3. Israel.

[83] Einigermaßen sichere Auskunft über die vorexilischen Verhältnisse Israels geben nur die Wortlaute derjenigen »Gesetzgebungen«, welche unzweifelhaft in ältere Zeit hinaufreichen und der angeblichen Göttlichkeit ihrer Herkunft wegen ein relativ hohes Maß von Garantie für Treue der Ueberlieferung bieten. Ein kurzer Blick auf die von ihnen illustrierten Zustände rechtfertigt sich dadurch, daß nur hier aus dem eigenen Munde eines Volkes Kunde aus einer Zeit vor[83] der Stadtsässigkeit der politischen und priesterlichen Gewalten geboten zu werden scheint. Freilich: die Annahme, man habe es im ältesten »Gesetz« (Exodus 19 ff.) mit irgendwie »ursprünglichen« Zuständen zu tun, mit dem Recht eines primitiven Bauernvolkes, noch frei von allem städtischen und geldwirtschaftlichen Einschlag, ist ganz unhaltbar, wie unter den neueren Darstellungen namentlich A. Merx, bei aller Betonung der großen Kulturunterschiede zwischen der Periode dieses »Gesetzes« und der des Deuteronomiums, anerkennt. Trotz der – wie überall – großen Bedeutung des Viehes, als der wichtigsten Quelle der Differenzierung des Reichtums, scheint eines sicher: ein eigentliches Nomadenvolk oder ein »Beduinenstamm« sind die historischen Israeliten, auch ihre herrschenden Schichten, niemals gewesen3): das Kamel nicht nur, sondern auch das Pferd fehlen, der Ochse ist, wie im ältesten Rom, vor allem Arbeitstier. Leder ist (wie in Aegypten) das älteste Kleidungsmaterial. Getreide als Hauptnahrung, daneben Gemüse und Wein finden sich von Anfang an, ebenso wohl auch Oel; tägliche Fleischmahlzeiten kennt natürlich nur der König, andere Leute schlachten nur an den Festtagen (und dann in Form des Opfers) aber z.B. von einer besonderen Bedeutung des Käses (wie in Althellas) finden wir nichts. Unter dem Viehbesitz, der hier, wie überall, Kennzeichen des reichen Mannes und namentlich in den Händen der Könige groß ist, spielen die Schafe aus Gründen der Landeseigenart mit dem Vordringen der Wollkleidung eine große Rolle. Die Bodenbebauung (Hakenpflug, Düngung wie es scheint wenig entwickelt) und Brotbereitung (Handmühle, Backtopf) blieben ziemlich primitiv. – Jedenfalls dürfen, nach dem Gesagten, die Hebräer trotz der größeren Rücksicht, welche das alte Gesetz gegenüber dem Deuteronomium auf die Verhältnisse des Viehbesitzes nimmt, schwerlich als ein in jener Zeit auch nur vornehmlich viehzüchtendes Volk angesehen werden (Genesis 47, 3 pointiert den Gegensatz gegen die Aegypter). Aber allerdings sind die Hebräer der vorköniglichen Zeit ein aus dem »jenseitigen«, d.h. ostjordanischen Lande über den Fluß und dann weiter über das Bergland vorgedrungenes, und nun weiter nach der Küste zu abwechselnd vordrängendes und seinerseits bedrängtes »Bergvolk«, welches »Milch und Honig«, die Produkte der Bergabhänge, schätzt. Es ist ihnen, als ein »Aisymnet« (im hellenischen Sinn): »Moses«, ihnen das »Gesetz« gibt, erst teilweise gelungen, die größeren kanaanäischen Städte in den Flußtälern zu erobern. Ihre Macht liegt dem Schwerpunkt nach in den vom Stamme Joseph okkupierten Bergtälern, von wo aus sie – wie Aitoler und Samniten – in die Ebenen vorbrechen und sie allmählich in ihre Gewalt bringen, dabei abwechselnd in die Botmäßigkeit der[84] philistäischen oder anderer Stadtkönige gelangend und sie abschüttelnd, überdies von den von Osten her sie bedrängenden Wüstenstämmen bedrückt und ihnen oft tributpflichtig. Ganz abgesehen aber von der Frage der Realität ihres Aufenthaltes in Aegypten, als Fronbauern eines der pharaonischen »Diensthäuser« (Exod. 20, 1: eine recht gute Kenntnis der ägyptischen Verhältnisse – selbst der Titel Josephs ist historisch – seitens der Verfasser dieser Partien steht völlig fest, beweist aber bei der Nähe des Landes natürlich an sich nichts), – ist der Einfluß der lange vor ihrem Auftreten bestehenden syrischen Stadtkultur unverkennbar. Das »Gesetz« setzt nicht nur ein ansässiges, ackerbautreibendes Volk voraus, sondern es fehlt auch jede Spur von Kollektivbesitz. Auch der Grund und Boden ist voll appropriiert, wenn schon, wenigstens normalerweise, nur intrafamiliares Verkehrsobjekt. Das Bestehen der Blutrache, die in Athen nach einer nicht sicheren, aber wenigstens auch nicht unmöglichen, Annahme erst Drakon beseitigt haben soll, ist gewiß kein Beweis für »primitive« Zustände. Ebenso nicht die Festsetzung der Bußen in Vieh, die in Griechenland und Rom tief in die historische Zeit hineinragt und weniger der absoluten Seltenheit, als dem Schwanken des jeweiligen Vorrats von Edelmetallen entspricht: die Pflicht, unbedingt auf Verlangen in Geld zahlen zu müssen, ist, wie bei den Sumerern und in Babylon unter Hammurabi, so in Athen unter Solon und zu jeder Zeit überhaupt, das, was dem Bauern gefährlich und verhaßt ist. Das »Gesetz« zeigt in charakteristischer Weise jenes Streben nach einer Verbindung von Festigung der guten alten patriarchalen Sitte mit den Interessen von bäuerlichen Schuldnern, welches auch allen »Gesetzgebern« des Okzidents, heißen sie Zaleukos, Charondas, Pittakos oder Solon, gemeinsam ist. Der Dekalog verordnet (an nicht rein religiösen Pflichten) die Elternpietät, Achtung vor fremder Ehe, Verwerflichkeit des Totschlags und Diebstahls, Sicherung des Rechtsganges und der bona fides im Alltagsverkehr (das Nicht-»Machinieren«, – wie Merx es ausdrückt, – gegen den Besitz anderer), endlich – das Originellste und Folgenschwerste –: Innehaltung der Sabbatruhe und ihre Gewährung an Arbeiter, Sklaven, Vieh. An rein »sozialpolitische« Quellen dieser letzteren, weitaus am lautesten von der schon damals gewaltigen Macht religiöser Rücksichten zeugenden, Vorschrift zu denken, wäre natürlich unangängig, obwohl das Gebot unzweifelhaft auch – aber eben nicht: nur – den Schuldsklaven zugute kam. Aber die Einzelausführungen dieser, epigrammatisch im Dekalog vorausgeschickten, Gedanken im »Gesetz« zeigen, daß der Schutz der Gemeinfreien gegen die Folgen der Besitz- und Machtdifferenzierung jedenfalls ein sehr stark hervortretendes Leitmotiv der Gesetzgebung ist. Dahin gehören vor allem 1. die zeitliche Begrenzung der Schuldsklaverei des Israeliten, 2. sein Schutz gegen gewalttätige Versklavung, 3. eine gewisse Sicherung der Ehe von Freien mit Sklaven (d.h. wesentlich; Schuldsklaven, wie der Text ergibt), 4. ebenso: der zur Frau gekauften[85] Israelitin gegen Gleichbehandlung mit gewöhnlichen Kaufsklavinnen, 5. Schutz der (Schuld-)Sklaven gegen schwere, vor allem tödliche, Körperverletzung durch den Herrn, 6. der Schutz gegen Schaden durch Vieh: – da der Viehbesitz Hauptbestandteil des aristokratischen Besitzes ist, liegt hier das antike Pendant unserer »Wildschaden«-Kontroversen vor (daß gegen das Vieh die Rache geübt wird wie gegen den Menschen, ist vielen alten Rechten gemeinsam und steckt als Rest in der altrömischen Schadenersatzpflicht, wenn das Vieh »contra naturam sui generis« Schaden zufügt: der moderne Mensch würde das gerade Umgekehrte erwarten und das jüdische Gesetz ist im Grunde »moderner«). 7. »Bauernschutz« ist auch die Pfändungsschranke (Freiheit der Kleidung des Schuldners) und 8. die späterhin zum »Zinsverbot« sich auswachsende Mahnung, die Strenge des geschäftlichen Schuldrechts nicht gegen Volksgenossen walten zu lassen. 