrit-Dramatik als mit einer Selbstverständlichkeit gearbeitet. Da das Charisma, in eine der magisch relevanten Zuständlichkeiten zu geraten, höchst persönlich und an keinen Stand gebunden war, so rekrutierten sich diese Magier sicherlich auch (und gerade) in den frühesten uns zugänglichen Epochen nicht nur aus einer offiziellen Priesteroder Magier-Kaste, wie die Brahmanen es waren. Vollends deshalb[149] war dies schwer möglich oder wurde immer schwerer möglich, weil und je mehr das Brahmanentum zunehmend ein vornehmer Stand von Ritualkundigen wurde, dessen soziale Ansprüche auf Wissen und Vornehmer Bildung beruhten. Je mehr dies der Fall war, desto weniger konnte das Brahmanentum alle Arten magischer Askese umspannen. Der immanente Rationalismus des »Wissens« und der »Bildung« sträubte sich wie überall gegen irrationale, orgiastisch-ekstatische Rausch-Askese und der Stolz eines vornehmen Bildungsstandes gegen die würdelose Zumutung, ekstatische therapeutische Praktiken vollziehen und neuropathische Zustände zur Schau stellen zu sollen. Es mußte also hier unvermeidlich jene schon eingangs erwähnte Entwicklung einsetzen, welche in teilweise ähnliche Bahnen führte, wie wir sie bei der chinesischen Magie fanden. Ein Teil der magischen Praktiken, und zwar die akut-pathologisch- und emotionell-ekstatischen, in diesem Sinn »irrationalen« unter ihnen, wurde als unklassisch und barbarisch entweder ausdrücklich abgelehnt oder doch tatsächlich innerhalb des Standes nicht geübt und durch die Art seiner Lebenspraxis ausgeschlossen. Dies ist, wie wir sahen, tatsächlich weitgehend geschehen, und insoweit besteht die Parallele zur Entwicklung der chinesischen Literaten. Wesentlich anders aber konnte eine vornehme Intellektuellenschicht den apathischen Formen der Ekstase (den Entwick lungskeimen der »Kontemplation«) und ebenso allen rationalisierbaren Praktiken der Askese gegenüberstehen. Sie waren zwar für ein staatliches Mandarinentum unverwertbar, nicht aber für eine Priesterschaft. Diese konnte sich ihnen gar nicht entziehen. Derjenige Teil der Magier-Askese und -Ekstase nun, den die Brahmanen rezipierten oder, richtiger, beibehielten und beibehalten mußten, weil sie im Unterschied zu den Mandarinen keine politische Amtsanwärterschicht, sondern eine Magierkaste waren, wurde in ihrer Pflege, je mehr sie eine vornehme Literatenschicht wurden, desto systematischer rationalisiert. Dies war eine Leistung, welche die chinesischen Literaten, die nach ihren Traditionen jeder Askese fremd gegenüberstanden, nicht vollbringen konnten, sondern in den Händen der von ihnen geduldeten und verachteten Berufsmagier und der Taoisten verkümmern lassen mußten. Der entscheidende Gegensatz des Ausgangspunktes der beiderseitigen politischen Entwicklung schlug auch hier durch. Die brahmanische Philosophie bewegt sich, in höchst auffallendem Gegensatz gegen[150] die chinesische, durchweg um Probleme, welche in der Art der Fragestellung sowohl wie in der Art der Beantwortung oft unerklärlich wären ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß rationalisierte Askese und Ekstase einen grundlegenden Bestandteil jeder korrekt brahmanischen Lebensführung bildeten.

Denn nicht nur das Leben des bramacharin (Novizen) war, mit seiner strengen persönlichen Unterordnung unter die Autorität und häusliche Disziplin des Lehrers193, dem Keuschheitsund Bettelgebot, durchaus asketisch geregelt. Und nicht nur galt als Ideal der Lebensführung des alternden Brahmanen die Rückkehr in den Wald (als Vanaprastha) und schließlich die Einkehr in ein ewiges Schweigen als Einsiedler (die vierte Asrama) und die Erreichung der Qualifikation als Yati (von der Welt innerlich befreiter Asket194. Sondern in starkem Maße asketisch reglementiert war auch die innerweltliche Lebensführung des klassischen Brahmanen selbst als Grihastha (Haushalter). Neben der Fernhaltung von den plebejischen Formen des Erwerbs, vor allem von Handel und Wucher und der persönlichen Ackerarbeit, stehen zahlreiche Vorschriften, welche sich später bei den weltablehnenden hinduistischen Erlösungsreligionen wiederfinden. Die Einschärfung des Vegetarismus und der Alkoholabstinenz ist offenbar aus der Gegnerschaft gegen die Fleischorgien erwachsen; die sehr strenge Verpönung des Ehebruchs und die Mahnung zur Zähmung des Sexualtriebs überhaupt hatte ähnliche, antiorgiastische Wurzeln. Zorn und Leidenschaft war hier wie in China durch den Glauben an die dämonische und diabolische Herkunft aller Emotionen verpönt. Das Gebot strenger Reinlichkeit, namentlich beim Essen, entstammte magischen[151] Reinheitsregeln. Die Gebote der Wahrhaftigkeit und der Freigebigkeit und das Verbot, sich an fremdem Eigentum zu vergreifen, waren letztlich nur Einschärfungen der universell für die Besitzenden geltenden Grundzüge der alten Nachbarschaftsethik. Man darf natürlich die asketischen Einschläge der Lebensführung der innerweltlich lebenden Brahmanen in historischer Zeit nicht übertreiben. Während die Russen im 17. Jahrhundert bei Einführung der occidentalen Kunstformen protestierten: ein Heiliger dürfe nicht »dick sein wie ein Deutscher«, verlangte die indische Kunstübung umgekehrt: ein Mahapuruscha müsse dick sein195, – weil sichtbar guter Nahrungsstand als Zeichen von Reichtum und Vornehmheit galt. – Vor allem durfte überhaupt nie die Schicklichkeit und Eleganz des vornehmen Kavaliers verletzt werden. Die praktische Alltagsethik der Brahmanen ähnelt darin gelegentlich der konfuzianischen. Man soll sagen, was wahr und angenehm ist, nicht was unwahr und angenehm ist, aber möglichst auch nicht, was wahr und unangenehm ist, wird wiederholt in der klassischen Literatur ebenso wie in den Puranas196 empfohlen. Wie die Brahmanen, so legten alle vornehmen Intellektuellen – auch die Buddhisten sehr ausdrücklich – Gewicht darauf, »Arya« zu sein. Der Ausdruck »Arya« wird bis heut, auch in seinen Zusammensetzungen, etwa im Sinne der Kalokagathie des »Gentleman« gebraucht. Denn schon die epische Zeit kannte den Grundsatz, daß man »Arya« nicht durch Hautfarbe, sondern durch Bildung und nur durch sie sei197. Sehr ausgeprägt war bei den Brahmanen die maskuline Ablehnung der Frau, in ähnlichem Sinn wie bei den Konfuzianern, jedoch mit einem Einschlag asketischer Motive, der dort gänzlich fehlte. Das Weib war Trägerin der als würdelos und irrational abgelehnten alten Sexual-orgiastik und seine Existenz eine ernstliche Störung in der heilbringenden Meditation. Gäbe es noch einen Trieb von solcher Stärke, wie den Sexualtrieb, so wäre Erlösung unmöglich, soll auch der Buddha geäußert haben. Aber die Irrationalität der Frauen wird auch später von brahmanischen Schriftstellern scharf betont, – weit stärker sogar als vermutlich in der Zeit der höfischen Salonkultur der Kschatryia. Ein Mann solle seine Frau[152] nicht respektlos behandeln und nicht ungeduldig sein, sagt z.B. das Vischnu-Purana198. Aber er solle ihr keine wichtigen Geschäfte anvertrauen und ihr nie ganz trauen. Denn – darüber sind alle indischen Autoren einig – aus »ethischen« Gründen sei keine Frau ihrem Mann treu. Im Stillen beneide jede Matrone die geistreiche Hetäre, – was man den Matronen bei der im Salon privilegierten Lage der Hetären und bei dem Schimmer von Poesie, den die im Gegensatz zu China raffinierte indische Erotik, die Lyrik und auch die Dramatik um sie legten, kaum verdenken konnte199.

Neben jenen relativ »asketischen« Zügen der geregelten Alltagslebensführung des Brahmanen steht nun die rationale Methodik zur Erringung der außeralltäglichen heiligen Zuständ-lichkeiten. Zwar gab es eine als orthodox geltende Schule (die von Jaimini gestiftete Mimamsa-Philosophie), welche den zere-moniösen Werkdienst rein als solchen als Heilsweg anerkannte. Allein die klassische brahmanische Lehre ist dies nicht. Für diese kann vielmehr in der klassischen Zeit wohl als grundlegende[153] Anschauung gelten: daß rituelle und andere tugendhafte Werke allein lediglich zur Verbesserung der Wiedergeburtschancen, nicht aber zur »Erlösung« führen können. Diese ist stets durch ein außeralltägliches, über die Pflichten in der Welt der Kasten qualitativ hinausgehendes Verhalten bedingt: durch die weltflüchtige Askese oder Kontemplation.

Ihre Entwicklung bedeutete im wesentlichen, wie bei einer Intellektuellenschicht zu erwarten, eine Rationalisierung und Sublimierung der magischen Heilszuständlichkeiten. In drei Richtungen verlief diese: Einmal wurde, statt magischer Geheimkräfte zur Verwendung im Zaubererberuf, zunehmend ein persönlicher Heilszustand: die »Seligkeit« in diesem Sinn des Wortes, erstrebt. Zweitens gewann diese Zuständlichkeit einen bestimmten formalen Charakter, und zwar, wie zu erwarten, denjenigen einer Gnosis, eines heiligen Wissens, wesentlich, wenn auch nicht ganz ausschließlich, auf Grundlage der apathischen Ekstase, welche ja eben am besten dem Standescharakter der Literatenschicht adäquat war. Alle religiöse Heilssuche auf solche: Grundlage mußte in die Form mystischer Gottsuche, mystischen Gottesbesitzes oder endlich mystischer Gemeinschaft mit dem göttlichen ausmünden. Alle drei Formen, vornehmlich aber doch die letztgenannten, sind tatsächlich aufgetreten. Die Vereinigung mit dem Göttlichen trat in den Vordergrund, weil die Entwicklung der brahmanischen Gnosis zunehmend in die Bahnen einer Verunpersönlichung des höchsten göttlichen Wesens einlenkte. Dies geschah teils entsprechend der in aller kontemplativen Mystik liegenden Tendenz zu dieser Konzeption, teils weil das brahmanische Denken am Ritual und dessen Unverbrüchlichkeit verankert war und daher in der ewigen, unabänderlichen, unpersönlichen gesetzlichen Ordnung der Welt, nicht aber in den Peripetien ihrer Schicksale, das Walten des Göttlichen fand. Der ältere Vorläufer Brahmas ist ursprünglich der »Gebetsherr«, der Funktionsgott der magischen Formeln. Mit deren steigender Bedeutung stieg er zum höchsten göttlichen Wesen auf, ebenso wie die irdischen Gebetsherrn, die Brahmanen, zur höchsten ständischen Rangstufe. – Die rationale Ausdeutung der Welt an der Hand ihrer naturgesetzmäßigen, sozialen und rituellen Ordnungen war dann die dritte Seite des Rationalisierungsprozesses, den die brahmanische Intellektuellenschicht an dem religiös-magischen Material vollzog. Eine solche Art von Ausdeutung[154] aber mußte zur Entstehung einer in China, wie wir sahen, zwar nicht fehlenden, aber an Bedeutung weit zurücktretenden ontologischen und kosmologischen Spekulation: zur rationalen Begründung der Heilsziele und Heilswege, führen. Tatsächlich hat sie denn auch der indischen Religiosität den Stempel aufgeprägt.

Gerade auf diesem spekulativen Gebiete aber standen die Brahmanen vielleicht nie, jedenfalls nicht dauernd, konkurrenzlos da. Sondern wie neben dem brahmanischen Opfer- und Gebetsformel-Kult die später und bis in die Gegenwart scheinbar neu als Massenerscheinung auftretende, volkstümliche, individuelle ekstatische Magie und die Orgiastik: – die spezifisch unklassischen emotional-irrationalen Formen heiliger Zuständlichkeiten – sicher nie geschwunden waren, so stand neben der vornehmen brahmanischen Heilssuche diejenige der vornehmen Laien. Für die heterodoxen Erlösungsreligionen, vor allem für den Buddhismus, ist es sicher, daß sie ihren Halt gerade in ihrer Frühzeit in den Kreisen der vornehmen Laien hatten. Inwieweit das gleiche für die Entwicklung der klassischen indischen Philosophie gilt, ist unter den Indologen bestritten und schwerlich einwandfrei auszumachen. Man hat Gewicht darauf gelegt, daß die klassische Literatur zweifellos, und keineswegs nur vereinzelt, Fälle zeigt, wo Brahmanen über philosophische Grundfragen von einem weisen König belehrt werden. Und die Beteiligung der alten literarisch feingebildeten Ritterschaft, der klassischen Kschatriya in der Zeit vor dem Aufkommen der Großkönigtümer, an der philosophischen Gedankenarbeit steht außer allem Zweifel. In der Zeit, als die Diskussion der Probleme der indischen Natur- und Religionsphilosophie ihren Höhepunkt erreichte – etwa seit dem 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung200 – gehörte die vornehme Laienbildung sicherlich mit zu ihren wichtigsten Trägern. Nur kann aus allgemeinen Gründen keine Rede davon sein, daß die Brahmanen jemals eine untergeordnete Rolle dabei gespielt hätten.

Die Priestermacht war schon in der vedischen Zeit außerordentlich groß201 und ist seitdem nicht gesunken, sondern gestiegen.[155] Sie mochte örtlich und periodisch weit zurückgedrängt und zeitweise auf bestimmte Gebiete in Nordindien, während der Herrschaft der Erlösungskonfessionen vielleicht auf Kaschmir, eingeschränkt sein: ihre Tradition ist nie abgerissen. Und vor allem: sie, nicht die wechselnden politischen Bildungen, trug Indiens Kultur. Wie einst – ganz entsprechend dem althellenischen »homerischen« Zeitalter – die Rischi und heiligen Sänger durch die Herrschaftsgebiete der arischen Burgenkönige hindurch die Einheit der religiösen und dichterischen Kultur der Arier getragen hatten, so in der Zeit der stadt- und burgen-sässigen Ritterschaft, der Kschatriya, die Brahmanen diejenige des damaligen, örtlich teils verschobenen, teils erweiterten Kulturkreises Nordindiens. Ganz wie im China der Teilfürstenzeit die Literaten.

Den (vermutlich) anfänglichen streng esoterischen Charakter ihres Wissens haben die Brahmanen nicht zu behaupten vermocht, – im Gegenteil haben sie offenbar später die Erziehung der ritterlichen Jugend durch einen Einschlag vedischen Wissens ergänzt und gerade dadurch ihren unverkennbar starken Einfluß auf das Laiendenken gewonnen. Und trotz aller schroffen Gegensätze der Philosophenschulen, welche damals zuerst entstanden, hielten sie die ständische Einheit durch die indischen Einzelstaaten hindurch aufrecht. Wie die hellenische gymnastisch-musische Bildung – und nur sie – den Hellenen, im Gegensatz zum Barbaren, so machte die vedisch-brahmanische Bildung den »Kulturmenschen« im Sinn der Voraussetzungen der klassischen indischen Literatur. Ein kaiserlicher Oberpontifex, wie er in China als Symbol der Kultureinheit und ebenso im Islam und im christlichen Mittelalter existierte, fehlte in Indien wie bei den Hellenen. Beides waren Kulturgemeinschaften nur kraft sozialer Organisation (der Kaste hier, der Polis dort) und kraft der Erziehung ihrer Intellektuellenschichten, deren Einheit aber in Indien, anders als bei den Hellenen, vornehmlich durch die Brahmanen garantiert wurde. Im übrigen aber standen sicherlich Brahmanen und Laien als Träger der Philosophie nebeneinander, ähnlich wie Mönchs- und Weltgeistlichkeit und, mit Beginn des »Humanismus«, zunehmend auch vornehme Laienkreise im Occident.

Daß jedenfalls nicht nur, vielleicht nicht einmal vornehmlich, Laienkreise die Zersetzung der alten ungebrochenen brahmanischen[156] Religionsphilosophie förderten, tritt noch im Epos deutlich zutage. Die Skeptiker (tarkavadins), mit welchen sich das Mahabharata als mit gottlosen Schwätzern und gewinnsüchtigen Sophisten befaßt, die ihre brahmanenfeindliche Weisheit im Lande umherziehend verkaufen, – sie entsprechen tatsächlich den hellenischen Sophisten der klassischen Zeit, – waren im wesentlichen asketische Wanderlehrer, die namentlich jener, an sich als orthodox anerkannten, brahmanischen Schule (Nyaya) entstammten, die den Syllogismus und die rationale Logik und dialektische Kunst als Fachlehre pflegte.

So wenig wie das Monopol der Philosophie und Wissenschaft behaupteten die Brahmanen das Monopol der persönlichen mystischen Heilssuche. Daß sie es in Anspruch nahmen, steht fest. Sie taten dies schon deshalb, weil der mystische Heilssucher, zumal der Anachoret, in Indien wie überall als Träger heiligen Charismas selbst Verehrung als Heiliger und Wundertäter genoß und sie diese Machtstellung für sich zu monopolisieren trachten mußten. Bis in die Gegenwart möchte die offizielle Theorie von allen »Sadhu« (Mönchen)202 nur die Sannyasi, im älteren Wortsinn203: die aus der brahmanischen Kaste zum Mönchsleben Uebergetretenen, als vollwertige »Sramana« oder »Samana« (Eremiten) anerkennen. Mit größter Schroffheit hielt die orthodoxe Lehre stets erneut dies Monopol der Brahmanen aufrecht. Am schroffsten natürlich gegenüber den unteren Schichten. Im Ramayana findet sich, daß einem Asketen von großer Wunderkraft vom Helden der Kopf abgeschlagen wird, weil er ein Çudra ist und es dennoch gewagt hat, sich diese übermenschlichen Fähigzeiten zuzueignen. Allein gerade diese Stelle zeigt, daß selbst nach der orthodoxen Lehre zur Zeit des Epos der Çudra eben doch als an sich fähig galt, die magische Wunderkraft durch Askese zu erringen. Und jener offiziell nie aufgegebene Monopol-Anspruch204 ist niemals wirklich durchgesetzt worden. Ja, es ist nicht einmal sicher erweislich, ob die Organisation der späteren eigentlichen Klöster (Math) zuerst von brahmanischen Sramana[157] erfolgt ist oder erst in Nachahmung heterodoxer Institutionen eingeführt wurde. Immerhin darf das Erstere als nicht ausgeschlossen gelten, da der brahmanische Einsiedler, wenn er die Qualität als »Yati« (Voll-Asket) erreicht hatte, sicher von jeher 1. als Lehrer und 2. als magischer Nothelfer auftrat, Schüler und Laienverehrer um sich sammelte. Nur ist es fraglich, inwieweit man in der vorbuddhistischen Zeit schon von »Mönchen« und »Klöstern« zu sprechen berechtigt ist. Neben dem Altersasketen kennt die ältere Tradition zwar den Einsiedler und den isolierten Berufsasketen. Ebenso kennt sie sicherlich – denn sonst wäre die Entstehung gewisser Lehren nicht möglich – die »Schule« als eine Gemeinschaft, später »parishad« genannt, welche nach den im Spät-Hinduismus geltenden Regeln 21 geschulte Brahmanen umfassen sollte, in älterer Zeit aber oft auch nur 3-5 umfaßte. Die Gurus noch der epischen Zeit, welche die Knaben der vornehmen Geschlechter unterrichteten, nahmen nach der Tradition nur 5 Schüler205. Das dürfte schon damals nicht mehr die Regel gewesen sein; es zeigt aber, wie fern dem Brahmanentum der vorbuddhistischen Zeit noch Massenpropaganda lag. Teils die Einsiedler und Weltgeistlichen mit ihren persönlichen Schülern, teils jene förmlich organisierten Schulen waren Träger der Entwicklung der Spekulation und Wissenschaft Das spätere »Kloster« (Math) ist als systematisch verbreitete Massenerscheinung erst eine Erscheinung der Zeit der Sektenkonkurrenz und des Berufsmönchtums. Immerhin war der Uebergang von der Philosophenschule zum Kloster angesichts der alten Askese der Novizen (Bramacharin) flüssig, wenigstens wenn überhaupt eine cönobitische Form der Lehrtradition gewählt wurde, die wohl sicher alt sein dürfte.

Die durch Stiftung gesicherte Schule oder klosterartige Organisation diente vor allem dazu, den Brahmanen die Möglichkeit zu sichern, ohne Sorge für den Unterhalt ihr Veda-wissen sich zu erhalten. Auch wo die Pfründen später, wie oft, appropriiert wurden, blieb daher die (erbliche) Zugehörigkeit zur alten Schule oder Klosterpfründnerschicht oft Voraussetzung der Kasten- oder Unterkastenzugehörigkeit zum Vollbrahmanentum: das heißt zu derjeniger Brahmanenschicht, welche zur Vollziehung der Riten einerseits und –[158] dem entsprechend – zur Annahme von Dakshina (Geschenken und Stiftungen) andrerseits qualifiziert waren. Die anderen galten als Laien und hatten diese wichtigsten Privilegien der Vollkastengenossen nicht206.

Die Art der späteren normalen Klosterorganisation sowohl wie des Mönchtums207 überhaupt scheint ebenfalls dafür zu sprechen, daß jene formal ganz freien Schulgemeinschaften von Lehrern mit ihren Schülern nebst demjenigen Laienanhang, welcher durch Unterhaltsgewährung und Geschenke an die Gemeinschaft für sich diesseitige und jenseitige Vorteile zu erwerben suchte, den historischen Ausgangspunkt bildeten. Es fehlte offenbar noch die systematische Organisation in Gemeinschaften mit festen »Regeln«. Die rein persönliche Beziehung bildete die Grundlage des Zusammenhalts, soweit ein solcher bestand. Selbst der alte Buddhismus zeigt ja die Spuren dieser patriarchalen Struktur, wie wir sehen werden. Das Pietätsband, welches einen solchen heiligen Lehrer und Seelsorger, den »Guru« oder »Gosain«208, mit seinem Schüler und Seelsorge-Klienten verband, war in der hinduistischen Ethik so außerordentlich streng, daß diese Beziehung fast allen religiösen Organisationen zugrunde gelegt werden konnte und mußte. Jeder Guru genoß gegenüber dem Schüler eine Autorität, welche der väterlichen voranging209. Er war, wenn er als Sramana lebte, Objekt der Hagiolatrie der Laien. Denn nach unbezweifelter Lehre gab das richtige Wissen magische Macht: der Fluch des Brahmanen ging in Erfüllung, wenn er die richtige Veda-Kenntnis hatte und ob er sie hatte, dazu war er gegebenenfalls zum Gottesurteil (Feuer-Ordal) bereit. Die heilige Gnosis machte ihn wunderkräftig. Berühmte wundertätige Gurus haben wohl sicher von jeher kraft des Prinzips des Gentilcharisma ihre Würde als Lehrer vererbt oder sie haben ihren Nachfolger designiert, und nur aushilfsweise trat die »Wahl«, d.h. die Feststellung und Akklamation des charismatisch Qualifizierten durch die Jüngerschaft ein. Daß man ausschließlich von einem Guru die rechte Weisheit[159] erfahren könne, stand wenigstens in der Zeit der Upanischaden als ganz selbstverständlich fest. Ein sehr großer Teil aller mit Namen bekannten Stifter philosophischer Schulen und Sekten hat demgemäß hierokratische Dynastien hinterlassen, welche ihre Lehre und Technik der Gnosis oft durch Jahrhunderte weiter pflegten. Soweit die bis heute in Indien überaus zahlreichen, meist kleinen, Klöster und klosterartigen Gemeinschaften in einer organisatorischen Beziehung zueinander standen, war diese meist – charismatischen Prinzipien entsprechend – nach dem Filiationssystem210 hergestellt, wie bei den Klöstern unseres Mittelalters bis zur Cisterzienserzeit. Das hinduistische Mönchtum hat sich aus wandernden Magiern und Sophisten entwickelt211. Es blieb stets der Masse nach wanderndes Bettelmönchtum. Formal stand auch der gänzliche Austritt aus dem Kloster dem Mönch fast immer grundsätzlich jederzeit frei212. Die Disziplin der Superioren (Mathenats) und die Klosterordnungen waren demgemäß oft – aber nicht immer – lax und relativ formlos213.[160]

Irgendwelche Arbeitspflichten der Mönche konnte es nach der Natur der hinduistischen – orthodoxen und heterodoxen – Heilswege nicht geben. Kein Mönch »arbeitete«. Die inhaltlichen Gebote214 für die Lebensführung der Mönche waren – soweit sie nicht, wie das Verbot, zur Regenzeit zu wandern und die Vorschriften über Tonsur und andere Aeußerlichkeiten reine Ordnungsvorschriften darstellten – Steigerungen der brahmanischen Alltagsaskese, und zwar teils einfach dem Grade, teils aber auch der Art und dem Sinn nach. Das letztere ist bedingt durch den Zusammenhang mit der brahmanischen Heilslehre, wie sie die Brahmanas und Upanischaden entwickelten. Das Gebot der Keuschheit, der Enthaltung von süßer Nahrung, der Beschränkung auf Essen schon abgetrennter Früchte, der völligen Eigentumslosigkeit, also: Verbot, Gütervorräte zu halten und Leben vom Bettel, – später meist unter Beschränkung auf die Ueberbleibsel des Essens des Angebettelten, – das Gebot des Wanderns, – später oft mit der Verschärfung: daß man in einem Dorf nur eine Nacht oder auch gar nicht schlafen durfte –, die Beschränkung der Kleidung auf das Notwendigste, dies Alles waren nur Steigerungen der Alltagsaskese. Das bei einigen der späteren Erlösungsreligionen bis ins Extrem gesteigerte, aber anscheinend schon vorher bei den klassischen brahmanischen Asketen, nur in verschieden großer Strenge, auftauchende Gebot des »ahimsa«: der unbedingten Schonung des Lebens jeder Kreatur, war dagegen mehr als nur eine quantitative Verschärfung des antiorgiastischen Vegetarismus und nicht nur eine Konsequenz der Beschränkung des Opferfleischgenusses auf die Priester215. Vielmehr spielte hier offenbar die religionsphilosophische Ueberzeugung von der Einheit alles Lebenden eine maßgebende Rolle, verbunden mit der universellen Ausbreitung der Verehrung und damit der Immunität gerade eines der als unbedingt »rein« geltenden Tiere: des Rindes. Auch die Tiere standen im Bereich von[161] Samsara und Karman. Auch sie hatten je nach ihrer Gattung ihr Dharma und konnten also – in der ihnen eigenen Art – »Frömmigkeit üben«216. Und wenn die Art, wie die Selbstbeherrschung: – Imzaumhalten von Augen und Mund – empfohlen wurde, zunächst wesentlich nur disziplinären Charakter hatte, so waren Gebote wie: nichts für die eigene leibliche oder seelische Wohlfahrt zu tun, doch darüber hinaus wieder durch den allgemeinen philosophischen Sinn der Askese als Heilsweg mitbestimmt.

Diese Wendung der klassisch-brahmanischen Askese vom magischen zum soteriologischen Zweck vollzog sich innerhalb der religiösen, an die Vedasammlungen anschließenden Literatur: der Brahmana, welche das Opfer und Ritual interpretierend behandeln und insbesondre der an sie sich anschließenden Aranyaka, der »im Wald geschaffenen Werke«. Sie sind Produkte der auf dem »Altenteil« in der Waldeinsamkeit lebenden Brahmanen-Kontemplation und ihre spekulativen Teile, die Upanischaden, »Geheimlehren«, enthalten die soteriologisch entscheidenden Teile des brahmanischen Wissens217. Dagegen enthält die Sutra-Literatur die Ritualvorschriften für den praktischen Gebrauch: die Srautaçastra das heilige Ritual, die Smartaçastra das Ritual des Alltagslebens (Grihyasutra) und der sozialen Ordnung (Dharmaçastra)218.

Diese ganze Literatur steht nun der konfuzianischen überaus heterogen gegenüber.