9. Die Regelung des Mord- und Blutrechts und der Grundsätze des Kriminal-, das heißt: des Vergeltungsrechts überhaupt – wobei aber anscheinend noch keine dauernd geregelte Existenz einer zur Judikatur bestimmten Instanz vorausgesetzt ist – gehört natürlich hier ebenfalls, wie in allen antiken, »Gesetzgebungen«, unter die Kategorie: Schutz der Gemeinfreien gegen die infolge der differenzierenden Verkehrswirtschaft steigende Uebermacht der reichen Ratsadelssippen. – Die Bestimmungen, welche die Beugung des Rechts sowohl zugunsten der Reichen als auch (ausdrücklich) zugunsten der Armen verbieten, entsprachen einem Zustand, bei dem ein Gesetzgeber den Gegensatz der Klassen durch vermittelndes Eingreifen beseitigen will, wie bei den meisten »Gesetzgebern« des Altertums. Deutlich aber zeigt die nachdrückliche Mahnung: die Metöken nicht zu bedrücken, die Wirkungen des nahe bei und zum Teil quer durch das Siedelungsgebiet der Israeliten gehenden Handelsverkehrs. Selbstverständlich ist auch das Edelmetallgeld dem Gesetze sehr wohl bekannt, wie aus ihm selbst hervorgeht. Daß es in den Bestimmungen eine geringe Rolle spielt, liegt in erster Linie in der Verkehrstechnik und der daraus folgenden rechtlichen Behandlung des Geldes im alten Orient überhaupt begründet; daneben könnte ja recht wohl gerade in der Erhaltung der naturalwirtschaftlichen Tradition der Bauernschaft die »sozialpolitische« Seite der Gesetzgebung liegen. Ob das Gebot: den Acker im siebenten Jahre unbestellt zu lassen, in irgendeiner Form je einem ernstlich gemeinten Gesetz angehört hat, erscheint sachlich naturgemäß problematisch. Dieses »Sabbatjahr« präsentiert sich in der ältesten Fassung (Exod. 23, 10. 11.) auch als eine Vorschrift zugunsten der »Armen«, – d.h. hier: der Landlosen –, welche in diesem Jahr die Früchte des Ackers sollten genießen dürfen. Allein jeder Versuch, die Vorschrift in der uns heute vorliegenden Formulierung ihres utopistischen Charakters zu entkleiden und, sei es landwirtschaftstechnisch, sei es sozialpolitisch (etwa als ursprünglich an den Pfandbesitzer gerichtet zugunsten des – wie so oft in Babylon und offenbar auch in Athen – auf dem Pfandstück als Kolon[86] sitzenden Schuldners, oder allgemein als Pachtremission u. dgl.) rationell zu erklären, scheint aussichtslos, da das sakral motivierte Verbot des »Besäens« allen Deutungen der letzteren Art im Wege steht. Handelt es sich nicht um Einschiebsel später theologischer Konsequenzmacherei, so ist mit dieser Bestimmung kulturhistorisch für uns schlechthin nichts anzufangen, während umgekehrt das, doch wohl einer weit später redigierten Partie des Pentateuch angehörige, sog. »Jubeljahr« als in erster Linie Befristung des antichretischen Pfandbesitzes (der überall eine der alten Formen faktischer – notgedrungener – Veräußerung des Bodens darstellt) durch Bestimmung einer Maximalzeit, nach welcher die Schuld als aus den Einkünften des Bodens getilgt gilt, ökonomisch sehr viel eher erklärlich wäre, aber notorisch »graue Theorie« blieb. – Sieht man von diesem wissenschaftlich »unverdaulichen« Bestandteil ab, so tragen alle übrigen Bestimmungen, wie man sieht, in ihrem Grundprinzip einen ganz ähnlichen Charakter, wie viele der zur Ausgleichung der Ständekämpfe im Okzident gegebenen Gesetzgebungen. Man könnte, wenn man sie rein an sich betrachtete, glauben, sie seien ebenso wie diese zum Ausgleich der Folgen der Schuldverknechtung der Bauern durch städtische »Geschlechter« erlassen, – und mit der nötigen Dosis Phantasie ließe sich dann der kanaanäische städtische Adel (der z.B. in Sichem so lange erhalten blieb) als Patriziat, die Israeliten als die aufständige, von Kaplänen organisierte Plebs deuten, die im »Gesetz« ihre magna charta erzwingt. Indes davon kann nicht ernstlich die Rede sein. Eher ließe sich annehmen, daß das »Gesetz« – neben seinem rein religiösen Zweck – eine Entwicklung zur Knechtung der Bauern durch Geschlechter, wie sie in den vor Augen liegenden Städten der Küste eingetreten war, verhindern, die alte Gemeinfreiheit erhalten wollte. Diese Annahme wäre jedenfalls weniger phantastisch, als manche andere neuerdings vorgetragene Hypothese, aber freilich auch nicht sicher. Daß bei den Kämpfen in der sog. Richterzeit die Israeliten Fußkämpfer waren, ihre Gegner Reiter und wagenkämpfende Stadtkönige, geht aus dem ältesten literarischen Dokumente: dem Deboraliede (Jud. 5), evident hervor. Ebenso daß sie ihren Sieg als einen Triumph der Gemeinfreien über die »Großen« betrachteten (welche von ihrer Unterwerfung für sich Korntribute und »bunte gestickte Kleider« erhofft hatten), etwa wie die Schweizer ihre Kämpfe gegen die Ritterschaft. Wie lange nun diese Gemeinfreiheit eine »bäuerliche« genannt werden durfte, ist quellenmäßig recht fraglich. Das Deboralied kennt auch auf israelitischer Seite eine (in den Kampf gegen Sisera nicht ausgezogene und deshalb im Liede verfluchte) Stadt und ihre »Bürger«. Wie freilich diese und andere israelitische »Städte« der damaligen Zeit beschaffen waren, ist nicht ersichtlich. In der Tradition über die Richterzeit finden sich Geschlechter, welche zahlreiche (30) »Dörfer« »besitzen«, ferner stadtsässiger kanaanitischer, aber mit Israeliten verschwägerter Adel (in Sichem), und die ganze Richterzeit überhaupt ist eine Kette[87] von abwechselnden Usurpationen einiger an Zahl und Besitz, auch Sklavenbesitz, starker adeliger Sippen, welche ihre Kolonen ausrüsten und an ihrer Spitze die Führung in den fortgesetzten Fehden gegen die Philisterstädte und die Wüstenstämme übernahmen, – ein Zustand, der freilich, nach anderen Analogien, vor einem »Synoikismos« zu liegen pflegt, aber doch schon starke Differenzierung aufweist.

Der Freiheitskampf gegen die Philister schuf dann das Königtum. Sauls Aufgebot ist zunächst ein nationales. Aber das Volkskönigtum wandelte sich rasch. Den Philistern gegenüber, deren Helden »Kriegsleute von Jugend auf« (Goliath, 1. Sam. 17, 37) sind, wird in der Legende noch bei Davids Zweikampf der Heldenmut ungeübter Bauern, mit denen Jahwe ist, gerühmt, – schwerlich ohne Tendenz. Denn die weiteren Angaben zeigen, daß die Entwicklung fester Kadres mit königlichen Offizieren und einem Stamm waffengeübter, dauernd unterhaltener »Knechte« des Königs, unvermeidlich war. Die schematische Zwölfstämmegliederung diente dem Zweck der Umlegung der Naturallasten für Königtum und Heer nach Mo natsschichten; mochte sie möglichst an alte Gauverbände anknüpfen, so war sie selbst doch künstliche Phylen-Einteilung gleichen Sinnes, wie die der hellenischen Kriegerstaaten es ist. Schon unter David und erst recht unter Salomo begann das Königtum die Züge des orientalischen Fronstaates anzunehmen: Eine befestigte Hauptstadt, Aufspeicherung eines »Hortes«, einer stammfremden Leibgarde neben dem Heerbann, Bauten, zu denen die Werkmeister importiert, das Material aber durch Aufgebot zu Fronden herbeigeschafft wird. Die Stadtherrschaft und der Kampf mit Kriegswagen dringen nun auch in Israel ein, wie die biblischen sowohl wie die assyrischen Angaben (über Ahab) zeigen. Immerhin bleibt doch das nationale Heer in seiner Bedeutung bestehen: die Nachrichten aus der Königszeit zeigen, daß es auf Selbstausrüstung und auf dazu ausreichendem