Zunächst in einigen Aeußerlichkeiten. Auch die Brahmanen waren in einem spezifischen Sinne »Schriftgelehrte«. Denn auch die hinduistische heilige Literatur, wenigstens die orthodox-brahmanische, ist in einer dem Laien fremden219 Sakralsprache,[162] dem »Sanskrit« abgefaßt, wie die chinesische. Aber die hinduistische geistige Kultur war wesentlich weniger reine Schriftkultur als die chinesische. Die Brahmanen (und meist auch ihre Konkurrenten) haben außerordentlich lange an dem Grundsatz festgehalten: daß die heilige Lehre nur von Mund zu Mund überliefert werden dürfe. Die spezifische Schriftgebundenheit der chinesischen Geistigkeit erklärt sich, wie wir sahen, aus dem frühen Eindringen der offiziellen höfischen Annalistik und Kalendertätigkeit, schon zu einer Zeit, als die Technik der Schriftzeichen sich noch im Hieroglyphenzustand befand. Ferner aus dem Schriftlichkeitsprinzip der Verwaltung. Dies fehlte in Indien. Das Gerichtsverfahren war mündlich und kontradiktorisch. Die Rede spielte von jeher eine bedeutende Rolle als Interessenvertretungs- und Machtmittel. Durch Zauberei suchte man sich den Sieg im Redekampf zu sichern220 und alle hinduistische oder unter hinduistischem Einfluß stehende Kultur kennt die Religionsgespräche, Preisredekämpfe und Redekampf-Uebungen der Schüler als eine ihrer charakteristischen Einrichtungen. Während das chinesische Schrifttum sich, als hieroglyphisch- kalligraphisches Kunstwerk, an Auge und Ohr zugleich wendet, wendet sich daher die indische sprachliche Komposition vor allem an das (akustische, nicht: visuelle) Gedächtnis. Die alten Rhapsoden waren durch die Vyasas (Kompilatoren) einerseits, die spekulativen Brahmanen andererseits abgelöst worden. Beide wurden später durch Dichter und Rezitatoren, welche die »Kavya«- Formen: Erzählung mit Belehrung verbunden, pflegten, ersetzt: teils Pauranikas und Aithiasikas: Erzähler erbaulich ausgestatteter Mythen für ein wesentlich intellektualistisches bürgerliches Publikum, teils Dharmapatakas, die Rezitatoren der Rechtsbücher, welche wohl an die Stelle der alten Gesetzessprecher traten (und bei Manu und im Epos an der Kommission zur Abgabe von Gutachten für Zweifelsfälle beteiligt sind). Aus diesen Rezitatoren entwickelten sich etwa im 2. nachchristlichen Jahrhundert die zünftigen brahmanischen Pandits, schon wesentlich eine Schriftgelehrtenklasse. In jedem Falle hat bis tief in das indische Mittelalter die mündliche Ueberlieferung und Rezitation die Hauptrolle gespielt. Dies hat formal gegenüber der chinesischen heiligen Literatur einige[163] wichtige Folgen gehabt. Alle indische heilige Literatur (einschließlich der buddhistischen) war auf die Möglichkeit leichter Einprägung und jederzeitiger Reproduktion zugeschnitten. Sie bediente sich dafür teils der epigrammatischen Formel, – so in der ältesten philosophischen221 und Sutra-Literatur –, welche auswendig gelernt und vom Lehrer mit dem Kommentar, dessen sie dringend bedurfte, versehen wurde. Teils der Versform, welche einen großen Teil der nichtphilosophischen Literatur beherrschte. Ferner der Refrains: – endloser wörtlicher Wiederholungen einer Gedanken-oder Vorschriften-Kette mit Modifikation jeweils oft nur eines einzelnen Satzes oder Wortes entsprechend dem Fortgang der Erörterung. Sodann in außerordentlichem Umfang des Zahlenschematismus, oft der Zahlenspielerei: denn anders wird ein europäischer Lehrer diese Art der Verwendung von Zahlen kaum empfinden können. Endlich der, sozusagen: gedankenrhythmischen, auf den europäischen Leser als äußerst pedantisch wirkenden Systematik der Darstellung. Diese, in ihren Anfängen wohl rein mnemotechnisch bedingte, Art der brahmanischen Schriftstellerei hat sich nun im Zusammenhang mit der »organizistischen« Besonderheit des indischen Rationalismus zu einer die ganze Eigenart ihrer für uns wichtigsten Teile bestimmenden Manier gesteigert. Gegenüber dem Zusammenwirken von knapper sachlicher »Rationalität« der Sprachmittel und anschaulichem ästhetischem Duktus der Bilderschrift in der Art der stets auf die Anmut der epigrammatischen Prägung bedachten, dabei sprachlich nüchtern wirkenden chinesischen Formulierung entstand in Indien in der religiösen und ethischen Literatur ein Wuchern unermeßlichen Schwulsts, das nur dem Interesse systematisch erschöpfender Vollständigkeit diente. Endlose Häufungen von schmückenden Beiwörtern, Vergleichen, Symbolen, Streben nach Steigerung des Eindrucks des Großen und Göttlichen durch Riesenzahlen und wuchernde Phantasmen ermüden den europäischen Leser. Wenn er aus der Welt des Rigveda und dann der volkstümlichen Fabeln, die, im Panchatantra gesammelt, die Quelle fast des gesamten Fabelschatzes der Welt sind, oder selbst aus der weltlichen Kunst-Dramatik und -Lyrik in die Gebiete der religiösen Dichtung und der philosophischen Literatur tritt, wartet seiner ein mühsamer Weg. Die meisten Upanischaden[164] nicht ausgenommen, stößt er in diesem Wuste von ganz unanschaulichem, weil rational gewelltem, symbolistischem Ueberschwang der Bilder und innerlich dürren Schematismen nur in langen Zwischenräumen auf den frischen Quell einer wirklich – und nicht nur, wie sehr oft, scheinbar – tiefen Einsicht. Während die Hymnen und Gebetsformeln der Veden um ihrer magischen Erprobtheit willen nicht verändert werden konnten und daher ihre Ursprünglichkeit in der Ueberlieferung bewahrt haben, ist die alte epische Ritterdichtung, nachdem sich die Brahmanen ihrer angenommen hatten, zu einer unförmlichen ethischen Paradigmatik angeschwollen. Das Mahabharatha ist nach Form und Inhalt ein Lehrbuch der Ethik an Beispielen, keine Dichtung mehr. – Diese Eigenart der spezifischen brahmanischen, aber auch der gleichartigen heterodoxen indischen religiösen und philosophischen Literatur hat nun, obwohl sie als Ganzes an solchen Erkenntnissen, welche auch der europäische Denker als unbedingt »tief« werten wird, sicherlich überreich ist, doch an ihrem Teil auch dazu beigetragen, ihrer Entwicklung innerliche Schranken zu ziehen. Das hellenische Bedürfnis nach absoluter begrifflicher Klarheit ist in der Erkenntnistheorie über die sehr beachtenswerten Ansätze der Logik der Nyaya-Schule nicht hinausgekommen. Und zwar zum Teil eben infolge dieser Ablenkung des rationalen Bemühens in die Bahn des Pseudo-Systematischen, welche durch die alte Traditions-technik mitbedingt war. Der Sinn für die empirische Tatsache rein und schlicht als solche wurde durch die wesentlich rhetorische Gewöhnung, das Bedeutsame im Uebertatsächlichen, Phantastischen zu suchen, unterbunden. Ausgezeichnetes hat dennoch die indische wissenschaftliche Literatur auf dem Gebiet der Algebra und der Grammatik (einschließlich der Deklamationslehre, Dramaturgie und – weniger – der Metrik und Rhetorik) geleistet, Beachtenswertes auf dem Gebiet der Anatomie, der Medizin (mit Ausnahme der Chirurgie, aber mit Einschluß der Tierheilkunde) und Musikwissenschaft (Solfeggieren!). Die Geschichtswissenschaft dagegen fehlt aus den schon früher erwähnten Gründen ganz222. Und die indische naturwissenschaftliche Arbeit steht auf vielen Gebieten auf der Höhe etwa unseres 14. Jahrhunderts: sie ist nicht, wie schon die hellenische, auch[165] nur bis in die Vorhöfe des rationalen Experiments gelangt. Sie hat in allen Disziplinen, auch der für Ritualzwecke gepflegten Astronomie und in der Mathematik außer auf dem Gebiet der Algebra etwas, mit den Maßstäben occidentaler Wissenschaftlichkeit gemessen, Wesentliches aus Eigenem nur geleistet, wo sie Vorzüge genoß durch das Fehlen gewisser Vorurteile der occidentalen Religiosität (z.B. des Auferstehungsglaubens gegen die Leichensektion223. Oder wo die Interessen der auf raffinierter Kontrolle des psychophysischen Apparats ruhenden Contemplationstechnik sie zu Studien anregten, welche dem Occident, der diese Interessen nicht kannte, fernlagen. Alle Wissenschaft von menschlichem Zusammenleben blieb bei ihr polizeiliche und kameralistische Kunstlehre. Diese kann sich mit den Leistungen der Kameralistik unseres 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus messen. Auf naturwissenschaftlichem und eigentlich fachphilosophischem Gebiet hat man dagegen den Eindruck, daß die beachtenswerten Entwicklungsansätze irgendwie gehemmt worden sind224. Abgesehen davon, daß auch[166] alle diese naturwissenschaftlichen Studien zum erheblichen Teil nur im Dienst rein praktischer: therapeutischer, alchemistischer, kontemplationstechnischer, politischer Zwecke betrieben wurden, und daß der Naturwissenschaft hier wie in China und sonst das mathematische Denken der Hellenen, ihr unvergängliches Erbe an die moderne Wissenschaft, fehlte, ist auch die Gepflogenheit jener rhetorischen und symbolischen Pseudosystematik offenbar eine der Komponenten dieser Gehemmtheit gewesen. Die andere, wichtigere freilich ging von der Interessenrichtung des indischen Denkens aus, welches den Tatsächlichkeiten der Welt als solchen im letzten Grunde indifferent gegenüberstand und jenseits ihrer, in der Erlösung von ihr, durch Gnosis, das suchte, was allein not tat. Diese Denkrichtung ist formal bestimmt durch die Techniken der Kontemplation der Intellektuellenschichten: Damit haben wir es nun zu tun.

Wie alle Methodiken der apathischen Ekstase fußten diese sämtlich irgendwie auf jenem theoretischen Grundsatz, den noch die Quäker so formulierten: daß »Gott in der Seele nur spricht, wenn die Kreatur schweigt«. Praktisch lagen ihnen zweifellos alte Erfahrungen der Magier über die Wirkungen autohypnotischer[167] und diesen verwandter psychologischer Techniken und physiologische Erprobungen über die Wirkung der regulierenden Verlangsamung und temporären Stillestellung der Atmung auf die Gehirnfunktionen zugrunde. Jene Gefühlszuständlichkeiten, welche sich bei derartigen Praktiken ergaben, wurden als selige Entrücktheit der Seele und also als heilig gewertet. Sie bildeten die psychologische Grundlage der philosophischen Heilslehren, welche nun die Bedeutung jener Zustände im Rahmen der metaphysischen Spekulationen rational zu begründen unternahmen. Unter den mannigfachen Spielarten der apathisch-ekstatischen Techniken ragt eine schon dadurch hervor, daß sie von einer als orthodox anerkannten Philosophenschule getragen wurde: das Yoga (=Anspannung, Askese). Sie war die Rationalisierung der alten ekstatischen Zaubererpraxis. Es ist hier nicht die Aufgabe, diese vielbesprochene Erscheinung eingehender zu erörtern225. Sie galt ursprünglich als spezifische Laienaskese: der Heros Krischna sollte sie dem Vivasvat, dem Stammesgott der Kschatriya-Kaste, dieser sie den alten Weisen des Kriegerstandes mitgeteilt haben. Sie bedarf hier der Erwähnung, weil sie, in verschiedenartig abgewandelter Form, sowohl in den orthodoxen wie in den heterodoxen Heilslehren mehr als irgendeine andere zu Einfluß gelangte und die typischste Form der Intellektuellen-Heilstechnik war. Ob sie wirklich mehr innerhalb oder außerhalb des Brahma-nentums ihren Hautpsitz hatte, kann schwerlich entschieden werden. In historischer Zeit war sie jedenfalls weit über dessen Kreise hinaus verbreitet. Sie wurde, wie später zu besprechen, durch die klassische brahmanische Heilstechnik überholt, und heute werden als »Yogins« eine nicht sehr große, aber ziemlich verbreitete Schicht von Magiern ohne vedische Bildung bezeichnet, welche von den Brahmanen nicht als ihresgleichen anerkannt werden und daher – dem früher erörterten Entwicklungstypus entsprechend – eine eigene Kaste bilden226. Die Yoga-Technik stellt in den Mittelpunkt die Atmungsregulierung und die ihr verwandten[168] Mittel apathischer Ekstase, in Verbindung mit Konzentration der bewußt ablaufenden seelischen und geistigen Funktionen auf teils sinnhafte, teils sinnfremde oder mit einem unbestimmten Gefühls- und Andachtscharakter ausgestattete, aber stets durch Selbstbeobachtung kontrollierte Erlebnis-Abläufe bis zur völligen Entleerung des Bewußtseins von allem in rationalen Worten Greifbaren, zur bewußten Herrschaft über die Innervations-Vorgänge von Herz und Lunge und schließlich zur Autohypnose. Die Yoga-Technik ruhte gedanklich auf der Voraussetzung: daß das Erfassen des Göttlichen ein irrationales, durch irrationale Mittel herbeizuführendes seelisches Erlebnis sei, welches mit rational demonstrabler »Erkenntnis« nichts zu tun habe. Der klassische brahmanische Intellektualismus hat diese Auffassung nie ganz geteilt. Für ihn stand »Wissen« als solches im Mittelpunkt aller Heilswege. Zunächst das zünftige Wissen um das Ritual. Für die Erlösungsuchenden Brahmanen aber darüber hinaus die metaphysisch-rationale gnostische Deutung seines kosmologischen Sinns. Die Entwicklung dieser Auffassung ist allmählich aus der Ritualisierung und Sublimierung der heiligen Handlungen heraus eingetreten. Wie in anderen Religionen die richtige (ethische) »Gesinnung« an Stelle des nur äußerlich korrekten Handelns trat, so hier – dem spezifisch brahmanischen Prestige des Wissens und Denkens entsprechend – der richtige »Gedanke«. Es wurden dem amtierenden Brahmanen nun (worauf Oldenberg aufmerksam gemacht hat) bei gewissen Ritualhandlungen geradezu bestimmte Gedanken als Bedingung der magischen Wirksamkeit vorgeschrieben. Richtiges Denken und richtige Erkenntnis galten nun als Quelle magischer Macht. Hier wie sonst behielt dabei diese Erkenntnis nicht den Charakter eines gewöhnlichen verstandesmäßigen Wissens. Das höchste Heil konnte nur eine höhere Erkenntnis: eine Gnosis, wirken.

Das erstrebte Ergebnis der Yoga-Methodik waren in erster Linie magische Zuständlichkeiten und Wunderkräfte. So z.B. die Aufhebung der Schwerkraft: die Fähigkeit zu schweben, Fernerhin: »Allmacht« in dem Sinn, daß vorgestellte Ereignisse unmittelbar, ohne äußeres Handeln, kraft der bloßen magischen Macht des Wollens des Yogin, sich realisieren sollten. Endlich: »Allwissenheit«, d.h. Hellsehen, vor allem über die Gedanken anderer. Die klassisch brahmanische Kontemplation erstrebte dagegen die Seligkeiten des gnostischen Erfassens des Göttlichen.

[169] Alle intellektualistischen Heilstechniken verfolgten eben einen der beiden Zwecke; Entweder I. durch »Entleerung« des Bewußtseins, Raum für das Heilige zu schaffen, welches dann mehr oder minder unklar, weil unaussagbar, gefühlt wurde. Oder 2. durch eine Verbindung von innerlich isolierenden Techniken mit konzentrierter Meditation zu einem Zustand zu gelangen, der nicht als Fühlen, sondern als gnostisches Wissen empfunden wurde. Der Gegensatz ist kein scharfer. Aber es ist unverkennbar, daß die klassisch-brahmanische Kontemplation, entsprechend dem Nimbus des Wissens, dem zweiten Typus zuneigt. So sehr, daß die Nyaya-Schule geradezu die von ihr gepflegte rationale empirische Erkenntnis als Heilsweg ansehen konnte, was freilich dem klassisch-brahmanischen Typus keineswegs entsprach. Für diesen stand der metaphysische Charakter der Gnosis und daher der Wert mechanischer Meditationstechnik zur Herbeiführung des auf dem Wege empirischer Beweise nie zu gewinnenden »Schauens« als eines seelischen Ereignisses fest. Sie hat daher Yoga-Praktiken nie ganz abgelehnt. In der Tat war ja auch das Yoga in seiner Art eine höchste Form spezifisch intellektualistischer Eroberung des Göttlichen. Denn das von ihm in stufenweiser Steigerung der Konzentration (samadhi) erstrebte Fühlen mußte zunächst eben möglichst bewußt erlebt werden und zu diesem Zweck wurden die Gefühle der »Freundschaft« (zu Gott), des »Mitleids« (mit der Kreatur), der Seligkeit und schließlich der Indifferenz (gegenüber der Welt) planmäßig und rational durch Meditations-Exerzitien innerlich erzeugt. Erst die höchste Stufe ist dann die Katalepsie. Das klassische Yoga lehnte die irrationale Kasteiung: atha Yoga, der reinen Magier-Askese ab. Es war seinerseits eine rationalsystematisierte Form der methodischen Gefühls-Askese, darin etwa den Exerzitien des Ignatius vergleichbar. Es war in dieser Systematik der klassisch-brahmanischen Kontemplation an Rationalisierung wesentlich überlegen, welche ihrerseits wieder hinsichtlich des erstrebten Habitus (»Wissen«, nicht »Gefühl«) rationaler war.

Aber die klassisch-brahmanische Lehre konnte schließlich auch die virtuosenhaften Kasteiungen der weltflüchtigen Anachoreten nie gänzlich als heterodox verwerfen, weil der magische Charakter der Gnosis auch für sie feststand und weil überdies das populäre Prestige des »Tapas« als Mittel des Götterzwanges unerschütterlich war. Nur für den brahmanischen Normalmenschen,[170] sozusagen: den »Weltgeistlichen«, hat sie die temperierten Mittel der Kontemplationstechnik bevorzugt. Wie weit historisch die andächtige Konzentration auf die alte heilige Gebets-Silbe »Om«227 und die »Meditation« darüber – in Wahrheit: die Entleerung des Bewußtseins durch die mechanische Wiederholung dieses magisch wirksamen Wortes – zurückgeht, ist nicht feststellbar. Sie herrschte in orthodoxen wie heterodoxen Soteriologien Indiens. Und neben diesen Techniken andere mit ähnlichen Zielen. Immer handelte es sich darum, von der Welt der Sinne, der seelischen Erregungen, Leidenschaften, der Triebe und Strebungen, der nach Mitteln und Zwecken geordneten Erwägungen des Alltagslebens loszukommen, um dadurch die Vorbedingungen zu schaffen für einen Endzustand, der ewige Ruhe bedeutet: die Erlösung (moksha, mukti) von diesem Getriebe, die Vereinigung mit dem Göttlichen. Eine ewige himmlische Existenz nach Art der christlichen paradiesischen Seligkeit konnte für die klassische Soteriologie der Inder nicht als Ziel in Betracht kommen. Zunächst und vor allem wäre ihrem Denken naturgemäß der Gedanke zeitlich »ewiger« Belohnungen und Strafen für Handlungen oder Unterlassungen einer Kreatur in diesem vergänglichen Leben als ein blöder Unsinn, als jeder ethischen Proportionalität und gerechten Vergeltung widersprechend, erschienen. Auch im Himmel konnte man für endliche Verdienste nur endliche Zeit sein228. Außerdem aber waren die vedischen und auch die späteren hinduistischen Götter so wenig tugendhaft wie die Menschen, und nur mächtiger als der Alltagsmensch. Das konnte unmöglich der Endzustand für das brahmanische Erlösungsstreben sein. Wirklich gelöst von der Welt war innerhalb des Bereiches des Erlebten die Seele nur im Zustand traumlosen Tiefschlafes. Wo sie dann weilte, – wer konnte das wissen? Jedenfalls war sie dann nicht verflochten in das innerweltliche Getriebe. Also wohl in ihrer außerweltlichen Heimat.

Alle, sei es orthodoxe oder heterodoxe, den Intel lektuellenschichten entstammende, Heilstechnik Indiens hat diesen[171] Sinn einer Abwendung vom Alltagsleben, darüber hinaus vom Leben und der Welt überhaupt, mit Einschluß auch des Paradieses und der Götterwelt. Im Paradiese muß man ja, da auch das Lebendort endlich ist, vor dem Augenblick zittern, wo der Ueber-schuß der Verdienste aufgebraucht ist und nun unfehlbar wieder eine irdische Wiedergeburt eintritt229. Die Götter sind der magischen Gewalt des richtig angewandten Rituals unterworfen. Sie stehen in diesem Sinn unter, nicht über dem Wissenden, der sie zu zwingen weiß. Sie sind so wenig ewig wie die Menschen, sind leidenschaftlich begehrend und handelnd wie sie, und können also nicht identisch mit jenem Göttlichen sein, zu dem die Exerzitien der Heilstechniker hinstreben. Die brahmanische Erlösung ist in ihren klassischen Formen stets Erlösung von der Welt als solcher schlechthin und unbedingt. Sie unterscheidet sich dadurch von aller chinesischen Haltung zur Welt, einschließlich derjenigen Laotses und der anderen dortigen Mystiker. Dieser äußerste Radikalismus der Weltablehnung ist durch das Weltbild der indischen Religionsphilosophie bestimmt, welches der Sehnsucht nach Erlösung, konsequenterweise, eine andere Wahl als diese gar nicht ließ.

Denn was durch das Erlösungsstreben abgelehnt wurde, war nicht das Leiden oder die Sünde oder die Lieblosigkeit oder Unvollkommenheit der Welt, sondern ihre Vergänglichkeit. Sie haftet an allen wie immer gearteten, sinnlich wahrnehmbaren oder von der Phantasie vorstellbaren irdischen, himmlischen und höllischen Gestalten und Dingen: an der gesamten Welt des Geformten. Die Welt ist ein ewiges, sinnloses »Rad« von Wiedergeburt und Wiedertod, gleichmäßig abrollend in alle Ewigkeiten der Zeiten hinein. Und nur zwei unvergängliche Wesenheiten sind in ihr auffindbar: die ewige Ordnung selbst, und diejenigen Wesen, welche durch die Flucht der Wiedergeburten hindurch als Träger der Wiedergeburt gedacht werden müssen: die Seelen. Um die Struktur und die Beziehung dieser Wesen zur Welt und zum göttlichen Wesen dreht sich die Gesamtheit der hinduistischen Philosophie230 mit der ausschließlichen Frage:[172] wie die Seelen der Verstrickung in die Karman-Kausalität und dadurch in das Rad der Welt entzogen werden können? Denn daß dies die einzig denkbare Aufgabe einer »Erlösung« sein könne, stand seit der Vollentwicklung der Karman- und Samsara-Lehre schlechthin fest.

Dieser Entwicklungszustand voller innerer Konsequenz ist freilich erst allmählich und keineswegs überall erreicht worden. Wenn Karman und Samsara gemeinsamer Hinduglaube geworden sind, so doch nicht die Unpersönlichkeit des höchsten Göttlichen und die Unerschaffenheit der Welt. Diese letztere wurde freilich selbst da, wo persönliche Weltgötter geglaubt wurden, die Regel. Die späteren Kosmologien – wie sie die Puranas enthalten – lassen meist eine Reihe von Zeitaltern, im Vischnu Purana: Krita, Treta, Dvapara, Kali, unaufhörlich aufeinander folgen. Im Kali-Zeitalter verfallen die Kasten, die Çudra und die Häresien kommen hoch, weil Brahma schläft. Vischnu nimmt dann die Form Rudra's (Çiva's) an und zerstört alle Existenzformen: die Götterdämmerung bricht an. Dann aber erwacht Brahma in der Form Vischnus, des gnädigen Gottes, und entsteht die Welt aufs neue. Die älteren Kosmologien kennen solche höchsten Götter nicht oder unter anderen Namen und sind mannigfacher, hier nicht interessierender Art. Sehr allmählich hat das unpersönliche Brahman, ursprünglich: die magische Gebetsformel, dann: eine magische Weltpotenz entsprechend der magischen Kraft des Gebets, den älteren persönlichen Vatergott und Weltschöpfer (Prajapati) verdrängt. Dabei aber neigte es immer wieder dazu, selbst die Züge eines persönlichen überweltlichen Gottes – Brahma – anzunehmen, der allerdings nach der klassischen Lehre die Welt nicht mehr aus nichts geschaffen hat, sondern aus dem sie durch Individuationen emaniert ist. Seine Uebergöttlichkeit wurde für die Theorie vielleicht dadurch fixiert, daß er als Funktionsgott des Gebets nicht selbst Gegenstand des magischen Zwanges im Gebet sein konnte. Unterhalb der Kreise der philosophisch geschulten brahmanischen Intellektuellenschicht und selbst in ihrer eigenen Mitte erstand aber, wie sich später zeigen wird, stets in irgendeiner Form neu der eigentlich unklassische Glaube an einen höchsten persönlichen gütigen Schöpfergott oberhalb des Gewimmels der Lokal- und Funktions-Gottheiten: – das »Ekantika Dharma« (der »Monotheismus« würden wir sagen) – und vor allem der Glaube an Heilande und[173] paradiesische Erlösung. Speziell die Yoga-Praxis mit ihrer irrationalistischen Askese und dem gefühlsmäßigen Erlebnischarakter ihres Heilsbesitzes hat daher, wenigstens in der Form, welche Patañjali ihr gab, den persönlichen höchsten Gott (Isvara, »Herrscher«) nicht ausgeschaltet. Freilich: streng logisch konnte seine Existenz mit Karman und Samsara kaum vereinbar erscheinen. Es entstand ja nun sofort die Frage nach dem »Sinn« der Schöpfung und Regierung dieser mit Leiden, Qual und Vergänglichkeit belasteten Welt durch einen höchsten Gott. Neben minder konsequenten Lösungen ist diese Frage einmal (in der Maitrayana Upanischad) auch dahin beantwortet worden: daß der höchste Gott sie zum Zeitvertreib für sich: um »die Dinge zu genießen« ins Leben gerufen habe. Der gelegentlich von Nietzsche, aber mit jenem negativ moralistischen Pathos, welches so oft einen peinlichen Rest von bürgerlicher Philistrosität auch in manchen seiner größten Konzeptionen verrät, hingeworfene Gedanke von dem »Artistengott« trat hier als sehr ernsthafte metaphysische Hypothese auf. Er bedeutete den ausdrücklichen Verzicht auf einen »Sinn« der empirischen Welt. Ein mächtiger und zugleich gütiger Gott könne eine solche Welt nicht geschaffen haben: – dessen wäre nur ein Schurke fähig, lehrte in harter Klarheit die Samkhya-Philosophie231. Andererseits hätte die von der Orthodoxie angenommene Möglichkeit einer Erlösung von Seelen aus dem Rad der Wiedergeburten hinaus die zeitliche Endlichkeit der Welt, wenigstens des Ablaufs der Wiedergeburten, nach sich ziehen müssen, wenn die Zahl der überhaupt vorhandenen Seelen als endlich angenommen wurde. Tatsächlich wurde denn auch, um dem zu entgehen, von der konsequentesten Lehre232, die Zahl der Seelen als unendlich angenommen, so daß die Zahl derjenigen, welche zur Seligkeit der Erlösten gelangten, nicht nur, wie auch im Christentum, klein, sondern schlechthin: unendlich klein wurde. Das Pathos dieser Vorstellung mußte jenen religiös- »individualistischen« Zug, der jeder mystischen Heilssuche ihrer Natur nach anhaftet: daß der Einzelne letztlich nur sich selbst helfen kann und will, aufs höchste steigern: welchen Sinn konnte irgendeine Erlösungs-Mission gegenüber einer zahlenmäßigen Unendlichkeit von Seelen haben? Die religiöse Einsamkeit der Einzelseele ist, außer im Prädestinationsglauben,[174] niemals auf einen solchen Resonanzboden gestellt worden, wie in dieser Konsequenz der brahmanischen Lehre, die dabei gerade umgekehrt wie der Gnadenwahlglaube das Schicksal jeder einzelnen Seele gänzlich deren eigenes Werk sein ließ.

Die für die ganze Erlösungstheorie grundlegenden Lehren: (Seelenwanderung und ethische Vergeltungskausalität) sind – wie schon erwähnt – gleichfalls erst allmählich entwickelt worden. Die erste findet sich in den Brahmanas noch in sehr unentwickelter Verfassung233, die letztere überhaupt erst in den Upani-schaden. Einmal unter dem Druck des rationalen Bedürfnisses der Theodizee konzipiert, mußten freilich diese Lehren sofort auf den Sinn alles asketischen und kontemplativen Heilsstrebens entscheidend hinüberwirken. Durch sie wurde nicht nur die Vergänglichkeit als der entscheidende Grund der Weltentwertung konstituiert, sondern auch der Gedanke festgelegt: daß die Vielheit der Welt, ihre Formung und Individuation, das entscheidende Merkmal des Abfalls oder der Ferne vom Brahman (und nicht mehr wie einst: dessen Schöpfung) sei. Dadurch gewann das Brahman, bei konsequentem Denken, die Qualität als das unpersönliche Alleine und – da es hinter der Vielheit der Erscheinungen verschwand – doch zugleich Verborgene, der Welt gegenüber Negative. Und auch ethisch entschied sich dadurch endgültig die Qualität und der Sinn der Weltentwertung. Im fundamentalen Gegensatz gegen das Christentum konnten nicht »Sünde« und »Gewissen« die Quellen der Heilssuche sein. Die »Sünde« war im Volksdenken eine Art magisch-dämonischer Stoff, wie Tapas (Askese) auch. Im Rigveda war sie die Uebertretung der vom Gott des Rechts geschützten Gebote, über welche namentlich Varuna wachte234. In der späteren Literatur tritt der[175] Begriff ganz hinter dem des »Uebels« zurück. Nicht das Böse entwertet die Kreatur, sondein die metaphysische Wertlosigkeit der vergänglichen todgeweihten Welt und der Ueberdruß des Wissenden an ihrem sinnlosen Getriebe.