Grundbesitz ruht. Die Angaben über den Tribut Menahems und seine Umlegung auf die »Reichen« (= adsidui im römischen Sinne) zeigt eine bedeutende Zahl (60000?) wehrfähiger und -pflichtiger Haushalte. Ahab stellte nach assyrischen Quellen, 2000 Wagen und 10000 Mann ins Feld. Ob die (1. Sam. 8) von Samuel den Israeliten angedrohte Belehnung der königlichen Kriegsmannen mit Land auf Kosten der Israeliten wenigstens für die Wagenkämpfer des Königs stattgefunden hat oder nur ein von den ägyptischen und den Verhältnissen der Stadtstaaten entnommenes Schreckbild gegen die Königsmacht ist, – letzteres scheint wahrscheinlicher, – ist nicht zu entscheiden. Jedenfalls ergibt die Geschichte der Folgezeit, daß die Konsequenz der militärischen Organisation auch hier die Herrschaft der ökonomisch zur Selbstausrüstung und Waffenübung fähigen »Geschlechter« war, wie sie die nun auftauchende Sorge um Blutsreinheit und Abstammung, das entstehende Interesse für die Heroengeschichte, die Erzväterlegenden und vor allem (s.u.) das Deuteronomium in zahlreichen[88] Bestimmungen erkennen lassen. Wer nicht zu den waffenfähigen Geschlechtern zählt, deren Bestand katastriert ist, also mindestens alle Grundbesitzlosen, gelten rechtlich als Metöken. Auch die im »Reiche Israel« immer wiederkehrende Verfügung des Heeres über die Königskrone entspricht dieser Lage. Sie war auch Grund des »Zerfalls« des alten Gesamtstaates: die beginnende Konzentrierung der Königsmacht und des Kultus in der »Polis« Jerusalem schuf den im ganzen Orient wohlbekannten, mit fast jeder Staatsbildung sich entwickelnden Gegensatz zwischen den alten Militär- und den Priestergeschlechtern der neuen Zentralstadt: Erstere sind natürliche Interessenten der alten Lokalkulte auf ihren heimatlichen Höhen und zugleich der Unterwerfung des Königtums unter das Heer. Letztere bieten dem Königtum die »Legitimität« und damit unter anderem den Anspruch auf autoritäre Verfügung über die Arbeitskraft der »Untertanen«, um es ihrerseits zu beherrschen, und streben nach Ausrottung der Lokalkulte. Die Gegensätze führten schon unmittelbar nach Salomo, der – de facto ägyptischer Vasall wie sein Sohn – offenbar zuerst die Untertanenrobot rücksichtslos nach ägyptischer Art ausgenutzt hatte, zum Bruch. Nach dem »Abfall« der alten israelitischen Kernstämme (welche die Entwicklung zum Fronstaat ablehnten) konzentrierte sich der nunmehr »jüdische« Staat als eigentliches Stadtkönigtum endgültig in Jerusalem, zeitweise von Aegypten abhängig, später Assyrien tributär, offenbar dabei zunehmend den Charakter des bureaukratischen Stadtstaates annehmend. Die sinkende internationale Macht des Königtums und die unter der Angst vor den barbarischen Raubkriegen der mesopotamischen Staaten wachsenden Macht der religiösen Stimmungen ermöglichten es dann der städtischen Priesterschaft in Jerusalem, unter König Josia im Jahre 622 die Herrschaft im Staat zu gewinnen und das »Gesetz Mose«, d.h. das Deuteronomium, zu oktroyieren. Der König wird in »Juda« ein »legitimer« Herrscher, d.h. er muß als Davidide gelten. Dafür aber wird ihm der Besitz eines »Hortes« und berittenen Gefolges verboten, auch seine Legitimität an die Befragung des Losorakels durch die jerusalemitische Priesterschaft geknüpft. Das Monopol des dortigen Tempels als Kultstätte wird festgelegt, die Landpriesterschaft »zur Ruhe gesetzt« und allmählich zur Dienerschaft der Stadtpriestergeschlechter deklassiert. Zugleich mit dieser gewaltigen politischen Machtverschiebung wurden nun die staatlichen und sozialen Verhältnisse neu geordnet. Diese Neuordnung zeigt, daß gegenüber der Zeit des