Je mehr sich die brahmanische Philosophie diesem Standpunkt näherte, desto mehr wurde die zentrale theoretische Frage für sie die nach dem Wesen und Wege der Individuation und ihrer Wiederaufhebung. Die indische Philosophie ist daher dem Schwergewicht nach eine Theorie von der metaphysischen Struktur der Seele, als der Trägerin der Individuation. Sehr verbreiteten Vorstellungen entsprechend galt ursprünglich der Atem als Stoff des – sozusagen – Immateriellen, »Seelischen« und »Geistigen« im Menschen, und der ursprünglich daran anknüpfende Begriff »Atman« wurde daher zur verborgenen, immateriellen, magischen Einheit des »Selbst« sublimiert. In der Mudeka-Upanischad235 besteht das innere Selbst noch aus »Atem«, welcher auch in der Khandogya-üpanischad noch allen anderen Organen gegenüber als etwas Besonderes, zum Leben spezifisch Unentbehrliches, dabei aber schon Körperloses gilt. Daneben findet sich in der letzteren schon der Astralkörper eines geistigen Selbst236. Und in der Maitrayana-Upanischad237 heißt es schlechthin: »was ein Mann denkt, das ist er«. Die Gedanken allein verursachen den Umtrieb der Geburten, wenn sie auf die Welt statt auf das Brahman gerichtet sind. Der Gedanke hat eben magische Kraft: »Mit Kenntnis, Glaube und Upanischad vollbringt man das Opfer wirksamer«, sagen die Upanischaden. Der einfache, aber wichtige Schritt zur Identifikation dieses magischen Trägers des selbstbewußten Einzellebens mit der magischen Weltpotenz, dem Brahman, wurde schon von der Esoterik der älteren Upanischaden vollzogen. Die berühmte Stelle in der Khandogya Upanischad (I, 1, 10), in welcher der Lehrer den Schüler durch das Reich des Lebendigen, vom Samenkorn bis zum Menschen, hindurchführt, ihm immer wieder die innerlich gewendete »feine Essenz« des Lebens, »kraft welcher alles da ist, was ein Selbst hat« (die indische Fassung der »Entelechie«) aufweist, mit dem steten Refrain: »Das ist das Wesen, das ist das Selbst, – und du, o Svetakatu, das bist du« (»tat tvam asi«), – gehört in der Tat zu den eindrucksvollsten Formulierungen der altbrahmanischen[176] Weisheit. Die enge Beziehung des klassischen brahmanischen Denkens zur Magie hinderte dabei jene sehr naheliegende und in der genannten Stelle nahezu vollzogene Materialisierung der höchsten Weltpotenz zur »Substanz«, welche der hellenischen Philosophie eignete. Das durfte nicht sein: das Prestige der magischen Kraft stand für das brahmanische Denken fest. Von hier aus wird die schroffe Ablehnung aller materialistischen Spekulationen – welche ja in ähnliche Bahnen geführt hätten – als heterodox leicht verständlich. Andererseits hatte die Rationalisierung der apathischen Ekstase zur Meditation und Kontemplation, wie sie die Selbstkonzentrations-(Yoga-) Technik zuerst konsequent durchführte, jene Fähigkeiten im Indertum geweckt, in welchen es nahezu unerreicht dasteht238: das virtuosenhafte intellektualistisch bewußte Erleben eigener seelischer Vorgänge, vor allem: Gefühlslagen. Die Gewöhnung, sich bei dem Getriebe und Gedränge des eigenen inneren seelischen Geschehens als interessierten, aber selbst unbeteiligten Zuschauer zu fühlen, welche durch die Yoga-Technik239 gepflegt wurde, mußte ganz natürlich zu Konzeptionen führen, welche das »Ich« als eine jenseits aller, auch der »geistigen« Vorgänge innerhalb des Bewußtseins, ja auch jenseits desjenigen Organs, welches das Bewußtsein und dessen »Enge« trägt240, stehende Einheit auffaßte. Aehnlich dem chinesischen Dualismus des Yang und Ying taucht daher in den jüngern Upanischaden als Quelle der Individuation die Zweiheit der Weltpotenzen auf: das männliche, geistige Prinzip, der »purusha«, ist verstrickt in die Gemeinschaft mit dem weiblichen Prinzip, der Urmaterie, der »prakriti«, in welcher unentfaltet die materiellen und die als materiell gedachten seelischen und geistigen Kräfte der empirischen Welt schlummern, mit Einschluß vor allem auch der drei Grundkräfte der Seele, der drei »Gunas«: »satva«, die göttliche Helle und Güte,[177] »rajas«, menschliches Streben und Leidenschaft, und »tamas« die bestialische Finsternis241 und Dummheit. Wie auf deren Wirken dann in fast der ganzen, auch späteren, hinduistischen Literatur in der üblichen schematischen und pedantisch-phantastischen Manier alle denkbaren Arten des inneren Sichverhaltens, als auf Mischungen jener drei Kräfte, zurückgeführt wurden, soll uns hier nicht näher interessieren. Wichtiger war, daß der purusha schon in den Upanischaden als der am Getriebe der Welt und der Seele, welches die prakriti heraufbeschwört, durch keinerlei eigene Aktionen beteiligte Zuschauer erscheint. Aber freilich als ein Zuschauer, der das Leben »erleidet«. So lange wenigstens, als er den Zusammenhang nicht durchschaut und sich in dem irrigen Glauben befindet: er selbst sei es, der handle und um seine Interessen drehe sich dieses ganze seelische Getriebe. Freilich: sobald er einmal zum Wissen gelangt und die prakriti und ihr Treiben als das sieht, was sie ist, – so wird sie sich so verhalten, »wie ein Weib aus guter Familie, welches man nackt erblickt«: sie wird sich zurückziehen und ihn frei geben für jene ewige unbewegte Ruhe, die seinem Wesen eignet.

Die brahmanische Spekulation fand sich mit diesen Konsequenzen mehreren wichtigen Schwierigkeiten gegenübergestellt, die jeder Mystik überhaupt, namentlich aber jeder gnostischen Mystik anhaften. Aus einer solchen war – das ist die eine Seite – keinerlei Ethik für das Leben innerhalb der Welt abzuleiten. Die Upanischaden enthalten nichts oder fast nichts von dem, was wir Ethik nennen. Und außerdem – das ist die zweite – trat diese Erlösung allein durch gnostisches Wissen in die schärfste Spannung gegen den überlieferten Inhalt der heiligen Schriften. Sie entwertete nicht nur die Götterwelt, sondern vor allem auch das Ritual. Wie sich die Orthodoxie half – und auch allein helfen konnte – ist aus dem bisher Gesagten im wesentlichen schon zu entnehmen: durch »organische« Relativierung. Es gibt keine »Ethik« schlechthin, sondern nur ein ständisch und beruflich, nach Kasten also, differenziertes »Dharma«. Zwar hat man nicht auf alle und jede Formulierung allgemeiner Tugendlehren für den Gentleman (Arya) verzichten können und wollen. Namentlich die Rechtsbücher (weniger die Hausritualbücher, die grihyasutras) konnten diese nicht gut entbehren. Aber die Tugenden sind, bald[178] in 8, bald in 10 Nummern vorgetragen, ungemein farblos: Barmherzigkeit, Geduld, Freiheit von Neid, Reinheit, Ruhe, korrektes Leben, Freiheit von Begierde und von Habsucht sind die 8 guten Qualitäten der Seele in Gautamas Rechtsbuch (dem ältesten, vielleicht vorbuddhistischen), und etwas positiver gewendet bei Manu: Zufriedenheit, Geduld, Selbstbeherrschung, nicht stehlen, Reinheit, Herrschaft über Begierde, Frömmigkeit, Wissen, Wahrhaftigkeit und Freiheit von Jähzorn. Oder ganz konkret zusammengefaßt in fünf Geboten für alle Kasten: kein lebendes Wesen verletzen, die Wahrheit sagen, nicht stehlen, rein leben, die Leidenschaften beherrschen. Ganz ähnliche Gebote gab es als erste Stufe des Yoga. Indessen beseitigt war die Spannung mit solchen Geboten nicht. Die Frage des Werts des vedischen Rituals für den Erlösung suchenden und die Frage der Erlösungs-chancen des zur Einübung des gnostischen Wissens nicht fähigen Laien bestanden. Es ist namentlich von E. W. Hopkins in verdienstvoller Art gezeigt worden, wie sie sich durch die klassische Literatur hinzog. Die Brahmanen durften zum mindesten dem Laien gegen über das vedische Ritual, dessen Träger sie selbst waren, nicht entwerten lassen. Für die Hausritualbücher (grihyasutras) ist das Ritual begreiflicherweise das Ein und Alles geblieben. Aber auch für die Rechtsbücher sind die vedischen Gottheiten und die Opfer, die Himmel und Höllen als Belohnungs- und Strafmittel die entscheidenden und meist die letzten Realitäten und der Ahnenkult eine zentrale Angelegenheit. Während in den Upanischaden das Ritual – es handelte sich für sie vor allem um das alte politische Soma-Ritual des ritterlichen Kults – allegorisch umgedeutet wurde, ist davon in den Hausritual- und Rechtsbüchern – für welche alle das Feuer-Ritual am häuslichen Herd im Mittelpunkt stand – keine Rede. Der altbrahmanische Rationalismus hatte über dem Gewimmel der Funktionsgötter einen »Vatergott«, den Prajapati, als Weltregenten postuliert. Nun war in der Esoterik das unpersönliche »Brahman« als Weltpotenz in den Mittelpunkt getreten. Die Schaffung der Figur des »Brahma« als persönlichen höchsten Gottes war dann wohl wesentlich eine Konzession an die Laienbedürfnisse. Aber in den Rechtsbüchern ist die dadurch geschaffene Lage keineswegs einheitlich. Zwar ist Brahma, als höchster Gott und – meist – identisch mit Prajapati, rezipiert. Aber er war schon damals und wurde[179] zunehmend ein »roi fainéant«, wie man mit Recht gesagt hat. Das »Atman« ist, und zwar als Kultobjekt, in den Rechtsbüchern im Sinn der Philosophie rezipiert, während die Hausrituale sich um diese Konzeption begreiflicherweise wenig bekümmern. Samsara und Karman sind wenigstens in den Rechtsbüchern selbstverständliche Voraussetzung, in den jüngeren übrigens stärker als in den älteren in den Vordergrund tretend. Aber die religiösen Zuchtmittel sind doch: längerer oder kürzerer Aufenthalt in Hölle und Himmel, die Freude und das jenseitige Glück der Ahnen im Fall der Tugend, dagegen ihr jenseitiges Elend im Fall der Uebeltaten des Nachkommen242, – und, wie sich von selbst versteht: im Fall eines durch den Nachkommen verschuldeten Uebelergehens die Rache des Ahnengeistes gegen ihn.

Entsprechend der Bedeutung des Ahnenkults und also der Nachkommenschaft für die Grabesruhe und Seligkeit der Vorfahren mußte nun eine besonders heikle Frage sein: ob man ohne Nachkommen gezeugt zu haben, ein Sramana werden dürfe. Denn, wenn man auch selbst der Ahnenopfer für sich nicht mehr zu bedürfen glaubte, so durfte man doch nicht die Vorfahren ohne Versorgung durch Nachkommen lassen. Die Rechtsbücher setzen denn auch im Allgemeinen als selbstverständlich voraus, daß der Einzelne alle Stadien, einschließlich des Haushalter-, also: des Ehe-Stadiums, durchmachen müsse, um jenseitiges Verdienst zu erlangen. Selbst die Vorstellung, daß das »jenseitige« Fortleben oder die »Unsterblichkeit« in gar nichts anderem bestehe, als in dem Fortleben in den eigenen Nachkommen, taucht auf243. Es wird bemerkt, daß es Brahmanen gebe, welche lehren: daß ein Asket nicht nötig habe, zuerst Haushalter zu sein, ehe er zum Mönchsleben übergehe. Es wird gelegentlich dagegen und gegen die Bedeutung des »Wissens« überhaupt als höchsten Heilswegs protestiert244 und der sophistische Wortklauber des Heils für verlustig erklärt245, ebenso wie der der Weltlust Ergebene. Aber im ganzen wird die Erscheinung eben doch als bestehend akzeptiert,[180] Regeln für die Mönche gegeben, welche denen der heterodoxen (janistischen) Mönche ziemlich ähnlich sind246, und wenn überhaupt eine Stellungnahme hervortritt, so ist es ungefähr die: daß eben mehrere Wege und auch mehrere Ziele der Heilssuche gegeben seien: der Mönch strebe nach jenseitigem persönlichen Heil, der in der Welt bleibende ritualistisch korrekte Laie nach diesseitigem Heil für sich, jetzt und in der Wiedergeburt, für seine Vorfahren und für seine Nachkommen.

Daß es der Heilssuche der Sramana dergestalt gelang, die magische Sippengebundenheit durch den Ahnenkult zu durchbrechen, gehört zu den wichtigsten und außerordentlichsten Erscheinungen und erklärt sich nur aus einem Umstand: aus den von niemand bezweifelten magischen Kräften, welche der Asket besaß. Dies Prestige des sramanistischen magischen Charisma hat in Indien – und dies ist der wichtigste Gegensatz gegen China – die Pietätspflichten gegen die Familie überwogen.

Wie früh diese Entwicklung eingetreten ist und wie stark die Widerstände waren, vermag heute niemand mehr zu sagen. Die Dinge waren wohl durchweg stark im Fluß, und das während der ganzen Brahmana-Periode vermutlich noch andauernde kolonisierende Vordringen in Nordindien, welches die Familienbande lockern mußte, hat vielleicht dazu beigetragen, jene Entwicklung zu ermöglichen. Mit ihr erst war aber die ungehemmte Bildung von brahmanischen Schulen, Asketengemeinschaften, Klöstern überhaupt möglich gemacht und die mystische Heilssuche der Philosophen wirklich ganz freigegeben.

Die philosophische Heilslehre ihrerseits, die sich als Çruti: Offenbarung, von Smriti: dem traditionellen Ritual, geschieden wußte, hat jene Relativierung der Heilswege je nach der Absicht und dem persönlichen Charisma der Heilssucher akzeptiert: Die Götter sind da und sind mächtig. Aber ihre Himmelswelt ist vergänglich. Durch korrektes Ritual kommt der Laie zu ihnen. Ebenso derjenige, der korrekt die Veden studiert, weil seine Geisteskraft zu mehr nicht reicht. Aber wer das Charisma der Gnosis hat, der kann heraus aus dieser Welt der Vergänglichkeiten. Ist Gnosis das höchste soteriologische Mittel, so kann diese doch inhaltlich zweierlei verschiedene Wege gehen. Entweder sie ist Erkenntnis[181] der materiell-seelisch-geistigen Vorgänge der Wirklichkeit als einer, dem ewig unveränderlichen und qualitätslosen Selbst gegenüber, heterogenen, aber wirklich existierenden Welt des qualitativ Besonderten, Individuellen, ewig Werdenden und Vergehenden, von der das Selbst sich abwendet. Dann ist der Dualismus von erkennendem Selbst und erkannter Materie (einschließlich der sog. »geistigen« Vorgänge) der grundlegende metaphysische Tatbestand. Oder die Erkenntnis ist »Gnosis« in einem weit spezifischeren Sinn: Die Welt der Wirklichkeit, des ewigen Werdens und Vergehens, kann gar nicht »wahr« sein. Sie ist Schein (Maya), ein Trugbild, welches von einem dämonischen Scheinwesen, dem Demiurg (Isvara), der Erkenntnis vorgezaubert wird. Maya also »schafft« recht eigentlich die Welt. Realität hat nicht dies scheinbare Werden und Vergehen, sondern das in allem scheinbaren Wandel beharrende Sein, natürlich: ein überwirkliches, göttliches Sein: das Brahman. Seine durch die (zur Scheinwelt gehörenden) Erkenntnisorgane entstandene Individuation ist der Einzelgeist. Wird durch Erkenntnis diese kosmische Illusion zerstört, so ist die Befreiung vom Leiden an ihr vollzogen. Der einmal zur Gnosis gelangte Geist bedarf nichts weiter. Und es bedarf nur der geeigneten Hilfsmittel, ihn in jenen Zustand zu bringen: Die Gnosis ist nicht ein gewöhnliches Wissen, sondern ein »Haben«. Also, – und darin liegt der eigentliche religiöse Unterschied beider Auffassungen, der praktisch wichtiger ist als die formalen erkenntnistheoretischen Gegensätze –: bei dieser Auffassung von der Trugnatur der Realität kann befreiende Erkenntnis nur durch eine mystische Wiedervereinigung des nur durch seine kosmische Illusion individualisierten Geistes mit dem göttlichen Alleinen, dem Brahman, erfolgen. Während bei der dualistischen Anerkennung der Wahrheit des Wirklichen ein Brahman für den erstrebten Heilserfolg letztlich überflüssig ist und dieser durch systematische Schulung des Erkennens im Sinne der Yoga-Praxis erreicht wird. Die dualistische Lehre befaßt sich daher nicht mit dem Brahman und ist in diesem Sinn »atheistisch«: die befreite Seele versinkt in ewigen traumlosen Schlaf, aber sie verschwindet nicht. Die monistische Brahman-Lehre könnte »pantheistisch« genannt werden, wenn man die ganz spezifische metaphysische »Ueberweltlichkeit« des Brahman als des einzig Realen gegenüber dem kosmischen Schein als durch jenen eigentlich dafür recht ungeeigneten[182] Ausdruck mit gedeckt gelten lassen wollte. Die dualistische Lehre von der Realität der Wirklichkeit hat die von Kapila zuerst systematisch begründete Samkhya-Schule gepflegt, die monistische Lehre vom kosmischen Schein ist unter dem Namen des »Vedanta« bekannt. Die Samkhya-Lehre ist vorgeformt schon in den Upanischaden und war ohne Zweifel dereinst und vor der Vedanta-Lehre die klassische Philosophie der indischen Intellektuellenschicht. Das beweisen schon ihre Beziehungen zum Yoga, dessen Technik für ihre Konstruktionen die Vorbedingungen schuf, und daneben der Einfluß, den sie gerade auf die älteren Sektenbildungen und Heterodoxien, darunter auch den Buddhismus, geübt hat. Ferner die Tatsache, daß wichtige Teile des Mahabharata ganz offensichtlich zuerst unter dem Einfluß der Samkhya-Lehre und erst später des Vedanta gearbeitet sind. Endlich auch äußerliche Umstände, wie die Zeit der ältesten systematischen Redaktionen247 der Lehre, und noch mehr: daß in der täglichen Wasserspende des Brahmanen noch jetzt Kapila und die alten Samkhya-Heiligen es sind, welche angerufen werden. Dagegen ist das Vedanta, niedergelegt248 in den Brahmasutras des Bâdarayâna, später kommentiert von dem bedeutendsten Philosophen der Schule: Çankara, das klassische System des späteren orthodox-brahmanischen Hinduismus geworden. Dies hat gewiß nichts Erstaunliches. Die stolze Ablehnung jeder Form des Gottesglaubens und die Anerkennung der Realität der Wirklichkeit in der Samkhya-Lehre mußte einer aus Brahmanen und ritterlichen Laien zusammengesetzten vornehmen Intellektuellenschicht, wie sie die Zeit vor der Großkönigstumsentwicklung kannte, leichter zusagen als einer reinen Priesterkaste, zumal wenn diese unter dem Schutz patrimonialer Großkönige stand. Für sie war die Existenz und der mystische Zutritt zur göttlichen Macht von zentralem Interesse. Und sie vermochte ihre Lehre auch leichter in Einklang mit den Voraussetzungen der vedischen Literatur zu bringen, – wie dies ja der Name (Vedanta = Ende, Abschluß[183] des Veda) auch als Ziel erkennen läßt. Der Versuchung, die in ihrer Art sehr großartigen Konzeptionen des Vedanta hier näher zu analysieren, muß widerstanden werden, da für unsern Zusammenhang nur die allgemeinsten Grundlagen von Bedeutung sind. Gewarnt werden muß vor der Vorstellung: daß diese Lehren nur rationale Umschreibungen einer »pessimistischen«, »weltverachtenden« Gefühlslage seien. Derartiges findet sich, wie bei den Hellenen, so auch in der altbrahmanischen und schon der altvedischen Literatur. Aber als wirkliche grundlegende Gefühlslage erst in späten Upanischaden249. Die großen indischen Lehrsysteme waren vielmehr rationale Konzeptionen stolzer und in ihrer Art konsequenter Denker. Und der mystische Charakter des Heilsguts, welcher ihre Lehren allerdings stark bestimmte, war die Folge der inneren Lage einer dem Leben als Denker über seinen Sinn, nicht als praktisch handelnd an seinen Aufgaben beteiligt, gegenübergestellten Intellektuellenschicht. Die Gefühls- und Empfindungslage und das »Weltgefühl« war mindestens zum Teil erst Folge, teils des rational erschlossenen Weltbildes, teils aber der durch Kontemplation erstrebten Heilszuständlichkeit. Wenn in einer der Upanischaden250 als die drei Kardinaltugenden der Inder: Selbstbezähmung, Freigebigkeit und »Mitleid« bezeichnet werden, so ist die an zweiter Stelle genannte ritterlichen, die erste brahmanisch-ständischen Ursprungs, das »Mitleid« aber offenbar das Produkt der bei der apathischen mystischen Ekstase typisch sich einstellenden liebesakosmistischen Euphorie, welche später im Buddhismus zu universeller ethischer Bedeutung gelangte.

Unter den offiziellen sechs orthodoxen Veda-Schulen251 waren Samkhya und Vedanta so sehr die vornehmsten, daß die Metaphysik der übrigen hier ganz beiseite bleiben kann. Auch die Lehre der beiden großen Schulen geht uns ja nur insoweit[184] etwas an, als sie die praktische Ethik in einer für unsern Zusammenhang wichtigen Art bestimmte.

Die »Orthodoxie« aller sechs Schulen äußerte sich darin, daß sie die Autorität der Veden, das heißt – wie früher dargelegt – insbesondere die Verbindlichkeit der in der brahmanischen Literatur entwickelten Ritu alpflichten nicht bestritten und die Stellung der Brahmanen nicht anfochten.

Die orthodoxen Philosophenschulen252 haben stets die Pluralität der Heilswege (marga) anerkannt. Rituelle Werke, Askese, Wissen waren die drei von Anfang an als klassisch anerkannten von ihnen. Nur die beiden letzten aber führten über die Karman-Verkettung hinaus. Und zwar vor allem: das Wissen. Dies Wissen war Gnosis, »Erleuchtung«, für welche die Ausdrücke Bodhi und Buddha gelegentlich vorkommen. Seine magische Bedeutung (namentlich bei den Yogins) lernten wir schon kennen. Seine soteriologische Bedeutung lag darin, daß es die unheilvolle Verknüpfung des Geistes mit der Materie, die »Materialisation« (Upadhi) des Ich, aufzuheben vermochte. Den Zustand völliger Beseitigung aller »materialen Unterlage« (Upadhi) bezeichnete man später als Nirvana253: ein Habitus, der dann eintritt, wenn alle Verknüpfung mit der Welt gebrochen ist. In der außerbuddhistischen Vorstellung wird es nicht, wie im alten Buddhismus, mit völligem »Verwehen« der Individualität gleichgesetzt, sondern mit dem Ende des Leidens durch Unrast: es ist nicht ein Verlöschen der Flamme, sondern ein stetiges, rauchloses und nicht flackerndes Brennen, wie es eintritt, wenn aller Wind sich gelegt hat254.

Das Nirvana und die ähnlichen durch andere Worte bezeichneten Seligkeitszustände sind nicht notwendig jenseitige in dem Sinn, daß sie erst nach dem Tode des Erlösten eintreten255.[185] Ganz im Gegenteil werden sie gerade für das Diesseits, als Resultate der Gnosis, erstrebt. Dem klassischen Sramana verlieh die vollendete Erreichung der Gnosis vor allem eine überaus wichtige Qualität: die hinduistische »certitudo salutis«. Der hinduistischen Metaphysik entsprechend bedeutete dies zweierlei: Einmal den schon gegenwärtigen Genuß der Seligkeit. Vor allem das Vedanta legte auf diese überirdische Wonne des mit dem Brahman Vereinigten das entscheidende Gewicht256. Dann aber: die schon diesseitige Befreiung von der Karman-Verkettung. Der durch vollkommenes Wissen erlöste »jivanmukti«257 war dem ethischen Vergeltungsmechanismus entronnen: »an ihm haftet keine Tat«. Das bedeutete, daß er im hinduistischen Sinn »sündlos« war. »Ihn quält die Frage nicht mehr: was habe ich für Gutes, was für Uebles getan?« Es ist daraus geradezu die für die Mystik charakteristische anomistische Konsequenz gezogen worden: daß das Ritual ihn nicht mehr binde, er über ihm stehe und daß er tun könne was immer258, ohne seine Seligkeit zu gefährden. Namentlich den metaphysischen Gedankengängen der Samkhya-Schule mußte diese Konsequenz naheliegen, die aber auch von den Vedantisten (z.B. im Taittireya-Upanischad) gezogen wurde259. Diese Folgerungen scheinen nun freilich keineswegs restlos anerkannt worden zu sein. Und ganz begreiflicherweise: die Entwertung, welche das Ritual dadurch erfuhr, war eine zu grundstürzende. Aber jene Vorstellungen dürften bei der Entstehung der heterodoxen, ritualfeindlichen, Erlösungsreligionen eine überaus wichtige Rolle gespielt haben, wie ja jede Mystik, als Selbsterlösung, wegen eben dieser anomistischen Konsequenzen, den Priesterschaften unvermeidlich gefährlich[186] zu werden pflegt. Tatsächlich fühlten sich die Sramana als die »Wissenden« den Brahmanen als bloßen Ritualtechnikern überlegen, zumal das Prestige ihrer persönlichen, sichtbaren Heiligkeit bei den Laien das weitaus größere war. Dies Spannungsverhältnis innerhalb des brahmanischen und brahmanisch beeinflußten Intellektuellentums lag eben ganz ebenso in der Natur der Sache, wie die Spannung zwischen Weltpriestern, ordinierten Mönchen der anerkannten Orden und Laien-Asketen im Occident.

Dagegen war die Stellung des religiösen Virtuosentums innerhalb des Hinduismus trotz mancher Aehnlichkeit eine etwas andere als sie innerhalb des katholischen Christentums es war, nachdem das Christentum endgültig den Charakter der kirchlichen Gnadenanstalt angenommen hatte. Zwar findet sich der, logisch gewertet, gegenüber dem Karman-Determinismus unkonsequente Gedanke der opera supererogato ria auch im Hinduismus. Aber zum mindesten fehlt das Anstaltsorgan, welches aus dem Thesaurus dieser Leistungen hätte Gnaden spenden können. Und in aller Regel blieb daher an Stelle jener Konzeption vielmehr die alte einfache unmittelbare Hagiolatrie bestehen: Die Verehrung und Beschenkung des Sramana war ein rituell gutes Werk, welches Verdienst erwarb. Der große Asket wurde Directeur de l'âme (Guru, Gosain). Eine feste Beziehung zu einem Kirchenoberhaupt aber fehlte. Und wenigstens als Grundsatz blieb bestehen: daß der Einzelne ausschließlich durch eigene Leistungen, nicht durch Anstaltsgnade ex opere operato, das Heil erwerben könne, so daß der Sramana für Dritte nur entweder magisch oder exemplarisch heilsbedeutsam wurde. Entsprechend den organisch abgestuften Heilsständen: der Erlösten (jivanmukta), der die Erlösung durch Askese oder Kontemplation außerweltlich Erstrebenden, der rituell korrekten vedisch gebildeten Brahmanen und weiterhin der einfachen Laienstände, wurde naturgemäß versucht, auch die Stufen der außerweltlichen soteriologischen karmanfreien Heilssuche und die innerweltliche Karman-Ethik zueinander in ein organisches Stufenverhältnis zu bringen. In der Samkhya-Soteriologie beispielsweise galten stufenweise, von unten nach oben, als Mittel der Vollkommenheit: 1. Freigebigkeit – entsprechend der alten vedischen Tugend, – 2. Verkehr mit weisen Freunden, – 3. eigenes Studium, – 4. Unterweisung anderer, – endlich 5. Meditation (ûha, Vernunftüberlegung).[187] Wer wirklich nach dem höchsten Ziel strebt, soll unbedingt Ataraxie (virâga) erstreben. Denn Begierde und Kummer machen der Belehrung unzugänglich. Er soll daher den Besitz aufgeben, vor allem aber sich der Gesellschaft mit Menschen entziehen, außer mit solchen, die im Besitz der Erkenntnis sind. Die Erfahrung aller Virtuosenreligiosität über die ungleiche religiöse Qualifikation der Menschen fehlte natürlich schon dem alten Hinduismus nicht. Nach der Samkhya-Lehre ist sie in den Dispositionen des Denkorgans (welches zur prakriti gehört) begründet: aviveka, die »Nicht-Unterscheidung«, ist das je nach Veranlagung verschieden starke Hemmnis der All-Erkenntnis. Indessen durch Konzentration, für welche später die Mittel des Yoga rezipiert wurden, kann man seiner Herr werden. Soziale Leistungen irgend welcher Art waren dagegen nach reiner Samkhya-Lehre für das Heil wertlos. Sogar die Anerkennung: daß die Erfüllung ritueller Pflichten positiven Heilswert auch für das Erlösungsstreben habe, scheint von dieser Lehre – ihrer Beeinflussung durch das Laiendenken entsprechend – erst spät rezipiert zu sein.