alten Gesetzes eine weitgehende Aenderung der Zustände eingetreten war. Sie setzt, da die Zehnten – wegen der weiten Entfernung zur Tempelstadt – in Geld ablösbar sein mußten, weitgehende Geldwirtschaft voraus, und die Deklassierung der Lokalpriester zugunsten des Zentraltempels führte zur Schaffung weltlicher Richter in den Landorten: das Interesse der Tempelpriesterschaft kam also dem Interesse der Bauern entgegen und lief auch hierin dem der lokalen ländlichen Geschlechter entgegen:[89] eine im Orient sicher oft typische Situation. Das gab – wie wahrscheinlich überall im Orient – den Anstoß zur Entstehung von Anfängen einer rechtsprechenden Bureaukratie: Bureaukratisierung und Theokratisierung gehen Hand in Hand, hier, wie (augenscheinlich) schon in den seinerzeit erwähnten Verwaltungsordnungen der Sumererkönige. Die »armenpolitische« Anlegung von lokalen Getreidemagazinen, in welche jede dritte Jahresrate des Zehnten deponiert werden soll, entspricht gleichfalls dem Typus des orientalischen theokratisch-bureaukrati schen Stadtkönigtums. Andererseits aber bricht überall die Abneigung gegen das »ägyptische Diensthaus«, d.h. gegen ein Königtum, welches, wie Salomo, seine Macht nach Art der Pharaonen durch eigenen Handelsbetrieb, Burgen- und Magazinbau (»Kornhäuser, Städte der Wagen und Städte der Reiter« 1. Kön. 9, 19) mittels Robot und Steuern der Untertanen stützt, hervor. (Wer die Realität der alten Tradition vom ägyptischen Aufenthalt Israels bezweifelt, der mag annehmen, daß – schon im alten Gesetz – »Aegypten« nur den Typus abgibt für den populären Protest gegen den Druck des orientalischen Leiturgie-königtums überhaupt, wie er ganz in diesem Gedankenzusammenhang z.B. Samuel – 1. Samuel. Kap. 8 und 12 – in den Mund gelegt wird, – ein Druck, aus welchem die Priester, ehemals durch den Aisymneten Mose, und jetzt wieder, das Volk errettet zu haben beanspruchen: – hier soll natürlich diese Aufstellung nicht vertreten werden.) – Das Deuteronomium sucht, wie schon das alte Gesetz und wie die theokratischen Gesetzgebungen überhaupt, die Garantien gegen den Gewaltmißbrauch der Besitzenden zu steigern: die Pfändungsbeschränkungen des alten Gesetzes werden (Deut. 24, 10) zu einem absoluten Verbot, das Haus des Schuldners zur Pfandnahme zu betreten, es wird die Pfändung der Hausmühlen verboten und die alte Haftung der Söhne für den Vater und umgekehrt in Kriminalsachen beseitigt, der Menschenraub (jetzt auch der von Frauen und Kindern) mit dem Tode bedroht, die Auszahlung des Lohnes am selben Tage geboten, die Schuldeintreibung im Sabbatjahr suspendiert (so deutet Merx die Stelle Deut. 15, 3 wohl mit Recht), die Befreiung aller durch Selbstverkauf in Knechtschaft Geratenen im siebenten Jahr eingeschärft, endlich und vor allem das Zinsnehmen auf den Verkehr mit Stammfremden beschränkt: die praktische Bedeutung könnte allenfalls eine zeitweise Beschränkung des aktiven Zinsdarlehengeschäftes auf die Metöken (und vielleicht, nach babylonischem Muster, den Tempel) gewesen sein (gerade weil Deut. 15, 6 als erwünschte Folge hervorhebt, daß der Jude Fremden borgen, von ihnen aber nicht borgen werde, ist dies wahrscheinlich). – Die familienrechtlichen Bestimmungen des Deuteronomiums zeigen die Wandlung, in welcher die Gliederung der Familie und auch die Gesichtspunkte, unter denen man sie betrachtete, begriffen waren. Die Kindespietätspflicht wird – nur unter Ausschluß eigenmächtiger Tötung – schroff betont. Aber der alte Patriarchalismus wird stark durchbrochen: In der Zeit des Gesetzes[90] gehörte die mit dem Brautpreis (mohar) erworbene Frau – im Gegensatz zu der