Die Vedanta-Lehre hat dagegen Riten und »Werke«, d.h. die traditionellen sozialen Pflichten stets als wertvoll auch für das Streben nach Erlösung geschätzt. An Stelle des alten der Unverbrüchlichkeit des Rituals entnommenen Begriffs des »Rita«, der kosmischen Ordnung, welche zugleich Realgrund alles Seins war und also dem chinesischen Tao-Begriff nahe stand, trat in der klassischen und späteren Literatur der Begriff des »Dharma«, des für den Einzelnen verbindlichen »Pfades« des sozial-ethischen Verhaltens, der »Pflicht«, in den Vordergrund, der aber nun seinerseits Neigung zeigte, zugleich »kosmische Ordnung« zu bedeuten. Die Wendung war durch die zunehmende Notwendigkeit, die innerweltlichen, vor allem rituellen, Pflichten der Laien priesterlich zu reglementieren, gegeben. Auch im Vedanta war aber die Anerkennung der Bedeutung der äußern Pflichten nur so gemeint: daß die korrekte Erfüllung der rituellen, vor allem der Opferpflichten auch die Erlangung des rechten Wissens indirekt ermögliche, nicht: daß sie selbst ein Weg zur Erlösung sei. Nach dem klassischen Vedanta sind sie in jenem indirekten Sinn freilich auch dafür ganz unentbehrlich. Nur wer das Wissen und damit die Seligkeit bereits voll erlangt hatte, dem nutzten nunmehr, auch nach dem Vedanta, die Riten nichts mehr.

[188] Wenn so Alltagspflichten und Heilsweg in ein für die brahmanische Auffassung leidlich befriedigendes organisches Stufenverhältnis zueinander gebracht waren, so konnte doch diese Lösung den Bedürfnissen der gebildeten Laienschaft keineswegs genügen. Vor allem nicht: der Ritterschaft. Wenn der Brahmane die Meditation neben seinem rituellen Alltagsberuf, als dessen sinnvolle Steigerung ins Außeralltägliche oder als esoterische Ergänzung betreiben und, vor allem, damit innerlich vereinbar finden konnte, so doch nicht der Krieger. Dessen ständisches Dharma war mit jeder Art von Weltflucht unvereinbar. Er konnte aber nicht gesonnen sein, sich um deswillen als schlechthin religiös minderwertig behandeln zu lassen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Alltags-Dharma und religiösem Heilsstreben hat teils zur Entstehung jener heterodoxen Erlösungsreligionen beigetragen, von welchen später zu reden sein wird, teils aber zu einer weiteren Entwicklung der Soteriologie innerhalb der Orthodoxie. Von dieser ist schon jetzt zu sprechen. Einerseits deshalb, weil ihre Anfänge sicherlich bis in die Zeit vor der Entstehung jener Heterodoxien hinaufreichen260 oder neben ihnen hergehen. Andererseits aber weil sie noch charakteristische Züge der alten Intellektuellensoteriologie an sich trägt, freilich – in der uns allein überlieferten Form – schon mit Ansätzen der späteren Heilandsreligiosität verbunden. Ihr klassischer literarischer Ort ist freilich erst das (in endgültiger Redaktion etwa aus dem 6. Jahrhundert nach Christus stammende) Mahabharatha und insbesondere eine jener dialogischen philosophischen Einschiebungen, an welchen dieses von Priesterhänden zu einem Kompendium der Ethik umgestaltete Werk so überaus reich ist. Sie sind aber offenbar, wenigstens zum Teil, priesterlich umgearbeitete und angepaßte Reminiszenzen und Niederschläge jener Diskussionen, welche in der hochgebildeten Kschatriya-Gesellschaft der Kleinfürstenzeit über das Problem der Theodizee stattgefunden haben261. Wir finden in ihnen einerseits Reste des jedem Kriegsheldentum naheliegenden Glaubens an ein »Verhängnis« und an ein wahlloses Spiel des Schicksals mit dem Menschen262, welches nur schwer[189] mit der Karman-Lehre vereinbar ist. Ferner, namentlich in den Unterredungen König Yudhischthiras mit seinen Helden und mit der Draupadi, Erörterungen über die »Gerechtigkeit« des individuellen Heldenschicksals und über das »Recht« des Krieges. Viele von ihnen zeigen, daß die rein eigengesetzliche (»macchiavellistische«) Auffassung des Fürsten-Dharma erst eine Folgeerscheinung teils der politischen Verhältnisse der späteren Signorie-Epoche, teils der konsequenten brahmanischen Rationalisierung war. Ausführlich und etwa in der Art des Buchs Hiob erörtert im Epos in seinem unverschuldeten Unglücke König Yudhischthira263 mit seiner Gemahlin das göttliche Weltregiment. Die Frau kommt zu dem Ergebnis: daß der große Gott mit den Menschen nur spiele nach seiner Laune. Und eine wirkliche Lösung wird hier so wenig wie bei Hiob gefunden: man solle derartiges nicht sagen, denn durch die göttliche Gnade erhalten die Guten Unsterblichkeit und – vor allem – ohne diesen Glauben würde sich das Volk nicht tugendhaft verhalten. Das klingt wesentlich anders, als die Philosophie der Upanischaden, die von einem solchen Weltregiment eines persönlichen Gottes nichts weiß. Es ist Uebernahme des alten Göttervaters der Brahmanas, der über den unethischen, vedischen Göttern steht, und diese Uebernahme ist teilsweise bedingt durch die in der Zeit der Endredaktion des Epos schon wieder aufgelebte Sektenreligiosität mit ihren persönlichen Göttern. Der persönlich gedachte Brahma ist dabei mit Prajapati identifiziert. Die vedischen Götter sind alle da. Aber sie sind machtlos. Der Held fürchtet sie nicht. Sie können ihm nicht einmal helfen, nur die Stirn kühlen und ihn bewundern. Er selbst ist – z.B. Arjuna – Göttersohn. Aber ihn kümmert auch der Vatergott wenig. Er ist von der Bedeutung des »Verhängnisses« überzeugt, auch wo er äußerlich sich zu der Philosophie der Brahmanen bekennt264. Das alte Walhall, der Kriegerhimmel des Indra, ist, scheint es, sein eigentliches Ziel und daher der Tod auf dem Felde der Ehre, der es ihm – hier wie überall – verschafft. Das ist, wird wenigstens an einer Stelle gesagt, besser als Askese und das Land, welches durch sie erreichbar ist. Tugend, Gewinn und Genuß sucht der Mann, und Handeln ist[190] besser als Nichtstun. Da nun aber dennoch auch der Held Askese übt und da die Macht des Asketen und die Bedeutung des heiligen Wissens auch ihm völlig feststeht, so kann diese reine Heldenethik offenbar nur eine Seite der Sache sein. So ist es in der Tat.

Ausführlich wird die Frage des ethischen Sinns des Heldendharma, also des Krieges, abgehandelt in jener hochberühmten in Indien bis in die Gegenwart zum Repertoire jedes Rezitators gehörigen Episode, die unter dem Namen Bhagavadgita bekannt ist265. Aeußerlich ist sie ein unmittelbar vor dem blutigen Kampf der miteinander blutsverwandten Gegner stattfindendes Gespräch zwischen dem Helden Arjuna, dem Bedenken über die Rechtmäßigkeit des Tötens so nahestehender Verwandter in der Schlacht kommen, und seinem Wagenlenker Krischna, der sie ihm mit Erfolg ausredet. Krischna gilt aber dabei dem Dichter bereits als menschliche Inkarnation (avatar) des höchsten göttlichen Wesens, des Bhagavat (»Erhabenen«) und wir befinden uns also schon auf dem Boden jener Epiphanien, welche die unklassische volkstümliche Heilandsreligiosität des späteren Hinduismus beherrschen. Immerhin stecken die weiter unten zu besprechenden charakteristischen Gefühlszüge dieser wichtigsten Religiosität des indischen Mittelalters noch in den Anfängen266 und handelt es sich in den wesentlichsten Punkten doch um ein Erzeugnis der vornehmen Intellektuellenschicht der älteren Zeit. Es wird wohl mit Recht angenommen, daß eine alte Gemeinschaft der Bhagavata-Verehrer Träger der Soteriologie war, welche das Bhagavadgita wiedergibt267. Die Samkhya-Lehre liegt, wie Garbe schön nachgewiesen hat, der ursprünglichen Fassung zugrunde. Erst nachträglich hat eine klassizistisch-brahmanische Redaktionstätigkeit korrekt vedantistische Züge hinzugefügt. Nun galt das Gedicht als Ausdruck rezipierter orthodoxer Lehre. Wie die Gestalt Krischnas historisch aufzufassen sei, ist bestritten. Nachdem er gelegentlich (ebenso wie Buddha vor der urkundlichen Feststellung seiner historischen Persönlichkeit) für einen alten Sonnengott gehalten worden war, traten hervorragende Forscher[191] dafür ein, daß er vielmehr der vergottete Stifter der Bhagavata-Religion gewesen sei268. Der Nichtfachmann kann das nicht entscheiden. Zwingende Gründe aber gegen die einfachste Annahme: daß die Gestalt der alten epischen Ueberlieferung entnommen und von einem Teil der Kschatriya als Standesheros verehrt worden sei, scheinen nicht eigentlich vorzuliegen. – Die Heilslehre des Bhagavadgita nun ist in ihren für uns wesentlichen Zügen die folgende:

Auf Arjunas Bedenken dagegen, nahe Verwandte in der Schlacht zu bekämpfen, antwortet Krischna, genau angesehen, mit mehreren, untereinander heterogenen Argumenten. Einmal269: der Tod dieser Feinde sei ohnedies beschlossen und würde auch ohne Arjunas Zutun erfolgen, also: mit dem Verhängnis. Dann270: Arjunas Kschatriya-Natur würde ihn auch ohne sein Wollen in den Kampf treiben; er habe darüber gar keine Gewalt. Hier wird die ethische Determiniertheit des Kasten-Dharma zur Kausalität umgedeutet, – eine Konsequenz, welche sonst auch im Samkhya, dem sie als Folgerung aus der rein materiell-mechanischen Natur aller Komponenten des Handelns nahe lag, nicht gezogen zu werden pflegt. Ferner – und dies ist das theoretische Hauptargument: – was nicht da sei, könne man auch nicht wirklich bekämpfen. Das klingt nach der Vedanta-Illusion. Allein es wird, dem Samkhya gemäß, dahin interpretiert: daß nur der erkennende Geist »sei«, alles Handeln und Kämpfen aber nur an der Materie hafte. Da der Geist zum Zweck der Erlösung ja aus der Verstricktheit in die Händel der Materie befreit werden soll, scheint das Argument schwächer, als es vom Standpunkt der Samkhya-Lehre aus war. Denn darnach ist eben das unterscheidende »Wissen« das, worauf es ankommt. Ist der passiv das Leben erleidende Geist einmal darüber zur endgültigen[192] Klarheit gekommen, daß nicht er handelt, sondern daß er nur das Handeln der Materie erleidet, so ist er in dessen Verdienst und Schuld, in den Karman-Mechanismus, nicht mehr verstrickt. Er wird, wie der klassische Yogin, zum Zuschauer seines eigenen Handelns und aller seelischen Vorgänge in seinem eigenen Bewußtsein und dadurch frei von der Welt271. Es bleibt aber die Frage: warum denn Arjuna unter diesem Umständen überhaupt kämpfen solle. Das folgt zwar, korrekt hinduistisch, rein positiv aus dem Kasten-Dharma des Kriegers, auf welches ihn Krischna verweist272. Dem Krieger ist Kampf – in einer für die epische Zeit noch charakteristischen Wendung sagt Krischna: »gerechter« Krieg – gut: ihn zu meiden bringt Schande; wer im Kampfe fällt, kommt in den Himmel, wer darin siegt, beherrscht die Erde; beides müsse, meint Krischna, dem Krieger gleich gelten. Allein das konnte nicht die letzte Meinung sein. Denn es fragte sich ja gerade, ob und in welchem Sinn das Handeln nach dem Kasten-Dharma, also: eine Tat der Materie, nicht des Erlösung suchenden Geistes, Heilswert haben konnte. In der Antwort darauf erst liegt die religiöse Originalität der Konzeption, welche das Bhagavadgita wiedergibt. Uns ist das Minimisieren der Verflechtung in die Welt, das religiöse »Incognito« des Mystikers bereits begegnet, welches die Folge der ihm eigenen Art von Heilsbesitz ist. Der alte Christ hat seine Güter und Frauen, »als hätte er sie nicht«. Im Bhagavadgita nimmt dies die besondere Färbung an: daß sich der wissende Mensch gerade im Handeln, richtiger: gegen sein eigenes Handeln in der Welt, bewährt, indem er das Gebotene – das ist immer: das durch die Kastenpflichten Gebotene – zwar vollzieht, aber innerlich gänzlich unbeteiligt daran bleibt: handelt, als handelte er nicht. Das ist beim Handeln vor allem dadurch bedingt, daß man es ohne alles und jedes Schielen nach dem Erfolge, ohne Begierde nach seinen Früchten, vollzieht. Denn diese Begierde würde ja Verstrickung in die Welt und also Entstehung von Karman bewirken. Wie der alte Christ »recht tut und den Erfolg Gott anheimstellt«, so tut der Bhagavata-Verehrer das »notwendige Werk«,273 – wir würden sagen: »die Forderung[193] des Tages« –, die »von der Natur bestimmte Obliegenheit«. Und zwar, – entsprechend der Exklusivität der Kastenpflichten274, – nur diese und keine andere275, ohne alle Bekümmertheit um die Folgen und vor allem: um den Erfolg für ihn selbst. Den Werken kann man nicht entsagen, solange man einen Körper (mit Einschluß der von der Samkhya-Lehre materiell gefaßten »geistigen« Funktionen) hat, wohl aber ihren Früchten276. Auch Askese und Opfer sind nur bei innerem Verzicht auf ihre Früchte, also nur dann, wenn man sie »um ihrer selbst willen« (wie wir sagen würden) vollzieht, nützlich für die Erlösung277. Wer beim Handeln den Hang zu den Früchten der Welt fahren läßt, »läd durch sein Handeln keine Schuld auf sich, weil er seine Handlung nur um des Körpers willen tut und zufrieden ist mit dem, was sich von selbst bietet«278. Ein solches Handeln bleibt Karman-frei. – Es ist verständlich, daß auch das Vedanta diese Lehren der Sache nach zu legitimieren in der Lage war. Von seinem Standpunkt aus ist das Handeln in der Welt des scheinbar Wirklichen ein Weben an den Truggeweben des Maya-Schleiers, hinter welchem sich das göttliche All-Eine verbirgt. Wer den Schleier gelüftet hat und sich mit dem All-Einen eins weiß, der kann an diesem illusionären Handeln ohne allen Schaden an seinem Heil weiter illusionär teilnehmen; das Wissen macht ihn dagegen gefeit, dadurch in Karman verstrickt zu werden, und die Ritualpflichten ergeben die Regeln, durch deren Innehaltung man sich gegen die Gefahr gottwidrigen Handelns schützen kann.

Wenn so diese Weltindifferenz gerade des innerweltlichen Handelns in gewissem Sinn die Krönung der klassischen indischen Intellektuellenethik bietet, so zeigt sich in dem Gedichte selbst der Kampf, unter welchem sie allmählich ihre endgültige Gestalt annahm. Zunächst gegen das altritualistische Brahmanentum:[194] Die Veda-Lehre ist getragen von Begierde nach Glück, sie betrifft die Gunas, die materielle Welt, nach deren Früchten sie strebt279. Weiterhin aber blieb Problem die relative Bedeutung des der Heilslehre entsprechenden, das heißt vom Erfolg absehenden und deshalb Karman-freien Handelns in der Welt gegenüber dem klassischen Erlösungsmittel der Kontemplation: die Stellung der innerweltlichen zur weltflüchtigen Mystik also. Ausübung der Werke sei vorzüglicher als das Aufgeben der Werke, heißt es einmal280. Und die Herkunft der Bhagavata-Religiosität aus der Kschatriya-Ethik macht es wahrscheinlich, daß diese Rangordnung die ältere ist gegenüber dem definitiven Standpunkt, der gelegentlich umgekehrt die Meditation als Angelegenheit der durch das entsprechende Charisma bevorzugten Heiligen höher stellt, im allgemeinen aber beide Heilswege: das jñanayoga (richtiges Erkennen) und das karmayoya (richtiges Handeln), jedes als dem betreffenden Kasten-Dharma entsprechend, einander gleichordnet. Auch in der vornehmen Laienbildung war eben die Stellung der methodischen Kontemplation als des klassischen Wegs zur Gnosis nicht mehr zu erschüttern. Und die Herkunft aus der vornehmen Intellektuellenschicht verleugnet sich nirgends. So in der absoluten Ablehnung der orgiastischen Ekstase und aller aktiven Askese. Die sinnlose Askese, voll Begier, Leidenschaft und Trotz, ist dem Bhagavadgita dämonischen Charakters281 und führt ins Verderben. Dagegen ist die intime Beziehung der Bhagavata-Frömmigkeit zum klassischen Yoga ganz offensichtlich, auch dem Samkhya-Dualismus von erkennendem Geist und erkanntem Bewußtseinsinhalt durchaus entsprechend und an zahlreichen Stellen des Gedichts bezeugt. Der Yogin ist mehr als ein Asket und – charakteristisch für die ursprüngliche Stellung zur klassischen brahmanischen Heilslehre – auch mehr als ein Erkennender282. Die Yoga-Technik der Atem- und Vorstellungs-Regulierung wird gepriesen283. Allgemein hinduistischen Grundsätzen entsprechen die Gebote der Weltindifferenz: der Ablegung von Begierde, Zorn und Habsucht als von den drei Toren zur Hölle284, die innere Befreiung von der[195] Zuneigung zu Haus, Gattin und Kindern285, die absolute Ataraxie286 als sicheres Merkmal des Erlösten. Im Gegensatz mindestens zu den klassischen Grundsätzen des Yoga und auch unvedantistisch, vielmehr eine schroffe Samkhya-Formel ist der Satz, daß, wer Geist und Materie kenne, nicht wieder geboren werde, »wie immer er auch gelebt habe«287. Diese anomistische Konsequenz, welche wir als letzte Folge der Stellung des Erlösten (jivanmukti) im klassischen Hinduismus schon kennen, wurde nun aber in der Bhagavata-Religiosität zu einem Motiv in Beziehung gesetzt, welches uns bisher noch nicht begegnet ist und auch tatsächlich in der klassischen Lehre einen Fremdkörper bildet.

»Gib alle heiligen Werke auf und nimm bei mir allein deine Zuflucht« sagt Krischna gelegentlich288. Selbst ein Bösewicht, der ihn, Krischna, richtig liebt, wird selig289. Das Sterben mit der Silbe »Om« und in Gedanken an Krischna gibt Sicherheit gegen jenseitiges Verderben290. Endlich und namentlich: jene Lehre, daß das innerweltliche Handeln dann nicht heilschädlich, ja positiv heilwirkend sei, wenn es vollzogen werde mit absoluter Weltindifferenz, also mit Bewährung des mystischen Gnadenstandes des geistigen Ich gerade auch gegenüber dem (scheinbar) eigenen, durch Verflechtung in die materielle Welt bedingten äußeren und inneren Tun und Sichverhalten, – diese mit den allgemeinen Voraussetzungen der althinduistischen Erlösungslehre leicht vereinbare Lehre findet sich positiv dahin gewendet: das Handeln in der Welt ist dann und nur dann heilfördernd, wenn es ohne allen Hang am Erfolg und den Früchten ausschließlich auf Krischna bezogen wird, nur um seinetwillen und nur in Gedanken an ihn geschieht. Es ist ein Typus der Glaubens-Religiosität, der da vor uns auftaucht. Denn »Glauben« im typischen religiösem Sinn ist nicht ein Fürwahrhalten von Tatsachen und Lehren: – dieses Fürwahrhalten von Dogmen kann nur Frucht und Symptom des eigentlich religiösen Sinns sein –, sondern die religiöse Hingabe, der unbedingte vertrauensvolle Gehorsam an und die Beziehung des ganzen Lebens auf einen Gott[196] oder Heiland. Als ein solcher Heiland zeigt sich hier Krischna. Er übt durch Erlösung derer, welche zu ihm allein ihre Zuflucht nehmen, »Gnade« (prasada). Das ist ein Begriff, der dem altklassischen Hinduismus, bis auf vielleicht schwache Spuren in einigen Upanischads, fehlt, schon weil er den überweltlichen persönlichen Gott voraussetzt und, im Grunde, auch eine Durchbrechung der Karman-Kausalität oder doch mindestens des alten Grundsatzes: daß die Seele ihres eigenen Schicksals alleiniger Schmied ist, bedeutet. Nicht der Gedanke der Gnadenspendung an sich ist der hinduistischen Religiosität ursprünglich fremd: der hagiolatrisch angebetete Magier spendete ja Gnadenkraft seines Charisma und die Gnade des überweltlichen persönlichen Gottes oder vergötterten Heros lag mithin als die Transponierung vom Menschlichen ins Göttliche an sich nahe. Wohl aber ist der Gedanke, daß die Erlösung aus der Welt auf diesem Wege zu erlangen sei, eine neue Erscheinung. Dennoch scheint es nicht wohl möglich, die Entstehung dieser Heilands- und Glaubensreligiosität der späteren Zeit, nach Buddha, zuzuschreiben, in welcher sie freilich, wie sich zeigen wird, üppig emporwucherte. Die erste inschriftliche Erwähnung der Bhagavat-Religion scheint291 sich allerdings erst im 2. vorchristlichen Jahrhundert zu finden292. Das Bhagavadgita ist aber bei näherem Zusehen so einheitlich durchtränkt von diesem Glauben und offenbar nur durch die Ueberzeugung von der Bedeutsamkeit gerade dieses Elements schon in seiner ersten Entstehung verständlich, es gibt sich ferner so sehr als eine esoterische Lehre einer religiösen Virtuosengemeinschaft hoher intellektueller Kultur, daß doch wohl angenommen werden muß: gerade dieses Moment sei der Bhagavata-Religiosität von Anfang an eigentümlich gewesen. Nun ist ja die Unpersönlichkeit des Göttlichen zwar die eigentlich klassische, aber vermutlich selbst in den Intellektuellenschichten,[197] selbst den brahmanischen, niemals ganz konsequent alleinherrschende gewesen. Am wenigsten wohl in den Laienkreisen und besonders in dem in der Entstehungszeit des Buddhismus schon stark entwickelten vornehmen, aber unmilitärischen Stadtbürgertum. Das Mahabharata als Ganzes ist eben in seinen alten Bestandteilen eine eigentümliche Mischung von Zügen alter stolzer humanistisch intellektualisierter Ritterethik: – »dies heilige Geheimnis verkünde ich euch: nichts ist edler als Menschentum«, sagt das Epos293, – mit dem bürgerlichen Anlehnungsbedürfnis an die Gnade eines die Menschengeschicke nach seinem Willen lenkenden Gottes und mit priesterlich-mystischer Weltindifferenz. In der unzweifelhaft der rationalen Intellektuellenreligiosität angehörigen, in ihrer konsequenten Form »atheistischen« Samhkya- Lehre scheint gelegentlich Vischnu als persönlicher Gott eine etwas unklare Rolle zu spielen. Das Yoga hielt stets, aus uns bekannten Gründen, am persönlichen Gott fest. Von den großen persönlichen Gottheiten des späteren Hinduismus ist jedenfalls außer Vischnu auch Çiva keine Neuschöpfung. Er war nur von dem altvedischen Brahmanentum literarisch, wegen des orgiastischen Charakters der alten Çiva-Kulte, totgeschwiegen. Während später und bis heute gerade die orthodoxesten vornehmen brahmanischen Sekten çivaitisch waren und sind, – nur eben unter Ausmerzung der orgiastischen Elemente aus dem Kult. Daß man zu einem Heiland als zu einer Inkarnation des Göttlichen »seine Zuflucht nimmt«, war ein Begriff, der wenigstens der heterodoxen Intellektuellen-Soteriologie, vor allem der buddhistischen, von Anfang an geläufig und schwerlich von ihr zuerst erfunden war. Schon weil, wie gesagt, die Stellung des magischen Guru von jeher gerade diesen unbedingt autoritären persönlichen Charakter trug. Was der alten klassischen Bhagavata-Religiosität zunächst noch fehlte oder jedenfalls – wenn es in ihr schon existierte – von der vornehmen Literatenschicht nicht rezipiert wurde, war die brünstige Heilandsminne der späteren Krischna-Religiosität. Aehnlich wie etwa die lutherische Orthodoxie die psychologisch gleichartige pietistische Christus-Liebe (Zinzendorf) als unklassische Neuerung ablehnte.

Ihren Charakter als einer Intellektuellen-Religiosität bewährte[198] die Bhagavata-Religiosität auch darin, daß sie die Gnosis und also den Heilsaristokratismus des Wissens zunächst unbedingt beibehielt. Nur der Wissende hat das Heil. Ja sie führte diese Konzeption erst in ihre letzten Konsequenzen durch, indem sie die Heilswege »organisch-ständisch« relativierte. Alle aufrichtig und mit ganzem Herzen beschrittenen Heilswege führen auch zum Ziel. Zu demjenigen nämlich, welches der Heilssucher erstrebt. Die Unwissenden, »die am Werke hängen«, das heißt: die von dem Streben nach den Früchten des Handelns nicht loskommen: zur Weltindifferenz nicht gelangen, soll man dabei lassen. Der Weise zwar handelt in weltindifferenter Erhebung (Yoga), aber er heißt die Werke jener Unwissenden »gut«294. Ganz ebenso wie der chinesische Mystiker die Masse bei ihren materiellen Genüssen beläßt und selbst nach dem Tao strebt. Und aus den gleichen Gründen: infolge der jedem religiösen Virtuosen selbstverständlichen Einsicht in die Unterschiede der charismatischen Qualifikation. Die Veda-Kenner, die Soma trinken (die ritualistischen Brahmanen) kommen in den Himmel Indras295 mit seinen zeitlich endlichen Freuden. Krischna zu erschauen ist freilich weder durch vedisches Wissen, noch durch asketische Bußübung möglich. Und direkt, durch das Streben der Vereinigung mit dem Brahman, zu Krischna zu gelangen – wie die Vedantisten wollen – ist sehr schwer296. Die Erlangung jenes endlichen Heils, welches den aufrichtigen Verehrern der Götter winkt, hat Krischna denen verliehen, welche, verlockt durch Begierde, – das heißt: durch Haften an der Schönheit der Welt – nicht imstande sind, ihm selbst so zu nahen297.

Das Entscheidende für die Erlösung selbst ist die »Beständigkeit« im Gnadenstande. »Unwandelbar« (aviyabhicârin) zu sein, die certitudo salutis zu haben, ist das, worauf alles ankommt: dann wird man auch in der Todesstunde Krischnas gedenken und zu ihm kommen. Und diese Gnade verleiht er denen, welche richtig, d.h. nach dem Dharma, handeln ohne Rücksicht auf den Erfolg und ohne persönliches Interesse an ihrem Tun. Man darf, occidental ausgedrückt, dem eigenen Handeln gegenüber nur die Fichtesche »kalte Billigung« seiner Richtigkeit,[199] am Dharma gemessen, haben. Dann ist man wahrhaft weltindifferent, also weltentronnen und dadurch karmanfrei.

Das jedem Occidentalen Auffallende an dem Heiland Krischna und das, was ihm von den späteren, durchweg von der Sektentheologie als sündlos hingestellten Heilanden scheidet, ist seine ganz unbezweifelbare und auch unbezweifelte Untugendhaftigkeit. Die allerärgsten und unritterlichsten Verstöße gegen Treu und Glauben gibt er im Mahabharata seinem Schützling ein. Darin zeigt sich wohl zunächst das relativ hohe Alter und die epischheroische, nicht astrale (sonnengöttliche) Herkunft dieser Figur, deren vom alten Heldenepos geprägte Züge nun einmal nicht fortretouchiert werden konnten. Die Heilslehre fand sich mit der Tatsache dadurch ab, daß sie einerseits die Worte, nicht die Taten, für das allein Wesentliche erklärte, andererseits die Weltindifferenz auch darauf bezog: das nun einmal vom Schicksal (in der orthodoxen Vorstellung: letztlich durch Karman) unerforschlich Bestimmte geschieht und es gilt, wenigstens für einen Gott, gleich, auf welchem Wege.

Offensichtlich ist die innerweltliche Ethik des Bhagavadgita »organisch« in einem wohl kaum noch zu überbietenden Sinn: die indische »Toleranz« ruht auf dieser absoluten Relativierung aller ethischen und soteriologischen Gebote. Sie sind organisch relativiert nicht nur nach der Kastenzugehörigkeit, sondern auch nach dem Heilsziel, welches der Einzelne erstrebt. Und es handelt sich nicht nur um negative Toleranz, sondern: 1. um positive – nur: relative und abgestufte – Schätzung der entgegengesetztesten Maximen des Handelns, 2. um Anerkennung der ethischen Eigengesetzlichkeit, des gleichmäßigen Eigenwerts der einzelnen Lebensgebiete, welcher daraus folgen mußte, daß sie alle gleichmäßig entwertet waren, sobald es sich um die letzten Probleme der Erlösung handelte. Daß diese Universalität des organischen Relativismus nichts nur Theoretisches, sondern tief in das Gefühlsleben eingedrungen war, lehren die Dokumente, welche der Hinduismus aus der Zeit seiner Herrschaft hinterlassen hat. In der sogen. Kanawsa-Vers-Inschrift des Brahmanen Sivagana298 beispielsweise schenkt dieser zwei Dörfer zum Unterhalt einer von ihm gebauten Eremitage. Er hat durch seine Gebetskraft seinem König geholfen, ungezählter Feinde Herr zu werden und sie abzuschlachten: die Erde dampft in[200] diesen Versen, wie üblich, von Blut. Dann aber »baute er frommen Sinnes dieses Haus, auf welches seine Augen wendend ein Jeder in der Welt von dem Makel des Kali-Zeitalters befreit wird«. Er tat dies, weil er fand, daß das Leben belastet ist mit jeglicher Art von Leid, mit Alter, Trennung und Tod, und daß diese Art der Verwendung der einzige gute, allen Guten in der Welt bekannte Gebrauch des Reichtums sei. »Er baute es«, heißt es in den folgenden Versen weiter, »in der Jahreszeit, in welcher der Wind den Duft der Açoka-Blüten trägt und die Mango-Schößlinge sprießen. Schwärme schwankender Bienen erfüllen alles rundum und mehr als sonst erzählt das Blitzen aus den Augenwinkeln schöner Frauen von ihrer Liebe. Das Zeichen, das Liebe auf ihren runden Busen prägte, enthüllt sich und ihr Leib sprengt das Mieder, wenn sie, verwirrt, auf Schaukeln sitzen Angesicht in Angesicht mit ihrem Geliebten. Lächelnd schlagen sie hastig ihre halbgeschlossenen Augen nieder und nur das Zucken ihrer Brauen verrät die Freude, die in ihrem Herzen lebt. Die Frauen der Wallfahrer aber sehen das Land leuchten von Mango-Bäumen und hören es tönen vom Summen trunkener Bienen. Und ihnen kommen die Tränen.« Es folgt die Aufzählung der Abgaben für Weihrauch und andere Bedürfnisse der Eremitage und ihre Deckung. Man sieht, hier kommt alles, was das Leben enthält, zu seinem Recht. Die wilde Kriegswut des Helden, dann die Sehnsucht nach Erlösung vom immer neuen Trennungsschmerz, aus dem das Leben sich zusammensetzt, die Stätte der Einsamkeit für die Meditation und wieder die strahlende Schönheit des Frühlings und das Glück der Liebe. Dies alles schließlich hineingetaucht in die resignationsgetränkte wehmütige Traumstimmung, welche der Gedanke des Maya-Schleiers erzeugen mußte, in den ja schließlich alles: diese unwirkliche und vergängliche Schönheit ebenso wie das Grausen des Kampfes der Menschen untereinander, verwoben war. Diese hier in einem offiziellen monumentalen Dokument299 niedergelegte Stellung zur Welt durchzieht letztlich auch die charakteristischen Teile der indischen Literatur. Realität und Magie, Handlung, Räsonnement[201] und Stimmung, geträumte Gnosis und scharf bewußtes Fühlen gehen miteinander und ineinander, weil alle letztlich gleich unwirklich und unwesenhaft bleiben gegenüber dem allein realen göttlichen Wesen. –

Mit diesem auf religiöser Weltentwertung gegründeten Universalismus und organischen Relativismus der »Weltbejahung« befinden wir uns auf dem eigentlichen Boden der klassischen indischen Literatenanschauung, wie sie die Intellektuellenschicht der alten Adels- und Kleinfürsten-Epoche geschaffen hatte. Neben ihr aber gab es zweierlei andere Formen des Religiösen. Zunächst, und zwar von jeher, jene massive volkstümliche Orgiastik, welcher die Intellektuellen die Tür verschlossen hatten, und die sie als ein Pudendum verabscheuten und verachteten oder die sie ignorierten, wie sie es nach Möglichkeit noch bis in die Gegenwart hinein taten. Alkoholische, sexuelle und Fleischorgien, magischer Geisterzwang und persönliche Götter, lebende und apotheosierte Heilande und brünstige kultische Minne zu persönlichen Nothelfern, welche als Fleischwerdung großer erbarmender Götter galten, waren hier zu Hause. Wir sahen, daß die Bhagavata-Religion, obwohl in ihrer Struktur noch innerhalb der vornehmen Schicht heimisch, doch schon weitgehende Konzessionen an den Heilandsglauben der Laien und ihr Bedürfnis nach Gnade und Nothilfe enthielt und werden später sehen, wie unter stark veränderten Machtverhältnissen die herrschende Intellektuellenschicht sich genötigt fand, jene viel weitergehenden Kompromisse mit diesen plebejischen Formen der Frömmigkeit zu schließen, welche die Quelle der spezifisch unklassischen hinduistischen Sekten und namentlich der vorherrschenden Vischnu-und Çiva-Religiosität des Mittelalters und der Neuzeit waren. Vorher aber haben wir uns noch zwei religiösen Erscheinungen zuzuwenden, welche in allem Wesentlichem auf dem Boden der alten Intellektuellenschicht gewachsen waren, aber von dem Brahmanentum als nicht nur unklassisch, sondern als ärgste und verwerflichste Ketzereien bekämpft, verflucht und gehaßt wurden: einem Tiger zu begegnen, hieß es, sei besser als diesen Ketzern, weil er nur den Leib, sie aber die Seele verderben. Die beiden Glaubensformen sind rein geschichtlich deshalb wichtig, weil es ihnen während mehrerer Jahrhunderte gelang, – dem Buddhismus zeitweise in ganz Indien, dem Jainismus in beträchtlichen Teilen Indiens, als herrschende Konfessionen anerkannt zu[202] werden. Dies war nur vorübergehend. Aber die eine von ihnen: der Buddhismus, entwickelte sich, wenn er auch in Indien – wenigstens in Vorderindien – wieder völlig verschwand, zu einer Weltreligion, deren teilweise die Kultur umwälzender Einfluß von Ceylon und Hinterindien über Tibet bis nach Sibirien reichte und China, Korea und Japan ein schloß. Die andere: der Jainismus, blieb im wesentlichen auf das klassische Indien beschränkt und schrumpfte zu einer heute ziffernmäßig kleinen Sekte ein, welche jetzt von den Hindus als zu ihrer Gemeinschaft gehörig reklamiert wird. Sie bietet immerhin aber gerade in unseren Zusammenhängen ein gewisses Interesse dadurch, daß sie eine ganz spezifische Kaufmannssekte ist, so exklusiv und noch exklusiver als die Juden es im Occident waren. Hier also scheinen wir auf eine dem Hinduismus sonst offensichtlich gänzlich fremde positive Beziehung einer Konfession zum ökonomischen Rationalismus zu stoßen. Der Jainismus300 ist von den beiden Konfessionen, welche in schärfster Konkurrenz miteinander standen und beide in der klassischen Kschatriya-Zeit im 7. und 6. vorchristlichen Jahrhundert entstanden, die ältere und ausschließlicher indische und wir wenden uns auch aus sachlichen Zweckmäßigkeitsgründen der Darstellung ihm zuerst zu.

Wie zahlreiche andere Heilslehrer der klassischen Zeit, so entstammte nach der Ueberlieferung auch der Stifter der Jaina-Askese, Iñatriputra (Nataputta), genannt Mahavira (gestorben um 600 vor Chr.), dem Kschatriya-Adel. Die ursprüngliche Herkunft der Sekte aus dem alten vornehmen Intellektuellentum drückt sich noch in der Versicherung der rezipierten Biographie301 aus: daß Arhats (Heilige) stets aus königlichem Geschlecht reiner Abkunft und niemals aus niederen Familien stammten. Auch nicht, wird hinzugesetzt, aus Brahmanenfamilien302. Darin drückt sich der von Anfang an schroffe Gegensatz des aus Laienkreisen stammenden Sramana gegen die vedisch-brahmanische[203] Bildung aus. Die Ritualgebote und Lehren der Veden ebenso wie die heilige Sprache werden schroff abgelehnt. Denn sie sind von nicht der geringsten Bedeutung für das Heil, welches vielmehr allein von der Askese des Einzelnen abhängt. In den allgemeinen Voraussetzungen: daß die Erlösung in der Befreiung vom Rade der Wiedergeburten bestehe, und daß sie nur durch Loslösung von dieser Welt der Vergänglichkeit, des innerweltlichen Handelns und des am Handeln haftenden Karman zu erlangen sei, stand die Lehre völlig auf klassischem Boden. Sie akzeptierte – im Gegensatz zum Buddhismus – im wesentlichen die klassische Atman-Lehre303, ließ aber, ebenso wie die alte Samkhya-Doktrin, das Brahman, die göttliche Weltseele, ganz beiseite. Heterodox war sie vor allem wegen der Ablehnung der Veda-Bildung und des Rituals sowie des Brahmanentums. Denn der absolute Atheismus der Lehre, die Verwerfung jeder höchsten Gottheit und des gesamten hinduistischen Pantheon304, wäre kein unbedingt zwingender Grund dafür gewesen, da auch die sonstige alte Intellektuellen-Philosophie, vor allem die Samkhya-Lehre dem, wie wir sahen, zuneigte. Freilich verwarf der Jainismus auch alle orthodoxe Philosophie, die Vedanta nicht nur, sondern auch die Samkhya-Doktrin. Dennoch stand er der letzteren nahe in gewissen metaphysischen Voraussetzungen. So namentlich in der Ueberzeugung vom Wesen der Seele. Alle Seelen – das heißt die eigentlichen, letzten Ich-Substanzen – sind nach ihm dem Wesen nach einander gleich und ewig. Sie und nur sie, nicht eine absolute, göttliche Seele, sind »jiva«, Träger des Lebens. Und zwar sind sie (im scharfen Unterschied gegen die buddhistische Lehre) eine Art von Seelen-Monaden, die unendlicher Weisheit (Gnosis) fähig sind. Die »Seele« ist nicht ein bloß passiv empfangender Geist, wie bei der orthodoxen Bhagavata-Religion, sondern, dem weit stärker ausgeprägten Zusammenhang mit der alten aktiven Selbstvergottungs-Askese entsprechend, ein aktives Lebensprinzip, dem als Gegensatz (ajiva) die Trägheit der Materie gegenübersteht. Der Leib als solcher ist das Uebel. Der Zusammenhang mit der Kasteiungs-Magie blieb beim Jainismus, innerhalb der durch seine[204] intellektualistische, also antiorgiastische Herkunft gegebenen qualitativen Schranken, enger als bei irgendeiner anderen Erlösungsreligion Indiens. Dies drückt sich schon darin aus, daß der Jainismus anstatt der gänzlich entthronten Götterwelt die großen Virtuosen der Askese, der Stufenfolge nach: den Arhat, Jina, und als höchsten: den Tirthankara, bei Lebzeiten als Magier und nach dem Tode als exemplarische Nothelfer göttlich verehrte305. Von insgesamt 24 Tirthankaras war nach der Legende Parsvanatha (angeblich im 9. vorchristlichen Jahrhundert) der vorletzte, Mahavira aber der letzte. Das »prophetische Zeitalter« ist mit ihnen geschlossen. Nach ihnen hat niemand mehr die Stufe der Allwissenheit und auch nicht mehr die vorletzte Stufe (manahparyaya) erreicht. Denn wie die Qualität der brahmanischen Gnosis sich in Stufen steigert, so stuft sich das jainistische Charisma nach dem Kalpa Sutra306 ständisch siebenfach ab je nach den Stufen des Wissens: von der Kenntnis der Schriften und heiligen Traditionen zur Stufe der Erleuchtung über die Dinge dieser Welt (Avadhi): der ersten übernatürlichen Wissensstufe, sodann zur Fähigkeit des Schauens (Hellsehens), dann zum Besitz magischer Kräfte und der Fähigkeit der Selbstverwandlung, dann (5. Stufe) zur Kenntnis der Gedanken aller Lebewesen (manahparyaya: der zweiten übernatürlichen Wissensstufe), weiter zur absoluten Vollkommenheit, Allwissenheit (kevala, höchste übernatürliche Wissensstufe) und Freiheit von allen Leiden (6. Stufe) und damit endlich (7. Stufe) zur Gewißheit der »letzten Geburt«. Von der Seele des vollkommen Erlösten sagt daher das Acharanga Sutra307, daß sie, qualitätlos, körperlos, tonlos, farblos, geschmacklos, gefühllos, ohne Auferstehung, ohne Kontakt mit der Materie, wissend und wahrnehmend »ohne Analogie« (also: bildlos und unmittelbar), ein »unbedingtes« Dasein führen werde. Wer im Leben die rechte intuitive Erkenntnis erlangt hat, sündigt nicht mehr. Er sieht, wie Mahavira, alle Götter zu seinen Füßen, ist allwissend. Mahaviras (irdischer)[205] End-Zustand, in den der vollendete Asket eingeht, wird auch308 »Nirvana« (in diesem Fall = dem späteren jivanmukti) genannt. Dieser Zustand des jainistischen Nirvana bedeutet aber – wie Hopkins zutreffend bemerkt hat – im Gegensatz zum buddhistischen nicht Erlösung von der »Existenz« überhaupt, sondern: »Erlösung vom Leibe«, der Quelle aller Sünden und Begierden und aller Begrenztheit der geistigen Kräfte. Man sieht sofort klar die geschichtliche Beziehung zur wunderkräftigen Magie. Daher ist zwar das Wissen auch bei den Jaina das höchste – in Wahrheit: das magische – Mittel der Erlösung, wie bei allen klassischen Soteriologien. Der Weg aber, es zu erlangen, ist neben Studium und Meditation in höherem Grade als bei anderen Literatensekten und ähnlich wie bei den Magiern: die Askese. Sie ist bei ihnen geradezu auf die äußerste Spitze getrieben: die höchste Heiligkeit erlangt, wer sich zu Tode hungert309. Im ganzen aber ist sie gegenüber der alten primitiven Magier-Askese im Sinne der »Weltabkehr« spiritualisiert. »Hauslosigkeit« ist der grundlegende Heilsbegriff. Sie bedeutet Abbruch aller Weltbeziehungen, also vor allem Indifferenz gegen Sinneseindrücke und Vermeidung alles Handelns nach weltlichen Motiven310, Aufhören überhaupt zu »handeln«311, zu hoffen und zu wünschen312. Ein Mann, der nur noch fühlt und denkt: »Ich bin Ich«313 ist »hauslos« in diesem Sinn. Er sehnt sich weder nach dem Leben noch nach dem Tod314, – weil beides »Begierde« wäre, die Karman wecken kann –, hat weder Freunde noch verhält er sich ablehnend zu Handlungen Anderer ihm gegenüber (z.B. zu der üblichen Fußwaschung, die der Fromme am Heiligen vollzieht315. Er handelt nach dem Grundsatz, daß man dem Uebel nicht widerstehen solle316 und daß sich der Gnadenstand des Einzelnen im Leben im Ertragen von Mühsal und Schmerzen zu bewähren habe. Die Jaina waren daher von Anfang an nicht[206] eine Gemeinschaft von einzelnen, im Alter oder temporär sich dem Asketenleben hingebenden Weisen. Und auch nicht einzelne Virtuosen lebenslänglicher Askese. Auch nicht bloß einer Vielheit einzelner Schulen und Klöster. Sondern ein besonderer Orden von »Berufsmönchen«. Sie haben vielleicht zuerst, jedenfalls aber von den älteren vornehmen Intellektuellenkonfessionen am erfolgreichsten, die typische zwiespältige Organisation der hinduistischen Sekten: die Mönchsge meinschaft als Kern, die Laien (upasaka, Verehrer) als Gemeinde unter der geistlichen Herrschaft der Mönche, durchgeführt. Die Aufnahme des Novizen in die Mönchsgemeinschaft erfolgte in der klassischen Zeit unter einem Baum317 nach Ablegung aller Juwelen und Gewänder als Zeichen des Verzichts auf allen Besitz durch Ausraufen der Haare und Beschmieren des Kopfes und endete mit der Mitteilung der Mantra (magischen und soteriologischen Formel) ins Ohr des Novizen durch den Lehrer318. Die Strenge der Weltflucht scheint gewechselt zu haben. Nach der Ueberlieferung müßte sie zunächst immer weiter gesteigert worden und entweder die absolute Besitzlosigkeit oder die unbedingte Keuschheit – es ist streitig, welche von beiden – erst nachträglich als absolutes Gebot eingeführt worden sein. Indessen da diese nachträgliche Einführung dem Mahavira zugeschrieben wird, im Gegensatz zu den milderen Geboten des vorletzten Tirthankara, ist sie eben mit der Stiftung des Mönchsordens selbst identisch. Eine dauernde Spaltung des Ordens durch Neuerungen entstand zuerst im 1. Jahrh. unserer Zeitrechnung, als ein Teil der Mönche die Forderung absoluter Unbekleidetheit mindestens der heiligen Lehrer durchführten, ein anderer, und zwar die Mehrheit, sie ablehnte319. Da die Gymnosophisten in vielen Punkten ihres Rituals die archaistischere Praxis haben, auch von den hellenischen Schriftstellern erwähnt werden – sie disputierten mit den hellenischen Philosophen – und da ihr späterer Name den indischen Quellen ursprünglich allein bekannt gewesen, der Name »Jaina« dagegen jüngeren Ursprungs zu sein scheint, so handelte es sich in diesem Fall wohl um eine Akkommodation der Mehrheit der Mönchsgemeinschaft an die[207] Welt im Interesse der Erleichterung der Propaganda, die denn auch in den folgenden Jahrhunderten die stärksten äußeren Erfolge hatte. Die Gymnosophisten trennten sich mit dem Anspruch, daß nur sie die eigentlichen »Nirgrantha« (Fesselfreien) seien, als »Digambara« (in die Weltweite gekleidet) von dem Rest, den »Swetambara« (Weißgekleideten), und zogen die Konsequenz, die Weiber von der Möglichkeit der Erlösung ganz auszuschließen. Eine weitere Spaltung entstand, als das Beispiel des Islam hier, wie einst in Byzanz, den Kampf gegen die Idole in die Gemeinde trug und eine bilderfeindliche Sekte entstand. Die Swetambara-Sekte umfaßte naturgemäß die Masse der Jaina, die Digambara hat im 19. Jahrhundert die englische Polizei aus der Oeffentlichkeit verscheucht.

Die klassischen Jaina-Regeln erlegten dem Mönch, damit er vor jeder Verstrickung in persönliche oder örtliche Beziehungen und Attachements bewahrt werde, die Pflicht ruhelosen Wanderns von Ort zu Ort auf. Eine peinliche Kasuistik regelte die Art seines Bettelns so, daß die völlige Freiwilligkeit des Gebens und die Vermeidung jeden Karman erzeugenden Handelns des Gebers (für welches dann der Mönch verantwortlich gewesen wäre) gesichert schien. Der Mönch soll, um alles »Handeln« zu meiden, tunlichst nur von dem leben, was die Natur freiwillig im Ueberfluß bietet oder was beim »Haushalter« (Laien) ohne eine darauf gerichtete Absicht überflüssig vorhanden, also insofern der Naturgabe ähnlich ist320. Das Gebot der wandernden Heimatlosigkeit trug naturgemäß dazu bei, dem Orden eine gewaltige missionierende Kraft einzuflößen. Die Propaganda wurde überdies geradezu empfohlen321. – In völliger Umkehrung des Wandergebots für die Mönche schärft dagegen die Regel für die Laien die Gefährlichkeit des Reisens ein: denn dadurch geraten sie in Gefahr, unkontrolliert und unwissend wie sie sind, in Sünden zu verfallen. Das uns schon bekannte hinduistische Mißtrauen gegen den Ortswechsel, wenigstens jeden Ortswechsel ohne Begleitung[208] durch kontrollierende Seelsorger, wurde dadurch bei den Jainas auf die Spitze getrieben. Für jegliche Reise mußte der Guru die Erlaubnis und die Instruktionen geben, die Reiseroute und höchste Reisedauer sowie das erlaubte Höchstmaß der Reiseausgaben vorher genau feststellen. Diese Vorschriften sind charakteristisch für die Stellung der Jaina-Laien überhaupt. Sie waren schlecht hin unmündig und wurden durch Inspektionsreisen des Klerus und der Sittenwächter unter Kirchenzucht gehalten. Der neben der »rechten Erkenntnis« zweite »Edelstein« des Jaina: die »rechte Einsicht«, bedeutete für den Laien blinde Unterordnung unter die Einsicht des Lehrers. Denn im Gegensatz zu der immerhin weitgehenden »organischen« Relativierung im orthodoxen Hinduismus gibt es in der klassischen Jaina-Soteriologie nur ein absolutes Heilsziel und also nur eine Vollkommenheit, der gegenüber alles Andere nur Halbheit, Provisorium, Unreife und Minderwertigkeit ist. Das Heil wird stufenweise erreicht – nach der verbreitetsten Jaina-Lehre nach 8 Wiedergeburten, gerechnet von der Zeit an, zu welcher man auf den rechten Pfad gelangt ist. Auch der Laie also soll täglich eine bestimmte Zeit (48 Minuten) meditieren, muß bestimmte Tage (4mal monatlich meist) die volle Mönchsexistenz führen und außerdem es auf sich nehmen, bestimmte Tage besonders streng zu leben, das Dorf an ihnen nicht zu verlassen und nur eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Das Laien-Dharma konnte eben nur eine möglichste Annäherung an das Mönchs-Dharma bedeuten wollen. Vor allem also: der Laie soll die ihm obliegenden Pflichten durch besonderes Gelübde auf sich nehmen. Die Jaina-Konfession gewann dadurch den typischen Charakter einer »Sekte«, in die man besonders aufgenommen wurde.

Die Disziplin der Mönche war streng. Der Acharya (Superior) des Klosters322, meist nach dem Alter, ursprünglich aber nach[209] Charisma vom Vorgänger designiert oder von der Gemeinde bestimmt323, nahm den Mönchen die Beichte ab und erlegte Buße auf. Der zuständige Klostersuperior324 kontrollierte das Leben der Laien, welche zu diesem Zweck in Samghas (Diözesen) diese weiter in Ganas (Sprengel) und diese endlich in Gachchas (Gemeinden) geteilt waren. Jede Laxheit eines Acharya rächte sich durch magische Uebel, Verlust des Charisma und namentlich Machtlosigkeit gegen die Dämonen325.

Dem materiellen Inhalt der Gebote nach stellte die Jaina-Askese, – der dritte Edelstein: die »rechte Praxis«, – an die Spitze aller Regeln das »Ahimsa«: das absolute Verbot der Tötung (himsa) lebender Wesen. Bei den Jaina ist das Ahimsa zuerst wohl unzweifelhaft aus der Ablehnung der, unkonsequenterweise, aus dem alten vedischen Opferritual von den Brahmanen beibehaltenen Fleischopfer entstanden. Neben der scharfen Polemik gegen diese vedische Praxis beweist dies gerade auch die unerhörte Vehemenz, mit der von ihnen dies Gebot des Nichttötens durchgeführt wurde. Der Jaina durfte sich selbst das Leben nehmen und sollte es (nach der Ansicht mancher) tun, wenn er entweder seine heilswidrigen Begierden nicht zu beherrschen vermochte oder umgekehrt das Heil erreicht hatte326. Aber er durfte fremdes Leben auch nicht indirekt und unwissentlich antasten. Aus dem ursprünglichen antiorgiastischen Sinn des Vegetarismus wurde dieses Verbot vielleicht hier zuerst in den Sinnzusammenhang der Einheitlichkeit alles Lebens transponiert. Als der Jainismus in einigen Königreichen offizielle Staatsreligion wurde, mußte eine Akkommodation stattfinden. Zwar lehnen noch heute korrekte Jaina es ab, in Kriminalgerichtshöfen[210] zu sitzen, während sie in der Zivilrechtspflege gut verwendbar sind. Aber für das Militär mußte ein Ventil geschaffen werden, ähnlich wie das alte Christentum es tat. Der König und die Krieger also durften nach der revidierten Lehre »Verteidigungskriege« führen. Die alte Vorschrift wurde nun dahin uminterpretiert, daß sie für Laien nur die Tötung »schwächerer« Wesen, nicht bewaffneter Feinde, ausschließe. In dieser Form ist das Ahimsa der Jaina in die äußersten Konsequenzen getrieben worden. Korrekte Jaina brennen in der dunklen Jahreszeit kein Licht, weil es Motten verbrennen, zünden kein Feuer an, weil es Insekten töten würde, sieben das Wasser, ehe sie es kochen, tragen einen Mund- und Nasenschleier, um das Einatmen von Insekten zu hindern327, lassen sorgfältig jede Stelle der Erde, die sie betreten, mit weichen Besen fegen, scheren Kopf und Leib nicht (raufen statt dessen die Haare mit den Wurzeln aus) um nicht Läuse mit der Scheere töten zu müssen328 und gehen nie durch Wasser, um nicht Insekten darin zu zertreten329. Das Ahimsa hatte zur Folge, daß die Jaina am Betrieb aller Gewerbe, bei denen Leben gefährdet wurde, also aller derjenigen, die Feuer verwandten, mit scharfen Instrumenten arbeiteten (Holz- oder Steinarbeit), vom Maurergewerbe und überhaupt von der Mehrzahl aller gewerblichen Berufe sich ausgeschlossen sahen. Gänzlich unmöglich war für sie natürlich der landwirtschaftliche Beruf, vor allem das Pflügen, welches stets das Leben von Würmern und Insekten gefährdete330.

Das nächstwichtigste Gebot für Laien war die Begrenzung des Besitzes. Man sollte nicht mehr als das »Nötige« haben. Das[211] Gebrauchsvermögen ist in manchen Jaina-Katechismen auf 26 bestimmte Gegenstände beschränkt331. Ebenso ist der Besitz von Reichtum überhaupt, über das zur Existenz erforderliche Maß hinaus, heilsgefährlich. Man soll den Ueberschuß an Tempel oder Tier-Spitäler hingeben, um sich Verdienst zu schaffen. Und dies geschah in den wegen ihrer Wohltätigkeits-Anstalten berühmten Jaina-Gemeinden im weitesten Umfang. Wohlgemerkt: der Erwerb von Reichtum an sich war keineswegs verboten, nur das Streben darnach, reich zu sein und das Kleben daran: ziemlich ähnlich wie im asketischen Protestantismus des Occidents. Wie bei diesem, war die »Besitzfreude« (parigraha) das spezifisch Verwerfliche, keineswegs der Besitz oder Erwerb an sich. Und die Aehnlichkeit geht weiter: das bei den Jaina überaus streng genommene Verbot, Falsches oder Uebertriebenes zu sagen und die absolute Redlichkeit im ökonomischen Verkehr, das Verbot jeglicher Täuschung (maya)332 und jeglichen unredlichen Erwerbs, wozu vor allem jeder Erwerb durch Schmuggel, Bestechung und irgendwelche Arten unsolider Finanzgebarung gehörten (adattu dama) schloß die Sekte einerseits von der typisch orientalischen Beteiligung am »politischen Kapitalismus« (Vermögensakkummulation der Beamten, Steuerpächter, Staatslieferanten) aus und wirkte andererseits – bei ihnen und bei den Parsen – ebenso wie bei den Quäkern im Occident gemäß der (frühkapitalistischen) Devise: »honesty is the best policy«. Die Redlichkeit der Jaina-Händler war berühmt333. Und ebenso ihr Reichtum: es wurde früher behauptet, daß mehr als die Hälfte des Handels Indiens durch ihre Hände gehe334. Daß die Jaina – wenigstens die Swetambara-Jaina – fast durchweg Händler wurden, hatte, wie wir dies später ebenso bei den Juden sehen werden, rein rituelle Gründe: nur der Händler konnte das Ahimsa wirklich streng durchführen. Und auch die besondere Eigenart des Erwerbes war durch rituelle Gründe bestimmt: die – wie wir sahen –[212] bei ihnen besonders starke Perhorreszierung und Erschwerung des Reisens beschränkte sie auf den Platzhandel, in erster Linie, wiederum wie die Juden, das Bank- und Geldleih-Geschäft. Der aus der Wirtschaftsgeschichte des Puritanismus bekannte »asketische Sparzwang« wirkte auch bei ihnen im Sinn der Verwertung des akkumulierten Besitzes als Erwerbskapital statt als Gebrauchs- oder Rentenvermögen335. Daß sie dabei in die Schranken des Handelskapitalismus gebannt blieben und keine Organisation des Gewerbes schufen, hatte – außer in den uns schon bekannten Schranken, welche ihre hinduistische Umgebung mit ihrem Traditionalismus und daneben der patrimoniale Charakter des Königtums dem in den Weg stellte, – wiederum in ihrem rituell bedingten Ausschluß vom Gewerbe und außerdem – wie bei den Juden – ihrer rituellen Isolierung überhaupt seinen Grund. Ihre starke Vermögensakkumulation, welcher das Gebot, nicht mehr als das »Nötige« zu behalten (Parigraha viramana vrata) nur eine sehr elastische Schranke setzte336, wurde, wie bei den Puritanern, durch den streng methodischen Charakter der ihnen vorgeschriebenen Lebensführung begünstigt. Meidung von Rauschmitteln, Fleisch- und Honiggenuß, absolute Meidung jeglicher Unkeuschheit und strenge eheliche Treue, Meidung von ständischem Stolz, von Zorn und allen Leidenschaften sind bei ihnen wie bei allen vornehmen Hindus selbstverständliche Gebote. Nur der Grundsatz: daß jegliche Emotion als solche zur Hölle führt, ist wohl noch strenger durchgeführt. Und weit schärfer als bei andern Hindus wird bei ihnen, auch den Laien, die Warnung vor unbefangener Hingabe an »die Welt« eingeschärft. Man kann die Verflechtung in Karman337 nur meiden durch strengste methodische Selbstkontrolle und Beherrschtheit, durch Hüten der Zunge und überlegte Vorsicht in allen Lebenslagen. Ihre Sozialethik rechnet zu den Verdiensten[213] die Speisung der Hungrigen und Durstigen, die Bekleidung der Armen, die Schonung und Pflege der Tiere, die Versorgung der Mönche (der eigenen Konfession338), Lebensrettung anderer und Freundlichkeit gegen sie: man soll von ihnen gut denken, ihr Gefühl nicht verletzen, sie durch eigene hohe Moralität und Höflichkeit zu gewinnen suchen. Aber man soll sich nicht an andere binden. Die fünf großen Gelübde der Mönche enthalten neben Ahimsa, Asatya tyaga (Verbot der Unwahrhaftigkeit), Ashaya vrata (Verbot, etwas zu nehmen, was nicht freiwillig geboten wird), Brahmacharya (Keuschheit), als fünftes: Aparigraha vrata: der Verzicht auf Liebe für irgend jemanden oder irgend etwas. Denn Liebe weckt Begehren und erzeugt Karman. Es fehlt trotz jener rituellen Gebote gänzlich der christliche Begriffe der »Nächstenliebe«. Und darüber hinaus sogar etwas, was der, »Liebe zu Gott« entspräche. Denn es gibt keine Gnade und Vergebung, keine Reue, welche die Sünde auslöschte, und kein wirksames Gebet339. Der wohlerwogene Heilsvorteil, welchen die Tat dem Täter bringt, ist Leitstern des Handelns. »Das Herz des Jainismus ist leer.«

Aeußerlich angesehen, kann diese Behauptung für die Jaina ebenso wie für die Puritaner irrtümlich erscheinen. Denn die Solidarität gerade der Mitglieder der Jaina-Gemeinden untereinander ist und war von jeher sehr stark entwickelt. Mit auch darauf beruhte, wie bei vielen amerikanischen Sekten, ihre ökonomische Machtlage, daß die Gemeinde hinter dem Einzelnen stand, und daß er, wenn er den Ort wechselte, alsbald wieder bei seiner Sekten-Gemeinde persönlichen Anschluß hatte. Allerdings aber war diese Solidarität ihrem inneren Wesen nach von der spezifischen altchristlichen »Brüderlichkeit« ziemlich weit entfernt und, ähnlich dem sachlichen Rationalismus der puritanischen Wohlfahrtspflege, mehr ein Ableisten verdienstlicher Werke als Ausfluß eines religiösen Liebesakosmismus, von welchem der Jainismus vielmehr in der Tat nichts weiß.