nicht bezahlten, daher (wie in allen alten Rechten) bei ihrer Sippe verbliebenen – einfach zum erkauften Mobiliarbesitztum des Mannes, die Tochter zu den Handelsobjekten des Vaters. Nur die Ehefrau war, als Israelitin, gegen die Behandlung als Verkehrsobjekt wie eine Kaufsklavin, und der Sohn gegen dauernde Versklavung durch Verkauf geschützt. Dagegen nahmen Bastarde und selbst »Hurenkinder«, wenn der Vater sie anerkannte, am Erbe teil und konnte der Vater sein Gut willkürlich unter die Kinder verteilen. Dies hat sich jetzt vielfach geändert. Zwar die Bestellung einer Mitgift als Regel ist (wie der babylonische Name für dos zeigt) erst nachexilisch, ebenso die Ausbildung fester Grundsätze für die Wittumsehe (Ketuba = Verschreibung seitens des Mannes). Und die Ausschließung der Töchter vom Erbe und ihre Beschränkung auf Ausstattungsansprüche hat ebenfalls noch lange – hier ebenso wie anderwärts solange wie die Wehrhaftigkeit des Volks – gedauert. Aber immerhin: die patriarchale Willkür des Vaters ist geschwunden. Er muß dem Erstgeborenen sein (doppeltes) Erbteil lassen. Er kann keinen »Mamser« (Bastard oder Sohn aus unerlaubter Mischehe) zum Erben machen. Die im ganzen Orient ursprüngliche Vererbung des väterlichen Harems auf den Sohn wird verboten, die Form der – materiell nach wie vor für den Mann willkürlichen – Scheidung geregelt. Die Fortschritte der Stellung der Frau, welche in diesen (und manchen anderen) Bestimmungen sich anbahnen, sind zweifellos hier wie überall durch die Macht der Frauensippe, welche die Tochter nicht mehr als bloßes Handelsobjekt behandelt, sondern sie als Witwe und ihre Kinder als Erben gegen die Willkür des Mannes gesichert sehen will, herbeigeführt. Sie hängen mit den Anschauungen der stadtsässigen (vgl. die Beschränkung der Strafbarkeit des Verlöbnisbruches auf städtisches Gebiet Deut. 22, 23) »Geschlechter«: ihrem steigenden Drängen auf Blutsreinheit, die Sicherung der Stellung der Kinder daneben auch mit militärischen Interessen zusammen. Die Polygamie blieb natürlich – wenn auch quantitativ begrenzt – bestehen, und der das physische Blutsband als solches nichtachtende Standpunkt aller ältesten Rechte dauert in der Zurechnung der Kinder der Mitgiftsklavin zu deren Herrin in den Patriarchenerzählungen fort. Aber – wie die Ismael-Legende zeigt – verlangt die Stimmung der maßgebenden Kreise Ausschluß des »Sohnes der Magd« aus dem Erbe in Israel. Dem Interesse an dem Fortbestande des im Heereskataster stehenden ökonomisch wehrfähigen Geschlechtes dient hier wie anderwärts das Erbtochterrecht und daneben die Leviratsehe: das Recht und die Pflicht des nächsten Geschlechtsgenossen, dem kinderlos Verstorbenen »Samen« aus dessen Witwe zu »erwecken«. –

Der Grundbesitz ist naturgemäß durch Retraktrechte (später: Vorkaufsrechte) der Agnaten gebunden, im übrigen ist er in historischer Zeit veräußerlich und verpfändbar; es entspricht dem allgemeinen[91] Entwicklungsschema und dem militärischen Charakter des Volkes, daß die Veräußerung des ererbten Gutes als schimpflich oder sündlich galt (vgl. die Geschichte von Ahab und Naboth 1. Kön. 21). Die Auslösungspflicht des Agnaten für Stammgüter ist wohl nachexilisch entstanden. – Die stärkere Städteentwicklung in der Königszeit hat jedenfalls eine gewisse Entwicklung des Handwerks gefördert: Exod. 31, 1 f. wird als mit der Besorgung der feineren Tempelschmuckarbeiten eine ad hoc berufene Künstlerfamilie, offenbar erblich, betraut gedacht, und zum salomonischen Tempelbau beruft der König phönikische Bauhandwerker; – bei der Zerstörung Jerusalems gelten dagegen die militärisch wichtigen