Trotz ihrer strengen disziplinären Unterordnung unter den Mönchsklerus war von jeher stark im Jainismus der Einfluß der[214] Laien (Çravaka). Ebenso wie die buddhistischen klassischen Schriften wendet sich ihre Literatur ja an sanskritunkundige Kreise in deren Sprache. Die Laien waren es, – hier wie im Buddhismus, – welche in Ermangelung anderer Kultobjekte die Hagiolatrie und die Idolatrie einführten und durch umfassende Bauten und Stiftungen die hieratische Architektur und das hieratische Kunstgewerbe zu außerordentlicher Blüte brachten340. Sie konnten dies, weil sie wesentlich den besitzenden Klassen, vornehmlich dem Bürgertum, angehörten. Gildenvorsteher werden schon in der älteren Literatur als Laienvertreter erwähnt, und bis heute sind die Jaina in den westindischen Gilden am stärksten vertreten. Der Laieneinfluß steigt heute wieder und äußert sich namentlich in dem Bestreben, die bisher isolierten Einzelgemeinden über ganz Indien hin zu einer Gemeinschaft zu verknüpfen. Die starke Organisation und Verknüpfung der Laien-Gemeinde mit den Mönchen war aber von jeher vorhanden und bildete für den Jainismus – im Gegensatz zum Buddhismus – das Mittel, die Konkurrenz der brahmanischen Restauration des Mittelalters und die islamische Verfolgung zu überdauern341.

Auch die Entstehung der Sekte liegt ja dem ersten Aufkommen der indischen Städte zeitlich nahe. Das bürgerfeindliche Bengalen andererseits hat sie am wenigsten rezipiert. Aber man hat sich vor der Vorstellung zu hüten: daß sie ein »Produkt« des »Bürgertums« gewesen sei. Sie entstammte der Kschatriya-Spekulation und der Laien-Askese. Ihre Lehre: die Anforderungen, welche sie an die Laien stellten, insbesondere aber ihre rituellen Vorschriften waren als Alltagsreligiosität nur für eine Händlerschicht dauernd erträglich. Aber sie erlegte auch einer solchen Schicht, wie wir sahen, höchst lästige Schranken auf, wie sie selbst sie aus ihrem ökonomischen Interesse heraus sich nie geschaffen oder auch nur ertragen hätte. Hochgekommen ist die Sekte wohl zweifellos, wie alle hinduistischen orthodoxen und heterodoxen Gemeinschaften, durch die Gunst von Fürsten. Und es liegt außerordentlich nahe und wird mit Recht auch angenommen342: daß der Wunsch, sich von der lästigen[215] Macht der Brahmanen zu befreien, für diese Fürsten das wichtigste (politische) Motiv gewesen ist. Die größte Blüte der Jaina-Religion fällt nicht in die Zeit des Aufstieges des Bürgertums, sondern gerade in die Zeit abnehmender politischer Städte- und Gilden-Macht, etwa vom 3.-13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, – eine Zeit der Blüte auch für ihre Literatur, – wo sie namentlich auf Kosten des Buddhismus Boden gewannen. Entstanden scheint die Sekte in dem Gebiet östlich von Benares zu sein, von wo sie nach Westen und Süden wanderte, während sie in Bengalen und auch in Hindostan schwach blieb. In einigen südindischen und in dem Reich der westlichen Chalukya-Könige war sie zeitweise rezipierte Staatsreligion. Dort im Westen sind auch bis in die Gegenwart die Hauptstätten ihrer Pflege geblieben.

Nach der hinduistischen Restauration entging auch der Jainismus in ziemlich weitem Umfang dem Schicksal der Hinduisierung nicht. In seinen Anfängen hatte er die Kasten ignoriert. Sie haben zu seiner Soteriologie keinerlei auch nur indirekte Beziehung. Eine Verschiebung erfuhr dies schon, als unter dem Einfluß der Laien der Tempel- und Idol-Kult immer größere Dimensionen annahm. Dem genuinen Jaina-Mönch war die Pflege der Tempel und Idole nicht möglich, da sie Karman wirkte. Ihm ziemte neben der Beschäftigung mit seiner Selbsterlösung nur die Stellung als Guru und Lehrer. Die Aufgabe der Pflege der Tempelidole fiel also in die Hände der Laien, und wir finden die eigentümliche Erscheinung, daß der Tempelkult mit Vorliebe in die Hände von Brahmanen343 gelegt wurde, weil diese für solche Zwecke geschult waren. Die Kastenordnung bemächtigte sich nun der Jaina. In Südindien sind sie vollständig in Kasten gegliedert, während im Norden die hinduistische Auffassung dazu neigt, sie – dem uns bekannten Typus entsprechend – als eine Sektenkaste zu behandeln, was sie stets nachdrücklich ablehnten. In den nordwestindischen Städten aber standen sie noch aus den Zeiten der Gildenmacht her vielfach im Konnubium mit sozial gleichgeordneten, also vor allem: Händler-Schichten. Die modernen Vertreter des Hinduismus sind geneigt, sie für diesen zu reklamieren. Die Jaina selbst haben auf eigentliche Propaganda verzichtet. Ihr »Gottesdienst« umfaßt[216] eine Predigt, in der ein »Gott« nicht vorkommt, und Auslegung heiliger Schriften. Ihr Laienglaube scheint344 im allgemeinen dahin zu neigen, daß es wohl einen Gott gebe, dieser sich aber um die Welt nicht kümmere und sich begnügt habe, zu offenbaren, wie man sich von ihr erlösen könne. Die Zahl der Bekenner geht, wie eingangs gesagt, wenigstens relativ zurück.

Diese eigentümlich schwankende Lage der Sekte lag zum Teil in den uns bekannten hinduistischen Verhältnissen, teils aber auch in ihrer ursprünglichen inneren Eigenart begründet. Ihre ritualistische Stellung war nicht völlig geklärt und konnte es in Ermangelung eines überweltlichen Gottes und einer an seinem Willen verankerten Ethik nicht sein, nachdem sie die Laiengemeinde einerseits fest mit der Mönchsgemeinde verknüpft, andererseits doch als von ihr streng geschieden konstituiert hatte, ohne ihr doch ein festes eigenes Ritual zu geben. Und auch in der Heilslehre selbst lagen Unausgeglichenheiten. Denn sie war widerspruchsvoll insofern, als ihr höchstes Heilsgut ein nur durch Kontemplation zu erlangender geistiger Habitus, ihr spezifischer Heilsweg aber Askese war. Zum mindesten neben der Meditation und Kontemplation und ihr jedenfalls gleichberechtigt standen die radikal asketischen Mittel. Die Magie wurde nie wirklich ganz abgestreift und die ängstliche Kontrolle der ritualistischen und asketischen Korrektheit vertrat die Stelle einer vollkommenen und geschlossenen Durchrationalisierung im Sinne einer innerlich einheitlichen Methodik, sei es einer rein kontemplativen Mystik, sei es einer reinen aktiven Askese. Die Jaina selbst haben sich stets als eine spezifisch asketische Sekte empfunden, und zwar insbesondere im Gegensatz gegen die, von eben diesem Standpunkt aus, von ihnen als »weltlich« geschmähten Anhänger des Buddhismus.

Wie der Jainismus und noch deutlicher als er stellt sich auch der Buddhismus dar als entstanden in der Zeit der Städteentwicklung, des Stadtkönigtums und Stadtadels. Sein Stifter war Siddharta, der Sakya Simha oder Sakya Muni, genannt Gautama345, der Buddha346, geboren in Lumbini im heute nepalesischen[217] Gebiet am Fuß des Himalaya. Seine Flucht aus dem Elternhaus in die Einsamkeit, »der große Verzicht« (auf die Welt) gilt den Buddhisten als Stiftungszeit des Buddhismus. Er gehörte der adligen (Kschatriya-)Sippe der Sakya von Kapilavastu an. Gildevorsteher spielen auch in den alten literarischen Dokumenten der Buddhisten ebenso wie der Jainisten und erst recht unter inschriftlich erhaltenem Namen von Donatoren der buddhistischen Klöster eine hervorragende Rolle. Oldenberg macht darauf aufmerksam, wie die ländliche Umgebung, Vieh und Weide für die altbrahmanischen Lehrer und Schulen mindestens der älteren Upanischadenzeit, die Stadt und das Stadtschloß mit seinem auf Elefanten reitenden König aber für die Buddha-Zeit charakteristisch sind und wie die Dialogform die hereingebrochene Stadtkultur widerspiegelt. In den jüngeren Upanischaden ist all dies freilich schon im Werden. Aus dem literarischen Charakter ließe sich hier offenbar ein Altersunterschied nicht leicht ableiten. Schon leichter aus der sachlich naturgemäßen Aufeinander- und Auseinanderfolge der Ideen hier und dort. Der alte Buddhismus weiß, wie die Samkya-Lehre und die Jaina-Sekte, vom Brahman nichts. Im Gegensatz zu beiden lehnt er aber auch das Atman und überhaupt diejenigen »Individualitäts«-Probleme ab, mit welchen die philosophische Schulsoteriologie sich abgemüht hatte. Dies geschieht teilweise in so pointiert gegen diese ganze Problematik gerichteter Art, daß diese letztere schon voll durchgearbeitet gewesen sein muß, ehe sie in solcher Weise als nichtig und wesenlos abgetan werden konnte. Den Charakter als eine ganz spezifische vornehme Intellektuellensoteriologie trägt er an der Stirn geschrieben, ganz abgesehen davon, daß alle Selbstzeugnisse ihn dahin stellen. Die Tradition läßt den Stifter um eine Generation jünger sein als Mahavira, den Stifter des Jaina-Ordens. Die Angabe ist wahrscheinlich, weil nicht wenige buddhistische Ueberlieferungen die Konkurrenz des neuen Ordens gegen den alten und den Haß der Mitglieder des letzteren gegen die Buddhisten zur Voraussetzung haben. Diesen Haß spiegeln gelegentlich auch jainistische Ueberlieferungen wider. Er ist außer durch die Konkurrenz an sich auch durch den inneren Gegensatz des buddhistischen Heilsstrebens gegenüber nicht nur dem klassisch brahmanischen, sondern gerade auch dem jainistischen begründet.

Der Jaina-Orden ist eine sehr wesentlich asketische[218] Gemeinschaft in dem spezifischen Sinn, den wir mit »aktiver Askese« hier verbinden. Das Heilsziel ist, wie bei aller indischen Intellektuellensoteriologie, die ewige Ruhe. Aber der Weg ist Weltabkehr und Selbstabtötung durch Kasteiung. Kasteiung aber ist nicht nur mit äußerster Willensanspannung verknüpft, sondern trägt leicht emotionale und unter Umständen geradezu hysterische Konsequenzen im Schoße. Sie führt jedenfalls nicht leicht zu jenem Gefühl der Sicherheit und Ruhe, welches für eine auf Ablösung von dem Treiben und Sichquälen der Welt gerichtete Heilssuche den entscheidenden Gefühlswert haben mußte. Diese »certitudo salutis« aber: der diesseitige Genuß der Ruhe der Erlösten, ist ja, psychologisch angesehen, die von den indischen Religionen letztlich erstrebte Zuständlichkeit. Der indische Heilsucher will, sahen wir, als »jivanmukti« der Seligkeit des weltentronnenen Lebens schon im Diesseits sich erfreuen. Es ist für die Beurteilung des alten Buddhismus wichtig, im Auge zu behalten, daß seine spezifische Leistung es war: diesem und nur diesem Ziele nachgegangen zu sein, unter rücksichtsloser Beseitigung aller Heilsmittel, die mit ihm nichts zu tun hatten. Um deswillen hat er ebenso die asketischen Züge, welche der Jainismus trug, gänzlich ausgemerzt wie alle Spekulationen über irgendwelche Probleme, – diesseitige und jenseitige, soziale und metaphysische –, die nicht mit der Erlangung jenes Zieles zusammenhingen und ihm dienen konnten. Auch an der Begierde nach dem Erkennen haftet der echte Heilssucher nicht.

Ueber die Eigenart des »primitiven« Buddhismus, – sei es, daß darunter die Lehre des Meisters selbst oder die Praxis der ältesten Gemeinde verstanden werden soll (was für uns gleichgültig ist) – hat gerade die neueste Literatur eine ganze Reihe ausgezeichneter Arbeiten der Indologen aufzuweisen. Eine Einigung ist nicht in allem erzielt. Für unsere Zwecke empfiehlt es sich, zunächst den alten Buddhismus nach den zeitlich ältesten Quellen347 in den für uns wichtigen Punkten systematisch und also im möglichst geschlossenen Gedankenzusammenhang wiederzugeben, ohne Rücksicht darauf, ob er wirklich gerade in seinem Geburtsstadium diese rationale Geschlossenheit in vollem Umfang gehabt hat, was nur die Fachleute entscheiden können348.

[219] Der alte Buddhismus349 ist in fast allen praktisch entscheidenden Punkten der charakteristische Gegenpol des Konfuzianismus sowohl wie etwa des Islam. Er ist die spezifisch unpolitische und antipolitische Standesreligion oder richtiger gesagt: religiöse »Kunstlehre« eines wandernden, intellektuell geschulten, Bettelmönchtums. Er ist, wie alle indische Philosophie und Hierurgie, »Erlösungsreligion«, wenn man den Namen »Religion« auf eine Ethik ohne Gott – oder richtiger: mit absoluter Gleichgültigkeit gegen die Frage, ob es »Götter« gibt und wie sie existieren – und ohne Kultus anwenden will. Und zwar ist er, angesehen auf das »wie?« und »wovon?« wie auf das »wozu?« der Erlösung die denkbar radikalste Form des Erlösungsstrebens überhaupt. Seine Erlösung ist ausschließlich des einzelnen Menschen[220] eigenste Tat. Es gibt dafür keine Hilfe bei einem Gott oder Heiland350. Vom Buddha selbst kennen wir kein Gebet. Denn es gibt keine religiöse Gnade. Aber es gibt auch keine Prädestination. Ausschließlich des eigenen freien Verhaltens Folge ist ja nach der die Theodizee ersetzenden, vom Buddhismus nicht bezweifelten, Lehre vom Karman: der universellen Kausalität ethischer Vergeltung, das Jenseitsschicksal. Und nicht die »Persönlichkeit«, sondern der Sinn und Wert der einzelnen Tat ist das, wovon die Karman-Lehre ausgeht: es kann keine einzelne weltgebundene Handlung in der sinnvoll ethisch ablaufenden, aber gänzlich unpersönlichen kosmischen Kausalität verloren gehen. Man könnte glauben, eine Ethik aus diesen Prämissen müsse eine solche aktiven Handelns sein, es sei innerhalb der Welt (wie sie Konfuzianismus und Islam, jeder in seiner Art, besitzen), oder in Form asketischer Uebungen, wie bei seinem Hauptkonkurrenten in Indien, dem Jainismus. Allein beides lehnt der alte Buddhismus gleichmäßig ab, weil das »wovon?« und das »wozu?« der von ihm angestrebten Erlösung beides ausschließt. Denn aus jenen allgemeinen Prämissen der Anschauungsweise der indischen soteriologisch interessierten Intelligenz zieht die Lehre des Buddha – wie sie sich schon in der von Rhys Davids geistvoll interpretierten ersten Ansprache nach der »Erleuchtung« äußert – nur die letzte Konsequenz, indem sie die Grundursache aller erlösungsfeindlichen Illusionen in dem Glauben an eine »Seele« überhaupt als einer perennierenden Einheit aufdeckt. Daraus folgert sie die Sinnlosigkeit des Haftens an allen und jeden mit dem »animistischen« Glauben zusammen hängenden Neigungen, Hoffnungen und Wünschen: an allem diesseitigem und, vor allem, auch jenseitigem Leben. Das alles ist ein Haften an vergänglichen Nichtigkeiten. Denn ein »ewiges Leben« wäre für das Denken des Buddhismus eine contradictio in adjecto: »Leben« besteht ja gerade in dem Zusammengeschweißtsein der einzelnen Konfituenzien (Khandas) in die Form der selbstbewußten und wollenden Individualität, deren Wesen ja gerade darin beruht: in dem Sinn restlos vergänglich zu sein. »Zeitlos gültige« Werte irgend eines Individuellen aber anzuerkennen würde dieser – wie jeder indischen – Denkweise[221] als eine absurde und lächerliche Vermessenheit, der Gipfel psycholatrischer »Kreaturvergötterung« (um einen puritanischen Begriff zu gebrauchen) erschienen sein. Nicht Erlösung zu einem ewigen Leben also, sondern zur ewigen Todesruhe wird begehrt. Der Grund dieses Erlösungsstrebens ist beim Buddhismus wie bei den Indern überhaupt nicht etwa »Ueberdruß am Leben«, sondern »Ueberdruß am Tod«. Das zeigt am deutlichsten schon die Legende von den Erlebnissen, welche der Flucht des Buddha aus dem Elternhaus, von der Seite der jungen Frau und des Kindes, in die Waldeinsamkeit vorausgingen. Was nutzt die Herrlichkeit der Welt und des Lebens, wenn sie unausgesetzt von den drei Uebeln der Krankheit, des Alters und des Todes bedroht ist? wenn alle Hingabe an die irdische Schön heit nur den Schmerz, und vor allem: die Sinnlosigkeit der Trennung, einer in einer Unendlichkeit stets neuer Leben immer erneuten Trennung, steigert? Die absolut sinnlose Vergänglichkeit von Schönheit, Glück und Freude in einer ewig bestehenden Welt ist auch hier das, was die Weltgüter endgültig entwertet. Für den wenigstens, der stark und weise ist, – und nur für diesen, erklärt der Buddha wiederholt, sei seine Lehre. Daraus ergibt sich nun die spezifisch erlösungsfeindliche Gewalt. Ein gesinnungsethischer Sündenbegriff ist, wie dem Hinduismus überhaupt, so auch dem Buddhismus nicht kongenial. Gewiß gibt es für den buddhistischen Mönch Sünden, auch Todsünden, welche für immer aus der Gemeinschaft der zu den Zusammenkünften zugelassenen Genossen ausschließen, andere, welche nur Buße erheischen. Aber bei weitem nicht alles, was die Erlösung hindert, ist eine »Sünde«. Nicht sie ist die letztlich erlösungsfeindliche Macht. Nicht das »Böse«, sondern das vergängliche Leben als solches: die schlechthin sinnlose Unrast alles geformten Daseins überhaupt ist es, wovon Erlösung gesucht wird. Alle »Sittlichkeit« könnte dafür nur Mittel sein und hätte also auch nur Sinn, soweit sie Mittel dafür ist. Das ist sie aber letztlich nicht. Die Leidenschaft rein als solche, auch für das Gute und auch gerade in der Form des edelsten Enthusiasmus, ist, weil jedes »Begehren« ans Leben bindet, das schlechthin erlösungsfeindliche. Der Haß ist das im Grunde nicht in höherem Grade als alle Arten der Liebe zu Menschen und auch die leidenschaftliche aktive Hingabe an Ideale es ebenfalls sind. Unbekannt ist die Nächstenliebe zum mindesten im Sinn der großen christlichen Brüderlichkeitsvirtuosen. »Wie ein mächtiger Wind blies[222] der Gesegnete über die Welt mit dem Wind seiner Liebe, so kühl und süß, ruhig und zart«351. Nur diese kühle Temperierung gewährleistet ja die innere Loslösung von allem »Durst« nach Welt und Menschen. Der buddhistische mystische, durch die Euphorie der apathischen Ekstase psychologisch bedingte Liebesakosmismus (maitri, metta), das »unbegrenzte Fühlen« für Menschen und Tiere: so wie die Mutter für ihr Kind, gibt freilich dem Begnadeten magische seelenüberwindende Macht auch über seine Feinde352. Aber er bleibt dabei kühl und distant temperiert353. Denn letztlich muß der Einzelne, wie ein berühmtes Gedicht354 des Meisters sagt, »einsam wandern wie das Nashorn«, – und das heißt auch: dessen harte Haut gegen Gefühle haben. Die »Feindesliebe« vollends ist dem Buddhismus notwendig ganz fremd. Sein Quietismus konnte solche Virtuosenkraft der Selbstüberwindung nicht, sondern nur das gleichmütige Nichthassen des Feindes und das »ruhevolle Gefühl freundlicher Eintracht« (Oldenberg) mit den Gemeinschaftsgenossen ertragen. Auch dies Gefühl ist nicht rein aus mystischer Empfindung geboren, sondern getragen auch durch das egozentrische Wissen: daß die Austilgung auch aller Feindschaftsaffekte der eigenen Erlösung frommt. Die buddhistische Caritas hat den gleichen Charakter der Unpersönlichkeit und Sachlichkeit, wie er sich im Jainismus und, in anderer Art, auch im Puritanismus findet. Die eigene certitudo salutis, nicht das Ergehen des »Nächsten«, steht in Frage.

[223] Die Erlösung entsteht auch im Buddhismus durch »Wissen«. Nicht natürlich im Sinn der erweiterten Kenntnis irdischer oder himmlischer Dinge. Im Gegenteil forderte der alte Buddhismus gerade auf diesem Gebiet das äußerste an Unterdrückung des Wissensstrebens: den bewußten Verzicht auf das Forschen nach dem, was nach dem Tode des Erlösten sein wird, weil die Sorge darum ebenfalls »Begehren«: »Durst«, ist und dem Heil der Seele nicht frommt. Den Mönch Mâlukya, der wissen will, ob die Welt ewig und unendlich sei und ob Buddha nach dem Tode weiter leben werde, verspottet der Meister: solche Fragen eines Unerlösten seien gerade so, wie wenn jemand, der todkrank an einer Wunde liege, vom Arzt, ehe er die Wunde behandeln dürfe, zu wissen begehre: wie der Arzt heiße, ob er adlig sei und wer ihm die Wunde zugefügt habe. Das Forschen über das Wesen von Nirvana galt dem korrekten Buddhismus geradezu als Ketzerei. Im Konfuzianismus wird die Spekulation abgelehnt, weil sie der diesseitigen Vollendung des Gentleman nicht frommt und, utilitarisch betrachtet, steril ist. Im Buddhismus: weil sie einen Hang am irdischen verstandesmäßigen Wissen dokumentiert und dies für die jenseitige Vollendung nicht frommt. Sondern das heilbringende »Wissen« ist ausschließlich die praktische Erleuchtung durch die vier großen Wahrheiten über Wesen, Entstehung, Bedingungen und Mittel der Vernichtung des Leidens. Während der alte Christ das Leiden als asketisches Mittel oder als Martyrium eventuell sucht, flieht der Buddhist das Leiden unbedingt. »Leiden« aber ist mit der Tatsache der Vergänglichkeit alles geformten Seins rein als solchen gleichgesetzt. Das aus dem Wesen des Lebens folgende, ebenso aussichtslose wie unvermeidliche Ringen gegen die Vergänglichkeit: der »Kampf um das Dasein« im Sinn des Strebens nach Behauptung der eigenen, von Anfang an doch todgeweihten Existenz: das ist das Wesen des Leidens. Noch späte Sutras der »weltfreundlichen« Mahayana-Schule operieren mit dem Nachweis der völligen Sinnlosigkeit eines unvermeidlich in Alter und Tod abschließenden Lebens. Diese vom Leiden endgültig befreiende Erleuchtung ist allein durch Andacht, durch die kontemplative Versenkung in die einfachen praktischen Lebenswahrheiten zu erlangen. Das »Wissen«, welches jedem Handelnden versagt und nur einem nach Erleuchtung Strebenden möglich ist, ist also zwar praktischer Art. Aber es ist dennoch nicht das »Gewissen«, – welches ja auch Goethe dem Handelnden[224] abspricht und nur »dem Betrachtenden« zugesteht. Denn der Buddhismus kennt einen konsequenten Begriff des »Gewissen« nicht und kann ihn nicht kennen, schon infolge der Karmanlehre und seiner darauf beruhenden Ablehnung des Persönlichkeitsgedankens, die er besonders konsequent, etwa in der Art der Machschen Seelen-Metaphysik, durchgeführt hat. Was ist denn das »Ich«, mit dessen Vernichtung sich die bisherige Erlösungslehre abmüht? – Auf diese Frage hatten die einzelnen orthodoxen und heterodoxen Soteriologen verschiedene Antworten gegeben, von der primitiven, je nachdem mehr materialistischen oder spiritualistischen Anknüpfung an die alte magische Seelenkraft des Atman (im buddhistischen Pali: attan) bis zu der Konstruktion jenes unveränderlich konstanten, aber auch nur rezeptiven, Bewußtseins der Samkhya-Lehre, welche alles Geschehen ohne Ausnahme der Materie, das heißt: der Welt des Veränderlichen, zuwies. Der Buddha kehrte von dieser soteriologisch und psychologisch ihn nicht befriedigenden intellektualistischen Konstruktion zu einer, im Effekt, voluntaristischen zurück. Aber in neuer Wendung. Neben allerhand Resten primitiverer Anschauungen findet sich der sinnhafte Kern der neuen Lehre besonders geistreich in den »Fragen des Königs Milinda«355. Die innere Erfahrung zeigt uns überhaupt kein »Ich« und keine »Welt«, sondern nur einen Ablauf von allerhand Sensationen, Strebungen und Vorstellungen, welche zusammen die »Wirklichkeit« ausmachen. Die einzelnen Bestandteile, so wie sie erfahren werden, sind in der inneren Realität überhaupt nicht »unterschiedslos« (gemeint ist: »zu einer Einheit«) verbunden. Hat man das »Schmeckende« z.B. »heruntergeschluckt«, so ist es der Substanz nach noch da: – aber nicht mehr als »Schmeckendes«. Und »Salz«, d.h. die salzige Geschmacksqualität, ist nicht sichtbar (III, 3, 6). Ein Bündel von lauter heterogenen Einzelqualitäten356 also wird wahrgenommen, sowohl als äußere »Dinge«, wie, vor allen Dingen auch, im Wege der Selbstbesinnung, als das, was uns als einheitliche[225] »Individualität« erscheint. Dies der Sinn der Erörterung. Was nun ist es, das die Einheit herstellt? Wiederum wird von den Außendingen ausgegangen. Was ist ein »Wagen«? Offenbar nicht irgend einer seiner einzelnen Bestandteile (Räder usw.). Und ebenso offenbar auch nicht sie alle zusammen, als bloße Summe gedacht. Sondern kraft der Einheit des »Sinns« aller Einzelteile allein erleben wir das Ganze als »Wagen«. Genau ebenso bei der »Individualität«. Worin besteht diese? In den einzelnen Sensationen gewiß nicht. Auch nicht in allen zusammen. Sondern in der Einheit des Zwecks und Sinns, welche diese beherrscht, wie die sinnvolle Zweckbestimmtheit den Wagen. Worin aber besteht bei der Individualität dieser Zweck und Sinn? In dem einheitlichen Wollen des existierenden Individuums. Und der Inhalt dieses Wollens? Die Erfahrung lehrt, daß alles Wollen der Individuen in hoffnungsloser Vielheit auseinander-und gegeneinanderstrebt und nur in einem einzigen Punkt einig ist: sie alle wollen existieren. Letztlich wollen sie eben gar nichts anderes als dieses. All ihr Kämpfen und Tun, wie immer sie es vor sich und anderen illusionistisch einkleiden mögen, hat letztlich nur diesen einen einzigen letzten Sinn: den Willen zum Leben. Er, in seiner metaphysischen Sinnlosigkeit, ist es also, der letztlich das Leben zusammenhält. Er ist es, der Karman erzeugt. Ihn gilt es zu vernichten, wenn man dem Karman entrinnen will. Der Wille zum Leben, oder wie der Buddhismus sagt: der »Durst« nach Leben und Handeln, nach Genuß, Freude, vor allem nach Macht, aber auch nach Wissen oder nach was immer es sei, – der ist allein das »principium individuationis«. Er allein macht aus dem Bündel von psychophysischen Vorgängen, welches die »Seele« empirisch ist, ein »Ich«. Nach einer Art von (wie wir sagen würden) »Gesetz der Erhaltung der Individuations-Energie«357[226] wirkt er über das Grab hinaus. Dies Individuum, das dann stirbt, kann freilich nicht neu erstehen. Auch nicht durch »Seelenwanderung«. Denn eine Seelensubstanz gibt es nicht. Aber der »Durst« läßt, wenn ein »Ich« im Tode zerfällt, sofort ein neues Ich zusammenschießen, belastet mit dem Fluch der unentrinnbaren Karman-Kausalität, die für jedes ethisch relevante Geschehen einen ethischen Ausgleich verlangt358. Durst allein hemmt, rein als solcher, die Entstehung der erlösenden, zur göttlichen Ruhe führenden, Erleuchtung. In diesem spezifischen Sinn wird alles Begehren in jener intellektualistischen Wendung, welche in irgendeiner Form alle Erlösungsreligionen Asiens auszeichnet, mit »Unwissenheit« (Avidya) gleichgesetzt. Dummheit ist die erste, Sinnlichkeit und böser Wille sind erst die zweite und dritte der drei Kardinalsünden. Die Erleuchtung aber ist nicht ein freies göttliches Gnadengeschenk, sondern Lohn unausgesetzter meditierender Versenkung in die Wahrheit, zur Ablegung der großen Illusionen, aus denen der Lebensdurst quillt. Wer dadurch jene Erleuchtung erlangt, der genießt – darauf kommt es an – im [227] Diesseits die Seligkeit. Hohe Siegesfreude ist daher der Ton, auf den die Hymnen des alten Buddhismus gestimmt sind. Der »Arhat«, welcher am Ziele der methodischen kontemplativen Ekstase angelangt ist, ist frei von Karman359 und fühlt sich360 erfüllt von einem starken und zarten (gegenstands- und also begierdelosen) Liebesempfinden, frei von irdischem Stolz und pharisäischer Selbstgerechtigkeit, aber getragen von unerschütterlichem, die Dauer des Gnadenstandes verbürgendem Selbstvertrauen, frei von Furcht, Sünde und Täuschung, frei von Sehnsucht nach der Welt und – vor allem – nach einem jenseitigen Leben. Er ist dem endlosen Rade der Wiedergeburten innerlich entronnen, dessen Darstellung in buddhistischen Kunstwerken die christliche Hölle vertritt. Man könnte in der Rolle, welche das »Liebesempfinden« in dieser Schilderung des Zustandes des Arhat spielt, einen »feministischen« Zug vermuten. Allein das wäre falsch. Die Erlangung der Erleuchtung ist eine Tat des Geistes und verlangt die Kraft reiner »interesseloser« Kontemplation auf der Basis rationalen Denkens. Das Weib aber ist wenigstens der späteren buddhistischen Doktrin nicht nur ein irrationales, der höchsten Geisteskraft unfähiges Wesen, die spezifische Versuchung für den nach der Erleuchtung Strebenden, – es ist vor allem jener »objektlosen« mystischen Liebesstimmung gar nicht fähig, welche den Zustand des Arhat psychologisch charakterisiert. Ein Weib wird vielmehr, wo immer sich Gelegenheit bietet, in Sünde verfallen. Und wo sie, trotz der gegebenen Gelegenheit, einmal nicht sündigt, da kommt sicherlich irgendwelchen konventionellen oder anderen egoistischen Erwägungen das Verdienst dafür zu. So die ausdrückliche Auffassung späterer mönchischer Moralisten. Der Meister selbst hat sich anscheinend nicht so geäußert. Im Gegenteil finden wir in der Frühzeit des Buddhismus – wenigstens nach der Legende – in der Umgebung des Meisters selbst ganz ebenso wie in allen Intellektuellen-Sekten der damaligen, in jeder Hinsicht noch weniger konventionell gebundenen, Zeit, Frauen, auch solche die wandernd die Lehre ihrer Meister verkündigten. Die höchst subalterne Stellung des buddhistischen Nonnenordens, der den Mönchen durchaus untergeordnet ist, wird daher Produkt der[228] späteren spezifischen klösterlichen Entwicklung sein.361 Jene Unbefangenheit des intersexuellen Verkehrs der Intellektuellenkreise bedeutete aber sicherlich keinerlei »femininen« Charakter der Botschaft des Meisters selbst. Diese verwirft irdischen Stolz und Selbstgerechtigkeit. Aber nicht zugunsten von erbaulicher Selbstdemütigung oder gefühlsmäßiger Menschenliebe im christlichen Sinn. Sondern zugunsten männlicher Klarheit über den Sinn des Lebens und der Fähigkeit, in »intellektueller Rechtschaffenheit« die Konsequenzen daraus zu ziehen. Ein »soziales« Empfinden vollends im Sinn einer Sozialethik, welches mit dem »unendlichen Wert der einzelnen Menschenseele« operiert, mußte einer Erlösungslehre so fern wie möglich liegen, welche in jenem auf die »Seele« gelegten Wertakzent ja gerade lediglich die eine große verderbliche Grundillusion wiederfinden konnte. Auch die spezifische Form des »Altruismus« des Buddhisten: das universelle Mitleid, ist lediglich eine der Stufen, welche das Empfinden durchläuft beim Durchschauen der Sinnlosigkeit des Existenzkampfs aller Individuen im Lebens-Rad, ein Kennzeichen fortschreitender intellektueller Erleuchtung, nicht aber Ausdruck aktiver Brüderlichkeit: es wird in den Regeln für die Kontemplation ausdrücklich dazu bestimmt, durch den kühlen, stoischen Gleichmut des Wissenden als Endzustand ersetzt zu werden. Natürlich wirkt es höchst sentimental, wenn jener siegreiche buddhistische König (9. Jahrh.) zu Ehren Buddhas seine Elefanten frei läßt, welche nun, wie die zitierte Inschrift besagt (Ind. Ant. XXI, 1892, S. 253) »mit Tränen in den Augen« ihre Genossen in den Wäldern wieder aufsuchen. Indessen jene Konsequenz aus dem »Ahimsa«ist an sich ein rein formaler Akt, –[229] wie die modernen Tierspitäler und Tierpensionen der Klöster. Und »Tränen« waren wenigstens der Frühzeit des alten Buddhismus relativ sehr fremd und flossen in Indien allgemein erst mit der pietistischen (bhakti-)Frömmigkeit reichlicher. –

Für die Charakterisierung des buddhistischen Erlösungstypus in seinen Wirkungen auf das Verhalten nach außen hin ist folgendes entscheidend. Die Versicherung des Gnadenstandes, das Wissen also um die eigene endgültige Erlösung, wird nicht durch Bewährung in irgendwelchem – »innerweltlichen« oder »außerweltlichen« – Handeln, in »Werken« welcher Art, immer, sondern im Gegenteil in einer aktivitätsfremden Zuständlichkeit gesucht. Dies ist ausschlaggebend für die gesamte Stellung des »Arhat«-Ideals zur »Welt« des rationalen Handelns: es gibt von jenem zu diesem keine Brücke. Und ebensowenig zu einem im aktiven Sinn »sozialen« Verhalten. Die Erlösung ist eine absolut individuelle Leistung des Einzelnen aus eigener Kraft362. Niemand und insbesondere keine soziale Gemeinschaft kann ihm dabei helfen: der spezifisch asoziale Charakter aller eigentlichen Mystik ist hier auf das Maximum gesteigert. Eigentlich erscheint es schon als ein Widerspruch, daß der Buddha – dem die Stiftung einer »Kirche« oder auch nur einer »Gemeinde« ganz fern lag und der für sich ausdrücklich die Möglichkeit und die Prätension, eine Ordensgemeinschaft »leiten« zu können, ablehnte, – immerhin doch einen »Orden« ins Leben gerufen hat, – sofern diese Stiftung nicht vielleicht hier, wie im Christentum, vielmehr lediglich eine Schöpfung seiner Schüler war. Nach der Legende hat der Buddha auch die Verkündung seiner Erlösungslehre nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf besondere Bitte eines Gottes auf sich genommen. Die alte Ordensgemeinschaft bot den Brüdern in der Tat nur bescheidene Nachhilfen in Gestalt von normgemäßer Lehre und Aufsicht für den Novizen, Erbauung, Beichte und Buße für den Vollmönch. Sie scheint im übrigen vor allem der Fürsorge für die standesgemäße »Wohlanständigkeit« des Verhaltens der Mönche zu dienen, um deren Charisma nicht vor der Welt kompromittieren[230] zu lassen. Im übrigen ist, wie bald zu erörtern, mit der größten Konsequenz und Absichtlichkeit die Organisation dieser sozialen Gemeinschaft und die Gebundenheit des Einzelnen an sie »minimisiert«.

Daß die Erlösung selbst nur der Weltflucht in Aussicht gestellt wurde, entsprach an sich den indischen Gepflogenheiten, folgte aber beim Buddhismus aus dem ganz speziellen Charakter der Erlösungslehre. Denn eine Erlösung aus dem endlosen Kampf des individuell Geformten um seine stets gleich hoffnungslos verlorene Existenz zum Eingehen in die Unvergänglichkeit der Ruhe war ja nur durch die Abwendung von allem und jedem mit der Welt der Vergänglichkeit und des Kampfes um die Existenz verbindenden »Durste« erreichbar. Sie konnte selbstverständlich ausschließlich dem »hauslosen« (pabbajita, d.h. dem wirtschaftslosen) Stande, nach der Gemeindelehre nur den wandernden Jüngern (später: Mönche, Bhikkshu genannt) zugänglich sein. Die Stände der »Hausbewohner« waren dagegen für die Gemeindelehre, – ähnlich etwa wie die tolerierten Ungläubigen im Islam, – im Grunde ausschließlich dazu da, den Buddhajünger, der den Gnadenstand zu erwerben trachtet, bis zu seiner Erreichung durch Almosen zu sustentieren. Heimatlos wandernd, besitzlos, arbeitslos, sexuell und gegenüber Alkohol, Gesang und Tanz absolut enthaltsam, streng vegetarisch, unter Meidung von Gewürzen, Salz und Honig, vom schweigenden Bettel von Tür zu Tür lebend, im übrigen der Kontemplation hingegeben, sucht er die Erlösung vom Daseinsdurst. Die materielle Unterstützung des Erlösungsuchenden und nur sie war letztlich die höchste Verdienstlichkeit und Ehre, die dem »Upâsaka« (»Verehrer« Laien363) zugänglich ist. Die Zurückweisung seiner Almosen durch Umkehrung der Betteltöpfe war die einzige Strafe, die ihm von den Mönchen drohte. Upâsaka aber war jeder, der sich als solcher betätigte. Eine offizielle Anerkennung gab es dafür ursprünglich gar nicht. Später wurde die Erklärung: seine Zuflucht zum Buddha und zu der Gemeinde (der Mönche) zu nehmen, als genügend behandelt. Während für die Mönche ganz eindeutige Sittenregeln bestehen, beschränkt sich der Stifter für die frommen Verehrer auf wenige empfehlende, und erst später allmählich zu einer Art von Laienethik[231] ausgebaute Ratschläge. »Consilia evangelica« gab es hier also nicht für die opera supererogatoria der Begnadeten, wie im Christentum, sondern gerade umgekehrt als Unzulänglichkeitsethik der Schwachen, welche die volle Erlösung nicht suchen wollen. Sie entsprachen in ihrem ursprünglichen Inhalt ungefähr dem Dekalog, jedoch mit umfassenderem, auf alle Verletzung lebender Wesen erstreckten, Sinn des Tötungsverbots (Ahimsa) und des Gebots der unbedingten Wahrhaftigkeit (im Dekalog bekanntlich mir für das Gerichtszeugnis verlangt), und mit ausdrücklicher Verpönung der Trunkenheit. Für die getreue Innehaltung dieser Gebote der Laiensittlichkeit (insbesondere der 5 Kardinalverbote: nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht lügen, nicht sich berauschen) werden dem frommen Laien innerweltliche Güter: Reichtum, ein guter Name, gute Gesellschaft, Tod ohne Angst und die Besserung seiner Wiedergeburtschancen in Aussicht gestellt. Günstigenfalls also: die Wiedergeburt in jenem ebenfalls vergänglichen Götterparadies, welches der zum Eingang in Nirvana Erlöste verschmäht, welches aber dem Weltkind besser zusagen mochte als jener vom Buddha in seiner näheren Bestimmtheit vielleicht problematisch gelassene, von der älteren Lehre aber zweifellos mit absoluter Vernichtung gleichgesetzte Zustand364. Der alte Buddhismus des Pali-Kanons war also lediglich ständische Ethik, oder richtiger: Kunstlehre, eines kontemplativen Mönchtums. Der Laie (»Hausbewohner«) kann nur die »niedere Gerechtigkeit« (Adi-brahma-chariya) üben, nicht, wie der »Ehrwürdige« (arhat) die entscheidenden Erlösungswerke. –

Es ist nun freilich sehr fraglich, ob die Lehre Buddhas von Anfang an als eine »Mönchs«-Religion gedacht war. Oder vielmehr: es ist so gut wie ganz sicher, daß sie dies keineswegs war. Es ist eine offenbar alte Tradition: daß der Buddha bei[232] Lebzeiten zahlreiche Laien, die nicht in einem Orden lebten, zum Nirvana habe gelangen lassen. Und es wird auch in den Fragen des Königs Milinda noch gelehrt, daß ein Laie Nirvana wenigstens, wie ein gelobtes Land, von Angesicht zu Angesicht erschauen könne. Dabei wird auch die Frage erörtert, wie jemals Erlösung von Laien durch Buddha möglich gewesen sei und warum der Buddha dessenungeachtet doch einen Mönchsorden gestiftet habe365.

Die Gemeinde Buddhas war naturgemäß zunächst die Gefolgschaft eines Mystagogen, jedenfalls mehr eine soteriologische Schule als ein Orden. Die Diskussionen der Fachleute366 machen wahrscheinlich, – was schon an sich naheliegt –, daß nach Buddhas Tode die nächsten Schüler zunächst, gegenüber ihren Anhängern, eine ähnliche Stellung eingenommen haben, wie Buddha zu ihnen selbst: sie waren ihre spirituellen Väter, in der üblichen indischen Terminologie: Guru, und maßgebende Interpreten seiner Lehre. Auf dem Konzil von Vaiçali, welches zum Schisma führte, hatte man einen hundertjährigen Schüler des Ananda, des Lieblingsschülers des Meisters, herbeigeholt: den »Vater der Gemeinschaft«. Formelle Bestimmungen darüber, wer in den später, zur Schlichtung von Lehr- und Disziplinstreitigkeiten, gelegentlich berufenen »Konzilien«, den universellen Versammlungen der Gemeinschaft, zu sitzen das Recht habe, fehlten zweifellos und von einer »Abstimmung« in unserem Sinn war keine Rede. Autorität entschied. Das Charisma der Arhatschaft, des sündlosen und daher mit magischen Kräften ausgestatteten Erlösten, war das entscheidende Merkmal: freilich aber hatte schon einer der vom Buddha selbst zugelassenen Schüler367 ein Schisma verschuldet. Irgendwelche »Regeln« hatte der Buddha wohl sicher von Fall zu Fall gegeben: es wird gesagt, daß diese nun, nach seinem Tode, der unpersönliche »Herr« der Gemeinde sein sollten. Unsicher ist nur, ob eine systematische Ordensregel, wie das spätere Pratimokscha es war, schon von ihm selbst stammte. Die unvermeidliche Disziplin erzwang dann festere Formen. Und ein Orden wurde die Gemeinschaft, weil wichtige Teile der Lehre als Geheimlehre überliefert wurden368,[233] wie in den meisten alten Soteriologien Indiens. Es war ein Zugehörigkeitsmerkmal erwünscht. Schon bald nach Buddha muß der Orden mit Kopfschur und gelber Tracht konstituiert gewesen sein und nur in der relativ immerhin lockeren Organisation erhielt sich die Spur des einstigen freien Gemeinschaftscharakters der alten Laien-Jüngerschaft. Es stand sehr bald fest, daß man zur vollen Einsicht369 und zur Arahat-Würde niemals gelangen konnte, ohne förmlich Mönch geworden zu sein370.

Eine rationale Wirtschaftsethik konnte eine derartig Ordensreligion nicht entwickeln. Sie ist, wie schon jetzt bemerkt sein mag, auch später nicht daraus entwickelt worden, als der alte Buddhismus schon auf dem Wege war, im »Mahayana« (»großen Schiff«, zum andern Ufer: der Erlösung, nämlich) im Gegensatz zum rein mönchischen »Konventikel«-Buddhismus: Hinayana (»kleines Schiff«) eine Laienreligion zu entwickeln. So werden im Lalitavistara dem frommen und gebildeten Laien (ârya) zwar Ratschläge gegeben, wie er in seinem Berufe (mâgra) vorwärts kommen könnte, aber in äußerst – und (wegen der Ablehnung der Werkheiligkeit) wohl absichtsvoll – unbestimmter Form. Es fehlen dabei »asketische« Regeln. In dem Dekalog der hinduistischen Yoga-Sutra gehört zu den sozialethischen und also allgemeinverbindlichen Lebensregeln (den 5 »yamas«) auch Geringschätzung von Reichtum und Geschenken, zu den soteriologischen individual-ethischen Regeln der höheren, geistlichen Ethik (den 5 niyamas) Genügsamkeit und ethische Strenge. Der übliche spätere buddhistische »Dekalog« (daçaçila) erwähnt[234] dagegen von jener asketisch negativen Beziehung zum Reichtum nichts, sondern beschränkt die 5 allgemein geltenden Verbote auf: Töten, Stehlen, Unzucht, Lüge und Alkoholgenuß, während den Aspiranten des geistlichen Standes außerdem das Essen außerhalb der erlaubten Zeit (einmal täglich), die Teilnahme an weltlichen Vergnügungen, Putz- und Schmuckgebrauch, weiche Betten und Annahme von Geldgeschenken absolut verboten sind. Die späteren buddhistischen Suttas, welche sich eingehender mit der Moral befassen (oft werden die betreffenden Lehren, statt dem Buddha selbst, dessen Schüler Ananda in den Mund gelegt), suchen allerdings die Laienmoral als eine »Vorstufe« der höheren, geistlichen Ethik zu behandeln. Innerhalb der stufenweise von der »niederen« zur »höheren« Moral aufsteigenden Sittenlehre wird die Verschmähung von Putz und die Enthaltung von der Teilnahme an Schauspielen und Wettkämpfen für die »höhere« Moralstufe empfohlen. Aber diese »höhere« Moral führt – das ist das Entscheidende – nicht zu zunehmend rationaler Askese (außerweltlicher oder innerweltlicher) und positiver Lebensmethodik. Denn jede »Werkheiligkeit« (kriyavada, karmavada) ist und bleibt verketzert. Sondern gerade umgekehrt tritt die aktive »Tugend« im Handeln immer stärker zurück gegenüber der »çila«, der Ethik des Nicht-Handelns zum Zweck der Abstreifung von »rajas« (»Antrieb«) zugunsten der reinen Kontemplation. In den Schriften der orthodoxen »südlichen« (Hinayâna)-Buddhisten wird dem Meister selbst ausdrücklich das Anerkenntnis in den Mund gelegt: daß seine Ethik »dualistisch« sei, sowohl Quietismus als Werktätigkeit lehre. Aber die Art der angegebenen Lösung des Widerspruchs: Quietismus in bezug auf schlechtes, Werktätigkeit in bezug auf gutes Wollen, ist geistliche Sophistik. In Wahrheit klafft der Widerspruch zwischen: Ethik des Handelns und: Kunstregeln der Kontemplation unlösbar und nur die letztere gibt die Erlösung. Die buddhistische Mönchsethik ist eben nicht, wie die spätere christliche, ein auf besondere Gnadengaben gestütztes rational-ethisches Ueberbieten des in den sozialen Ordnungen verlaufenden, »innerweltlichen« ethischen Handelns, sondern sie verläuft nach der gerade entgegengesetzten, prinzipiell asozialen, Richtung. Und deshalb ist ein wirklicher Ausgleich zwischen Welt-und Mönchsethik im Wege der »ständischen« Relativierung, wie sie Bhagavata-Glaube und Katholizismus[235] unternehmen konnten, niemals auch nur soweit gelungen wie dort. Die auf Laien zugeschnittene spätere Soteriologie konnte schon deshalb nicht den Weg einer innerweltlichen puritanischen Askese, sondern nur den einer sakramentalen, hagiolatrischen, idolatrischen oder logolatrischen Ritualreligiosität einschlagen. Immer blieb jedenfalls der Satz bestehen: »wer schöne Taten verrichten will, werde kein Mönch«. Im alten Buddhismus vollends fehlte auch fast jeder Ansatz einer methodischen Laiensittlichkeit. Der Laie soll bei der Annahme versprechen: Mord, Unreinheit, Lüge und Trunk zu meiden. Wie alt diese Gebote sind, ist indessen nicht ganz sicher. Gewisse Gewerbe galten früh aus religiösen Gründen für den Upâsaka als unstatthaft: Waffen-, Gift- und Alkoholhandel (ähnliche wie gewisse mit heidnischen Kulten zusammenhängende Gewerbe in der alten Christenheit), der im ganzen Hinduismus als bedenklich geltende Karawanenhandel überhaupt, der (für die Sexualmoral gefährliche) Sklavenhandel und das Schlächtergewerbe (als Verletzung des Ahimsa). Von diesen Gewerben also waren wenigstens korrekte Laien ausgeschlossen. Aber die spezifische Verwerflichkeit der Ackerbauarbeit für den Mönch (wiederum wegen des Ahimsa: der Perhorreszierung der beim Pflügen und Hacken unvermeidlichen Verletzung irgendwelcher lebender Wesen, die ja im Kreislauf der Wiedergeburten mit dem Menschen vergemeinschaftet sind) hinderte diesen keineswegs, Ackerbauprodukte als Almosen anzunehmen: sie hat die Laienwirtschaft überhaupt nicht beeinflußt. Ebensowenig hatte die äußerst scharfe Ablehnung jedes Geldbesitzes für die Mönche Bedeutung für die Laiensittlichkeit. Irgendein individualsittlicher oder sozialethischer Protest gegen Reichtumserwerb oder Luxusverbrauch findet sich, soweit die Weltsittlichkeit in Betracht kommt, im ältesten Buddhismus nicht. Auch nicht in jener Art von Empfehlung der Geringschätzung der Eitelkeit der Welt, also auch von Reichtum und Putz, wie sie die zitierten spätern Suttas enthalten. Denn nicht ein Unrecht sondern eine Versuchung, dem »Durst« zu verfallen, sind jene Dinge. Im Gegenteil wurde ja der Reichtum als solcher, wie wir sahen, als eine Frucht der Laiensittlichkeit verheißen, und die »Unterweisung des Sigâla« verpflichtet die Eltern ausdrücklich, ihren Kindern ein Erbteil zu hinterlassen. Irgendeine religiöse Prämie auf ein bestimmtes ökonomisches Verhalten fehlt auch sonst in jeder Richtung völlig. Es fehlte zunächst auch jedes[236] Mittel der Kontrolle der Laiensittlichkeit. Die einzige ursprüngliche schon erwähnte Strafe der »Umkehrung des Almosentopfs« war nicht für Laster, sondern ausschließlich für Verletzung der Achtung gegen die Mönchsgemeinde in Aussicht gestellt. Gerade die ältesten, vielleicht auf den Stifter selbst zurückgehenden Regeln haben ganz ausschließlich diesen Sinn. Es gab ursprünglich für die Laien weder Beichte noch Kirchenzucht, weder Laienbrüder noch Tertiarier.

Die buddhistische Mönchssittlichkeit ihrerseits aber kennt nicht nur die Arbeit nicht, sondern auch von den sonst üblichen asketischen Mitteln nur Nachhilfen, gerichtet auf Vertiefung der Kontemplation, Erbauung, Sicherung der wachen Selbstkontrolle durch Beichte und Ermahnung des Schülers durch den Lehrer, des an Anciennität jüngeren durch ältere Mönche. Jede Form einer rationalen Askese lehnt der Buddhismus ab. Wie nicht jede rationale Askese »Weltflucht« ist, so ist auch nicht jede »Weltflucht« rationale Askese: – davon kann man sich an diesem Beispiel überzeugen. – Weil für den Buddhismus der »Durst« nach einem Jenseits ganz ebenso ein Haften an der Welt ist, wie der Durst nach dem Diesseits, so steht auch mit der Hingabe an das diesseitige Glück die asketische werkheilige Selbstabtötung um eines jenseitigen Glücks willen auf gleicher Stufe. Beiden gegenüber betritt der Buddha den »mittleren Pfad«. Der große Wendepunkt in seinem Leben war, nach der darin wohl sicher zuverlässigen Ueberlieferung, das Aufgeben der in der indischen soteriologischen Methodik hoch ausgebildeten Versuche, durch Unterernährung und andere physiologischen Mittel den Leib zugunsten der Erlangung eines ekstatischen Charisma abzutöten. Darin steht also der Buddhismus entwicklungsgeschichtlich der jesuitischen Ablehnung der Mittel der alten Mönchskasteiung nahe371. Gerade diese Neuerung in seiner Lebensführung[237] wurde, ebenfalls nach alter Ueberlieferung, von seinen asketischen Genossen ebenso als Bruch der allerelementarsten Voraussetzungen der Erlösung empfunden wie Jesu anomistisches Verhalten von den Pharisäern. Es trug ihm zunächst offene Mißachtung und Zweifel an seinen Gnadengaben gerade in jenen Kreisen ein. Der unauslöschliche Haß der auf extreme asketische Abtötung und Werkheiligkeit abgestellten jainistischen Mönche setzte an eben diesem Punkt ein. Die buddhistische Erlösung ist, wenn man – wie wir es hier tun wollen – »Askese« als rationale Lebensmethodik faßt, prinzipiell antiasketisch. Gewiß schreibt sie einen bestimmten Weg vor, auf dem allein man zur Erleuchtung kommen kann. Aber dieser Weg ist weder ein verstandesmäßiges Einsehen der – an sich ja unendlich einfachen – Lehrsätze, auf denen sie metaphysisch ruht, noch ein allmähliches Training zu immer höherer sittlicher Vervollkommnung. Die Befreiung ist, wie wir sahen, ein durch methodische Kontemplation nur vorzubereitender plötzlicher »Sprung« in die Zuständlichkeiten der Stufen der Erleuchtung. Das Wesen dieses Sprunges ist, daß er den Menschen in seinem innersten praktischen Habitus in Einklang setzt mit seinen theoretischen Einsichten und ihm dadurch die buddhistische »perseverantia gratiae« und »certitudo salutis«: die Sicherheit, von dem »Lebensdurst« definitiv und ohne Rückfall erlöst zu sein, in diesem Sinn also: »Heiligkeit«, verleiht. Dies war, wie alle Ueberlieferungen zeigen, das Gnadenstandsbewußtsein des Buddha selbst. Alle Vorschriften des Buddha sind solche für die praktische Erreichung dieses Gnadenstandes, also gewissermaßen propädeutische Novizenvorschriften. – Alle seine eigenen als wahrscheinlich authentisch anzusehenden Aeußerungen: speziell auch über den »edlen achtfältigen Pfad«, enthalten nur allgemeine Angaben über die rechte Erlösungsgesinnung. Und es ist ganz wohl möglich, daß der Buddha, ebenso wie Jesus, für den Stand der erreichten Gnadenperseveranz (um es christlich auszudrücken) direkt anomistische Konsequenzen gezogen hat. Die Gegner (einschließlich der modernen konfessionellen christlichen Kritiker) haben ihm ja sein »Wohlleben« immer wieder vorgehalten, und nach der Ueberlieferung ist er an verdorbenem Schweinefleisch gestorben. Wie dem[238] nun sei, jedenfalls beschränkt sich die buddhistische »Methodik« auf die Anweisungen für Sicherung des Erfolges der Kontemplation und liegt methodisches Handeln, es sei um diesseitiger oder jenseitiger Ziele willen, für den Buddhismus in der Richtung nicht der Erlösung, sondern des »Weltdurstes«, von dem er ja gerade Erlösung bringen will. – Es ist vielleicht zweckmäßig, die altbuddhistische Soteriologie hier abschließend in rationaler Form so zusammenzufassen, wie dies von modernen europäisch geschulten Buddhisten geschieht372.