Schmiede und Zimmerleute als »Kriegsmänner«, d.h. als leiturgiepflichtig (wie die »fabri« in Rom) und werden mit fortgeführt. Die sonst sich findenden Handwerker (Bäcker in den Städten, Walker, Töpfer) sind an Zahl offenbar recht gering; erst nach dem Exil entwickelt sich das Gewerbe kräftiger. Ziemlich stark ist vermutlich die Entwicklung großen Grundbesitzes infolge der auch hier unvermeidlich immer wiederkehrenden Verschuldung der Bauern gegenüber den stadtsässigen Geschlechtern in der Königszeit gewesen, gegen welche die Propheten (Jes. 5, 8; Micha 2, 1 f.) in der bekannten Weise eifern. Der Grundsatz des talmudischen Rechts, daß Land und kanaanäische Sklaven primäres Objekt der Haftung für Chartalschulden sind (umgekehrt lasten später jüdische Handelsschulden bekanntlich nur auf dem Mobiliarvermögen) ist wohl ein Nachklang aus Verhältnissen, wo (wie in Althellas) das Einlösungspfand als Verschuldungsform herrschte: Da nun die Schuldversklavung durch die Sabbatjahrbefristung für den Gläubiger entwertet war, wurde die Exequierbarkeit, vermutlich zunächst ex contracte, primär gegen den Boden gerichtet, und daraus mag sich die talmudische Legalhypothek entwickelt haben (s.u.).

Wie der Großbesitz bewirtschaftet wurde, ist nicht exakt feststellbar. Vielleicht war der »kanaanäische Sklave« des Telmud ein Helot oder Klient, der an die Scholle gebunden war. Die alte Tradition kennt ebenso wie die Gesetzgebungen gedungene Lohnarbeiter neben Sklaven. Bei letzteren wird die typische historische Stufenfolge der unfreien Arbeitskräfte: 1. Verkaufte oder vermietete Kinder, 2. Schuldknechte, 3. Kriegsgefangene und Kaufsklaven, 4. Kleinpächter (die Stufe der Kleinpacht ist aber wohl erst in hellenistischer Zeit erreicht worden) auch hier die Tendenz gehabt haben, sich zu realisieren. Doch kann der eigene Bedarf und deshalb auch die Zahl der Sklaven nie sehr groß gewesen sein: wir hören, daß die Phönikier den Heeren folgen, um die Gefangenen, für den Export natürlich, zu kaufen. Auch blieb die Sklaverei nicht nur gesetzlich, sondern wohl auch faktisch, stets die milde orientalische Erbsklaverei. Die größere Treue der Sklavenkinder gegenüber den Kaufsklaven gilt als Erfahrungssatz; die Sklaven haben oft, wohl der Regel nach, Familie; die Gesetzgebungen sehen den Fall vor, daß Sklaven die ihnen angebotene Freilassung im Sabbatjahr ausdrücklich ablehnen,[92] was, nebenbei, die Wahrscheinlichkeit einer geringen Nachfrage nach freien Tagelöhnern und auch eine wenig günstige Lage dieser ergibt. Für eine »Agrargeschichte« der vorexilischen Zeit ist kein Material vorhanden, da Besitz- und Betriebsverhältnisse uns unbekannt sind. Die Propheten, in erster Linie religiös, in zweiter an der auswärtigen Politik, als der Tatenbühne ihres Universalgottes, und nur von diesen Gesichtspunkten aus gelegentlich auch »sozialpolitisch« interessiert, geben das typische Bild der antiken Polisentwicklung unter dem Einfluß der Geldwirtschaft, gegen deren differenzierenden Einfluß die Ohnmacht der Gesetzesbestimmungen (über Sabbatjahr, Zinsverbot usw.) genugsam bezeugt ist. Die »Reformpläne« Hesekiels sind ein reines Idealbild aus der Exilszeit. Die Wegführung der Träger der Wehrkraft, d.h. der stadtsässigen Geschlechter, ließ nur Bauern und Weingärtner zurück und die sog. »Wiederherstellung« unter Esra und Nehemia war eine Neukonstituierung eines theokratischen Stadtstaates auf der Basis eines Synoikismos (s.u. beim »Hellenismus«).


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Hrsg. von Marianne Weber. Tübingen 21988, S. 83-93.
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