Die Grundlage dafür ist die berühmte Predigt des Buddha in Benares über die vier heiligen Wahrheiten. Die vier heiligen Wahrheiten beziehen sich auf 1. Leiden, 2. den Grund des Leidens, 3. das Ende des Leidens und schließlich, als Mittel dazu, 4. den edlen achtfältigen Pfad. – 1. Das Leiden haftet an der Vergänglichkeit als solcher und diese an der Individuation. Alle Herrlichkeit des Lebens ist nicht nur vergänglich, sondern ruht auf Kampf mit anderem Leben und entsteht nur auf dessen Kosten. – 2. Der Grund alles Lebens und damit alles Leidens ist der sinnlose »Durst« (trishna) nach Leben, nach Erhaltung der Individualität, selbst über den Tod hinaus in einem »ewigen« Leben. Der Glaube an die »Seele«, und an deren Dauer ist nur die Folge dieses unstillbaren Durstes mit all den Sinnlosigkeiten, die er mit sich bringt. Sie ist auch die Quelle des Glaubens an einen »Gott«, der unsere Gebete erhört. – 3. Das Ende des Lebensdurstes ist das Ende jenes Leidens an der Vergänglichkeit und am Leben. Der Weg dazu aber ist – 4. der edle achtfältige Pfad. Seine Stufen sind: Sammadikhi – »rechte Einsicht« – nämlich die zunächst verstandsmäßige, dann aber das ganze Leben durchdringende Einsicht darein: daß alle Konstituenzien des Lebens von Natur mit den Prädikaten des Leidens, der Vergänglichkeit und des Fehlens jeglichen »ewigen« Kerns (nach Art des brahmanischen Atman, der »Seele«) behaftet sind. – Die zweite Stufe ist Sammasankappa, »rechtes Wollen«, der erbarmungsvoll wissende Verzicht auf den Genuß des Lebens, der ja überall nur auf Kosten anderer Lebender möglich ist. –[239] Die dritte Stufe ist Sammavaca, »rechte Rede«, die Vermeidung unwahrhaften und lieblosen Redens durch Beherrschung, der eigenen leidenschaftlichen Natur. – Die vierte Stufe ist Sammakammanta, »rechte Lebensführung«, die Ausschaltung alles Unreinen und vor allem auch alles Schielens nach Erfolgen und Früchten des eigenen rechten Tuns, aus dem Handeln. Wer dies voll erreicht hat, der gewinnt die fünfte Stufe, welche, christlich gesprochen, die certitudo salutis gibt: die nicht mehr verlierbare Heiligkeit des Lebens: Samma ajivo. Die gewaltige Anspannung aller seiner Kräfte im Dienst des heiligen Zieles geben ihm eine seelische Macht des heiligen Wollens, welches weit hinausgeht über das für andere Erreichbare: Sammavayano, die rechte »Willensmacht«, die sechste Stufe. Wachend nicht nur, sondern auch schlafend hat er sich jetzt in der Gewalt, er weiß wer er ist und war. Und dieser innere Habitus des heiligen Wissens führt ihn zur siebenten Stufe der Vollendung: Sammasati, auf welcher er anderen als heiligen Gedanken und Gefühlen nicht mehr zugänglich ist. Und dadurch, durch diese schon jenseits des normalen Bewußtseins liegende Fähigkeit wird er innerlich an die »todentronnenen Gestade« Nirwanas getragen: in die rechte Konzentration: Sammasamadhi, die letzte und höchste Stufe.

Auch in dieser schon stark modernisierten373 und also abgeblaßten Form gibt die Heilslehre doch noch einen Begriff von der praktisch wesentlichsten Eigenart des Buddhismus: der gänzlichen Ausrottung jeder Art von innerweltlicher Motivation im Handeln, sei sie nun irrationaler, leidenschaftlicher oder rationaler, zweckbewußter, Art. Denn ein jegliches rationales Handeln (»Handeln mit einem Ziel«) wird dem Prinzip getreu ausdrücklich verworfen. Es fehlt also der im occidentalen Mönchtum zunehmend entwickelte, für dessen Eigenart so wichtige Zug zur rationalen Methodik der Lebensführung auf allen Gebieten außer in der rein geistigen Systematisierung des konzentrierten Meditierens und der reinen Kontemplation. Diese ihrerseits ist freilich zunehmend[240] bis zu dem in Indien auch sonst gepflegten Raffinement fortgebildet worden. Die spätere Entwicklung nahm aus der Yoga-Technik, welche dem Meister selbst wohl sicher bekannt war, zahlreiche Nachhilfen auf: von der Atemregelung bis zu den Stufenfolgen der Versenkung des Denkens durch den Kursus der vierzig Karmasthanas wurden alle Mittel methodisch rationalisiert zur sukzessiven Erreichung der vier Rangstufen der Erlösung.

Die höchste Stufe erlangt nach der Lehre wenigstens der Gemeinde, sahen wir, nur der Mönch. Der fromme Laie aber war sogar von den einzigen kultusartigen Veranstaltungen dieser ursprünglich notwendig gänzlich kultlosen Frömmigkeit: den Halbmonatsversammlungen und der Uposâtha-Feier: – es sind im wesentlichen rein disziplinäre Beichtversammlungen der Mönche, – ausgeschlossen. Ihm blieb also nichts als die Verehrung der Mönche persönlich und der Reliquien durch Stiftung von Vihâras (Unterkunftshäusern, in alter Zeit noch ohne Klostercharakter), Bau von Stupas mit den daran sich zunehmend anschließenden Kunstobjekten, an die sich dann bald, als zunächst einzig mögliche Form der Laienfrömmigkeit, eigentlicher Reliquienkult anschloß. Gerade die absolute Außerweltlichkeit und Kultlosigkeit der Mönchsfrömmigkeit und das Fehlen jeder planmäßigen Beeinflussung der Lebensführung der Laien: – ein sehr wichtiger Gegensatz des alten Buddhismus gegenüber dem Jainismus, – mußte daher mit Notwendigkeit die Frömmigkeit der Laien in die Richtung der Hagiolatrie und Idolatrie drängen, wie sie die Mehrzahl der späteren Mahayana-Sekten gepflegt hat. Der alte Buddhismus war zwar Zauberkünsten durchaus abgeneigt. Aber er hatte die Existenz der »Geister« (devata) nie bezweifelt, und daraus entwickelte sich sehr bald der Geisterzwang und die Kunst der Geomantik374. Wie leicht andererseits der Umschlag von der mäcenatisch von Fall zu Fall versorgten Jüngergemeinschaft zum stiftungsmäßig mit Baugrund und Baulichkeiten, dauernden Renten, Grundbesitz, Sklaven, Hörigen ausgestatteten Klosterleben, im Ergebnis also: zur klösterlichen Grundherrlichkeit erfolgte, zeigt schon die Geschichte des alten Buddhismus in Indien und den Nachbarländern und vollends die durchweg auf Klostergrundherrschaft ruhende Form, zu welcher, wie noch zu erzählen sein wird, der[241] Buddhismus in Ceylon und Tibet gelangte. Als Gegenmittel gegen diese in der Tat fast unvermeidliche Entwicklung hat der alte Buddhismus neben dem Verbot des Besitzes: – welches aber zum mindesten für die Kleidervorräte, für welche eigene Verwalter von Anfang an vorkamen, durchbrochen war, – das Gebot des Wanderns der Mönche und die Ablehnung jeder hierarchischen oder parochialen, überhaupt jeder bindenden Organisation aufrecht erhalten. Die Diözesen (Sima), für welche die Halbmonats- und Uposâtha-Feiern vom jeweils Aeltesten für die zufällig darin sich aufhaltenden Mönche angesetzt werden, waren keine exklusiven Sprengel. Eine Residenzpflicht oder Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kloster gibt es ursprünglich nicht. Bei den Versammlungen gilt nur der Vorrang des Alters (als Voll-Mönch, nicht: des Lebensalters). Alle »Beamte« sind nur technische Hilfskräfte ohne imperium. Und die später verschwundenen sogenannten »Patriarchen« oder »Väter« der alten buddhistischen Kirche waren anscheinend ausschließlich durch Anciennität und Charisma qualifizierte Arhats in einem seiner alten Tradition entsprechend charismatisch geachteten Kloster. Ueber ihre Stellung scheint im übrigen Sicheres nicht bekannt zu sein. Da überdies die Aufnahme in den Orden, nach vorgängigem Noviziat: Lehre bei einem Mönch als Directeur de l'âme und förmliche Zulassung auf Ansuchen und Empfehlung des Lehrers, keinerlei dauernde Bindung enthielt, auch der Austritt jederzeit frei stand und jedem, dessen Kraft nicht ausreiche, empfohlen wurde375, – so verharrte der Buddhismus, alles in allem, infolge dieser absichtlichen, konsequent durchgeführten Minimisierung der Bindung und Reglementierung, in einer Strukturlosigkeit, welche die Einheitlichkeit der Gemeinschaft von Anfang an aufs schwerste gefährden mußte und auch tatsächlich sehr bald zu Häresien und Sektenbildungen geführt hat. Das einzige Gegenmittel dagegen: die Berufung von Konzilien, versagte bald und ist offensichtlich nur durch Unterstützung der weltlichen Gewalt möglich geblieben. Es macht den Eindruck: daß selbst die wenigen schließlich geschaffenen Elemente[242] einer Organisation und Disziplin, also einer Ordensstiftung, ebenso auch die Fixierung der Lehre, erst nach dem Tode des Stifters, entgegen seinen eigenen Absichten entstanden. Es steht aus der Tradition fest, daß Ananda sein Lieblingsjünger, also der »Johannes« des primitiven Buddhismus war. Ebenso sicher aber ist den, sei es auch sonst noch so wenig brauchbaren, Traditionen über das »erste Konzil« (nach seinem Tode) zu entnehmen: daß Ananda von den anderen Jüngern nicht nur bei Seite geschoben, sondern als nicht sündenfrei zur Buße gezwungen wurde, und daß andere die Gemeindeleitung in die Hand nahmen, – ebenso wie in der urchristlichen Gemeinde. Die primitive Mönchsgemeinschaft wollte offenbar weder die spirituelle Sukzession noch überhaupt die Aristokratie des Charisma in ihrer Mitte aufkommen lassen. Sie betonte deshalb das Anciennitätsprinzip der (voll erlösten und also sündlosen) Arhats und außerdem ein gewisses Mindestmaß von fixierter Ordnung, während Ananda vermutlich als Vertreter des ganz organisationsfreien charismatischen Prädikantentums galt. Nur nach der Zahl der »Was«, die er hat, das heißt, der seit dem Eintritt in das Kloster verflossenen jährlichen Eintrittsjahreszeiten (also: Jahre), richtete sich bis in die Gegenwart der Rang der im übrigen untereinander streng gleichgestellten Mönche in orthodoxen birmanischen Klöstern: nach zehn Was (Jahren) wird der Mönch ein Vollmönch. Das ist sicher sehr alte Tradition. –

Die orthodoxe Lehre der Gemeinde, wie sie noch mehr als ein Jahrtausend später im Hinayana-Buddhismus fortlebte, kannte außer der Anciennität nur ein ganz unbedingt und allerdings höchst wirksam bindendes Strukturelement: die Beziehung zwischen Lehrer (Upadhyaya) und Schüler. Der Novize hat die strengen Pietätsregeln des indischen Bramacharin gegenüber seinem Guru einzuhalten. Auch der rezipierte Mönch durfte noch zu J-tsing's Zeit (7. Jahrhundert nach Chr.) erst fünf Jahre, nachdem er den Inhalt des Vianya-Kanons nach Ansicht des Lehrers vollständig innehatte, sich überhaupt vom Lehrer entfernen. Er bedurfte auch dann noch für alle und jede Handlung der vorherigen Genehmigung des letzteren, dem er keine für sein Heil wichtige Regung vorenthalten durfte. Erst zehn Jahre nach der vollen Aneignung des Vinaya hörte diese Bevormundung auf. Wer aber den Kanon sich vorher gänzlich anzueignen nicht fähig war, blieb lebenslänglich unter jener absoluten Vormundschaft.[243] Gerade die Hinayana-Orthodoxie scheint an dieser Pietätsbeziehung besonders streng festgehalten zu haben.

Die Anhängerschaft des alten Buddhismus in Indien selbst, welche die spätere Entwicklung der Klöster zur Grundherrschaft und der Erlösungslehre zu einer Laiensoteriologie perhorreszierte, rekrutierte sich, vom Stifter selbst angefangen, aus großen Adelsgeschlechtern und reichen Bürgern, zwar nicht ausschließlich, aber vorwiegend. Auch Brahmanen scheinen sich zu finden; aber es waren Vertreter der vornehmen Laienbildung der weltlichen Honoratiorenschichten, welche die Mehrzahl seiner Jünger stellten376. Ansätze zur Entwicklung von Standeskonventionen liegen dem entsprechend weit zurück. Schon die vorgeschriebene Form des Bettelns war dem Würdegefühl und guten Geschmack eines wohlerzogenen Intellektuellen angepaßt. Niemals waren die Jünger Buddhas eine Horde kulturloser Bettler. Nicht nur die Kleidung war von Anfang an im Gegensatz zu anderen Sekten anständig reguliert und auch Gegenstand planmäßiger Vorsorge. Sondern die Anziehungskraft des Buddhismus besonders auf die oberen Schichten erklärt sich zum Teil wenigstens gerade durch seine sorgsame Rücksichtnahme auf Wohlanständigkeit. Das Prâtimokkha der südlichen Buddhisten enthält eine Fülle rein konventioneller Anstandsregeln für die Mönche im Verkehr untereinander und mit der »Welt«, bis herunter zum Verbot des Schmatzens beim Essen. –

Dem entsprach die innere Eigenart der Lehre.

Ganz ungeheuer und grundlegend ist – wie man schon mehrfach bemerkt hat (namentlich Oldenberg) – der Unterschied der Predigt des Buddha, von der man aus der Tradition immerhin eine ungefähre Vorstellung zu gewinnen in der Lage ist, von derjenigen etwa von Jesus einerseits, Muhammed andererseits. Die typische Wirkungsform des Buddha ist der sokratische[244] Dialog, durch welchen der Gegner im Wege eines wohlüberlegten Raisonnements ad absurdum geführt und zur Unterwerfung gezwungen wird. Weder das kurze Gleichnis oder die ironische Abfertigung oder gar die pathetische Bußpredigt des galiläischen Propheten, noch die auf Visionen ruhenden Ansprachen des arabischen heiligen Heerführers finden irgendwelche Parallelen in jenen rein auf den Intellekt, die ruhige, sachliche, mit keiner inneren Erregung beteiligte Erwägung wirkenden, souveränen, stets systematisch-dialektisch den Gegenstand erschöpfenden Vorträgen und Gesprächen, welche die eigentlichste Form des Wirkens des Buddha gewesen zu sein scheinen. Es war schlechterdings unmöglich – und man kann sich davon leicht überzeugen – ohne ein recht erhebliches Maß von Schulung im spezifisch hinduistischen Denken ihnen zu folgen, obwohl der Buddha, und zwar für einen hinduistischen Denker mit Recht, versicherte: daß seine Lehre so einfach sei, daß jedes Kind sie zu verstehen vermöge. Denn jedenfalls galt dies nur für ein Kind aus einer, im althin duistischen Sinn, »sehr guten Kinderstube«.

Der Buddhismus ist vollends mit keinerlei »sozialer« Bewegung verknüpft oder parallel gegangen, hat auch nicht das mindeste »sozialpolitische« Ziel aufgestellt. Die Ignorierung der ständischen Gliederung war nichts Neues. In den Gegenden der Entstehung des Buddhismus – Magadha und den benachbarten nordindischen Gebieten – war die Macht des Brahmanentums relativ schwach. Die vier alten »Stände« waren zweifellos längst im Zerfall – vor allem waren die freien Bauern (Vaiçya) eine Fiktion geworden. Den Quellen der buddhistischen Zeit galten die Kaufleute als die typischen Vaiçya, und der religiöse Abschluß von »Kasten« gegeneinander, insbesondere die Gliederung der Çudras in Berufskasten, stand, wie es scheint, mindestens in diesen Teilen Indiens teilweise erst in den Anfängen und ist dort erst vom späteren Hinduismus in alle Konsequenzen durchgeführt worden. Die individuelle Heilssuche der »Sramana«, deren asketische Leistungen in der religiösen Schätzung längst den zünftigen vedisch gebildeten Priestern gleichgeachtet wurden, bestand als eine weit verbreitete Erscheinung. Die Nichtachtung der Unterschiede der Stände durch den Buddhismus bedeutete also keine soziale Revolution, – soweit sie überhaupt Realität war, wie es allerdings scheint. Daß Angehörige der niedrigsten Schichten sich unter den Anhängern des ältesten Buddhismus befunden[245] hätten, ist nicht überliefert und sehr unwahrscheinlich. Denn gerade die Sramana überhaupt entstammten ja von jeher weit überwiegend jenen Kreisen vornehmer Laienbildung, die sich besonders stark aus dem stadtsässigen Kschatriyapatriziat rekrutierten, etwa so wie bei uns die Humanisten. Es scheint im Gegenteil ziemlich sicher, daß der ursprüngliche Buddhismus genau wie der alte Jainismus zunächst an der Ueberzeugung festhielt, daß ein zur vollen Gnosis Befähigter nur in der Brahmanen- und Kschatriya-Kaste geboren werden könne. Auch der Buddha selbst wurde von der Legende sehr bald von einem Landadelssprößling, der er historisch war, zu einem Königssohn erhoben. Das reiche Stadtpatriziat, aber auch zahlreiche Brahmanen gibt die Tradition als Proselyten seiner ersten Predigten an. Die vornehme Intellektuellenschicht, an welche sich Buddhas Lehre wendete, – die ja wie Oldenberg sich ausdrückt keineswegs für »Arme im Geiste« bestimmt sein konnte, – fühlte sich wie wir schon sahen, innerhalb der damaligen indischen Kleinstaaterei in starkem Maße als eine durch alle jene zufälligen und wechselnden politischen Bildungen, welche das Pathos einer solchen Klasse unmöglich dauernd für sich beschlagnahmen konnten, hindurchgreifende Einheit, ähnlich der Intellektuellenschicht unseres Mittelalters. Die buddhistische Lehre selbst ist innerhalb eines Gebiets von damals relativ bedeutender adeliger und bürgerlicher Reichtumsentwicklung entstanden. Eine in dem Maß wie im späteren Hinduismus oder auch wie nach den Ansprüchen der älteren Brahmanen herrschende Priesterschaft, welche dies Patriziertum hätte hindern können, sein Leben so zu führen, wie es ihm selbst behagte, und nach Belieben zu glauben oder nicht zu glauben was es wollte, war damals dort nicht vorhanden, und die weltlichen Gewalten konnten keinerlei Anlaß finden, gegen eine absolut unpolitische Bewegung, wie es deren schon massenhaft gab, Einwände zu erheben. Im übrigen ist die Regel Buddhas, welcher der Tradition als Schützling des Königs Bimbisara, der ihn verehrte, galt, darauf bedacht, alle Bedenken der weltlichen Gewalt zu umgehen: Soldaten, Sklaven, Schuldverhaftete oder Verbrecher fanden in dem Orden keinerlei Aufnahme. Ein »Kampf« gegen die Brahmanen, wie etwa bei Christus gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten, ist in Buddhas Predigt nicht zu spüren. Er läßt die Götter ebenso wie die Bedeutung der Kasten dahingestellt. Er besteht nach der Tradition, auf nachdrückliches[246] Befragen eines Brahmanen, nur darauf: daß nicht die Geburt, sondern das rechte Tun den Brahmanen zum wahren Brahmanen mache. Ebenso, findet sich kein eigentlicher Kampf gegen das Opfer, wie er den Jaina eigentümlich war. Es hat nur für das Ziel, dem der Starke und Weise nachgeht, keinen Wert.

Als Ganzes ist der alte Buddhismus Erzeugnis nicht etwa negativ, sondern vielmehr stark positiv privilegierter Schichten. Allerdings kann keinem Zweifel unterliegen, daß ein antihierokratischer Zug: die Entwertung des brahmanischen Ritualwissens und der brahmanischen Philosophie es war, welches den Fürsten und dem Patriziat die Lehre sympathisch machten. Daß gegen die Brahmanenhierokratie die auf die Dauer noch stärkere hierokratische Macht der Bettelmönche eingetauscht würde, war eine Erfahrung, die erst den späteren Geschlechtern aufging. Die Ueberzeugung von einer spezifischen Heiligkeit der Wandermönche und Asketen war längst Gemeingut aller sozialen Schichten in Indien, ebenso wie übrigens sehr vieler anderen Zeiten und Völker. Die Ordensregel schrieb zwar gewiß nicht absichtslos ausdrücklich vor: daß der Mönch auf dem Bettelgang unterschiedslos an die Türen der Armen und der Reichen klopfen solle. Innerhalb der Welt aber die soziale Ordnung zu ändern hat weder der alte noch der spätere Buddhismus versucht. Die Welt war für den Mönch indifferent. Nicht wie im alten Christentum deshalb, weil die eschatologische Erwartung sie dazu stempelte. Sondern umgekehrt: weil es keinerlei eschatologische Erwartung und – wenigstens nach der späteren Lehre – auch keine Erlösung für den gab, der nicht Mönch werden wollte, und andererseits für den Mönch kein Menschenschicksal, welches seine eigene Erlösungschance irgendwie hätte beeinflussen können. Die Art der Erlösung, welche dem Bettelmönch versprochen wurde, war sicherlich nicht nach dem Geschmack sozial gedrückter Schichten, die vielmehr einen Entgelt im Jenseits oder aber zukünftige Diesseits-Hoffnungen verlangt hätten. Die Laiensittlichkeit aber trug den Charakter einer äußerst farblosen »bürgerlichen« Ethik und ihre diesseitigen Prämien: Reichtum und ein ehrenvoller Name, ebenfalls. Ein religiöses »Naturrecht« höriger Bauern oder zünftiger Handwerker gar hätte anders ausgesehen. Und daß eine in diesen Schichten als Heimat wurzelnde Erlösungsreligion oder überhaupt eine spezifische Laienreligiosität der unteren Schichten einen gründlich anderen Charakter[247] gehabt hätte, bewies die bald zu erzählende Entwicklung der Folgezeit.

Die Propaganda durch Lehre gehört als spezifische Lebensform dem rastlos wandernden Buddha ganz persönlich an. Ob sie ursprünglich für die Mönche als eigentliche »Pflicht« angesehen wurde, mag dahingestellt bleiben und ist eher unwahrscheinlich. Die ausdrückliche Pflicht der Mission knüpft als solche vielmehr wohl erst an die Wandlung des Erlösungsideals in den späteren Jahrhunderten an.

Der Buddhismus wurde aber eine der größten Missionsreligionen der Erde. Das muß wundernehmen. Denn rein rational angesehen ist kein Motiv zu entdecken, welches ihn dazu hätte bestimmen können. Was sollte einen nur seine eigene Erlösung suchenden und dafür ganz und gar auf sich selbst allein angewiesenen Mönch veranlassen, sich um das Seelenheil anderer zu kümmern und die Mission zu betreiben? Zumal gerade dem Mystiker, vollends unter dem Einfluß der Karman-Lehre mit ihrer Determiniertheit der Erlösungschancen durch Karman und durch die von da aus bedingten Unterschiede der Qualifikation, ein solches Unternehmen doch höchst unfruchtbar erscheinen mußte. Lange schwankt in der Legende der Buddha, ob er auf Brahmas Bitte den Menschen die Erlösungslehre verkünden sollte. Schließlich bestimmt ihn dazu der Umstand: daß neben den nach ihrer Qualifikation zum Heil und den zum Unheil bestimmten er doch eine große Zahl Menschen sieht, deren Qualifikation nicht eindeutig ist, und deren Heilsschicksal also durch Heilsverkündigung beeinflußt werden kann. Indessen dies war nur eine dogmatische Deutung. Wo aber lagen die realen praktischen Antriebe? Zunächst vermutlich in jenem rational nicht weiter deutbaren, psychologisch (vielleicht physiologisch) bedingten Tatbestand, den wir kennen: Den großen Virtuosen der mystischen Frömmigkeit eignet zumeist jener erbarmensvolle Liebesakosmismus, der fast überall die psychologische Form des mystischen Heilsbesitzes: die eigentümliche Euphorie des gottinnigen Stillgewordenseins, begleitet. Er hat die Mehrzahl von ihnen, den rationalen Konsequenzen der mystischen Heilssuche entgegen, auf den Weg der Seelenrettung getrieben. Indessen dies Motiv, welches ganz offensichtlich auch in der buddhistischen Mitleidsethik sich äußert, bestand auch bei anderen indischen Mystikern. Daneben wirkte die Gepflogenheit wandernden[248] Disputierens, welches, wie allen indischen Soteriologen der alten Intellektuellenschicht, so auch, in charakteristischer Art, dem Buddha eignete. Indessen auch dies war eine allgemeine Erscheinung aller Soteriologien seiner Zeit. Entscheidend war für den Erfolg der Propaganda bei den Jaina wie bei den Buddhisten: das Auftreten von »Berufsmönchen« in der Form von Gemeinschaften. Das entscheidende Motiv aber für den Betrieb der Propaganda lag natürlich in den materiellen Interessen der Mönche an der Vermehrung der Nahrunggeber: der Upasaka. Auch dies Interesse zwar war den konkurrierenden Mönchsverbänden, namentlich den Jaina, mit den Buddhisten gemeinsam. Aber hier kamen dem Buddhismus in der Zeit seiner Expansion einige Umstände zugute, welche auf der anderen Seite, praktisch angesehen, eine Schwäche darstellten, die ihm später, in Indien selbst wenigstens, gegenüber der Konkurrenz der orthodoxen Berufsmönche zum Unheil ausschlagen sollte. Einerseits die überaus geringen Ansprüche, welche er an die Laien stellte. Andererseits das vollkommene Fehlen einer festen Organisation der Mönchsgemeinschaft und damit auch fixierter Pfründeninteressen der Mönche selbst. Für jede Konfession kommt die Krisis ihrer missionierenden Expansion in dem Augenblick, wenn der typische Prozeß der »Verpfründung« an ihr vollendet ist. Das heißt: wenn ihre Organisation so weit vorgeschritten ist, daß ihre Einkünfte einerseits, ihre Heilsdarbietungen andererseits in festen Sprengeln nach Art einer »Kundschaft« oder »Rente« für ihre berufsmäßigen Heilsvermittler (Priester, Prediger, Mönche) fest verteilt sind. Dann überwiegt unvermeidlich das monopolistische Interesse der Inhaber jener »Kundschaften« und Präbenden über das gemeinsame Interesse an der Gewinnung von Neuland. Die Gemeinschaft erschwert dann die Aufnahme von Novizen, um die »Nahrungen« der schon vorhandenen Sprengelinhaber nicht zu gefährden. Sie interessiert sich zwar für die Fernhaltung von Konkurrenz auf ihrem Nahrungsgebiet, aber ihre Pfründner sind keine geeigneten Propagandisten für die Mission auf Fremdgebieten. In der einen oder anderen Form läßt sich dieser Vorgang bei den meisten einstmals missionierenden Konfessionen verfolgen. Beim Buddhismus nun schloß die alte überaus »akosmistische« Organisation (oder: Organisationslosigkeit) in Verbindung mit der Ablehnung jeder Ordnung der Laienbeziehungen die Verpfründung zunächst direkt aus.

[249] Und gerade der den Asketen älterer Observanz so ärgerliche rein parasitäre Charakter der buddhistischen Nahrungssuche, der Anschluß an die damals aufblühenden Städte und an die größeren Ortschaften überhaupt, verbunden mit dem sehr geringen Maß von Bindung sowohl der Mönche wie der Laien, die sie ernährten, an rituelle Regeln, war ein, äußerlich wenigstens, anfänglich sehr bedeutender Vorteil. Wir sahen, daß der alte Buddhismus, von der fest gegebenen Verschiedenheit der Qualifikation für die Erlösung als einer Grundtatsache ausgehend, den Laien fast keinerlei Verpflichtung auferlegte als eben: den Unterhalt der Mönche zu bestreiten, daß er ursprünglich keine Abgaben an die Gemeinschaft, – aus welchen sehr schnell Präbenden der Mönche hätten werden und die Kontingentierung ihrer Zahl hätte hervorgehen müssen, – kannte, sondern nur Geschenke an den einzelnen Mönch. Erst allmählich trat darin eine Aenderung im Sinne der gewöhnlichen Klosterorganisation ein. Die Avasika: die nicht nur während der Regenzeit, sondern dauernd im Kloster residierenden, nicht mehr wandernden Mönche, sind zweifellos, ebenso wie die festere Abgrenzung der Kirchspiele, (sima) erst ein schon auf dem Weg zur Klostergrund herrschaft liegendes Entwicklungsprodukt. Diesen residierenden Mönchen lag neben der Meditation das Studium der Sutras und ferner wissenschaftliche Arbeit ob. Der alte Buddhismus schätzte dagegen wie andere so auch die wissenschaftliche Arbeit nicht. Und vollends die Entstehung einer Literatur als Studienobjekt war bei der ursprünglich rein mündlichen Ueberlieferung unzweifelhaft erst sekundär. Solange dieser alte Zustand dauerte, mußte er zu einer Ueberschwemmung des Landes mit missionierenden Jüngern und Mönchen führen und hat dies getan.

Dennoch hätte der Buddhismus mindestens seinen internationalen Eroberungszug wohl nicht antreten können ohne die historische Zufälligkeit: daß einer der ersten Großkönige, die fast das ganze indische Kulturgebiet beherrschten, sein leidenschaftlicher Anhänger wurde, wie bald zu berichten sein wird.[250]


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band 2, Tübingen 81986, S. 134-251.
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