I. Zweck und äußere Organisation der Börsen[256] 1.

Die nachstehende Skizze, der ein zweites Heft, welches die inneren Verhältnisse der Börse und die Börsengeschäfte erörtern wird, folgt, ist ausschließlich bestimmt zur ersten Orientierung für solche, die den geschilderten Dingen gänzlich fernstehen, und sucht deshalb möglichst nichts als bekannt vorauszusetzen. Nur darauf, ob sie diesen Zwecken dient, kommt es an. Absichtlich enthält sie sich deshalb des Aburteilens. Denn die praktische Wirkungslosigkeit der Kritik, welche breite Volksschichten an den bestehenden Börsenzuständen üben, hat ihren Hauptgrund in einer grenzenlosen Oberflächlichkeit, welche die Fehler da sucht, wo nur der Unverstand oder der Interessengegensatz sie finden kann. Die gleiche Oberflächlichkeit hat aber auch die geradezu gefährliche Vorstellung verschuldet, als ob ein bei jeder nicht streng sozialistischen Gesellschaftsorganisation schlechthin unentbehrliches Institut, wie es die Börse ist, seiner Natur nach eine Art Verschwörerklub zu Lug und Betrug auf Kosten des redlich arbeitenden Volkes darstellen müsse und deshalb am besten irgendwie vernichtet würde und – vor allem – auch vernichtet werden könne. Nichts gefährdet aber eine Arbeiterbewegung wie die, an welche sich diese Zeilen ja nach der Titelaufschrift zunächst wenden, schwerer, als unpraktische, in Unkenntnis tatsächlicher Verhältnisse gesteckte Ziele.


Die Börse ist eine Einrichtung des modernen Großhandelverkehrs. Ihre Unentbehrlichkeit für die moderne Wirtschaftsweise beruht auf dem gleichen Grunde, aus welchem[256] die moderne Form des Handelsverkehrs überhaupt erwachsen ist. Sie war ebensowenig von jeher notwendig oder auch nur möglich, wie es der moderne Großhandel war. Warum? – Verfolgen wir den Menschen in seiner Arbeit zurück bis in die ferne Vorzeit, so begegnet uns als frühster und natürlichster Gesichtspunkt, unter welchem er Güter hervorbrachte, der: den eignen Bedarf zu decken. Er suchte durch seiner Hände Arbeit der Natur abzugewinnen, was er selbst zu seiner Ernährung und Kleidung, zum Schutze gegen Frost und Wetter bedurfte. Aber niemals hat der einzelne vermocht, auf sich selbst gestellt, der Natur zu trotzen. Für die Erhaltung der nackten Existenz allein schon ist und war er von jeher auf die Gemeinschaft mit andern angewiesen, wie das Kind auf die Brust der Mutter. Und die Gemeinschaft, deren er bedurfte, wählte er sich so wenig selbst aus freiem Entschluß, wie das Kind sich seine Mutter wählt. Sie wurde ihm mit auf den Lebensweg gegeben, er wurde in diese Gemeinschaft hineingeboren: in den festen, unter der unumschränkten Herrschaft eines Patriarchen stehenden Verband seiner Familie, die freilich anders aussah, als unsre heutige. Denn ihr Haushalt umfaßte Brüder, Vettern, Schwägerinnen bis in entfernte Grade und das unfreie Hausgesinde – durch kriegerische Gewalt unterworfene, oder solche, welche ihres Besitzes durch Frost und Viehsterben beraubt, nach dem urältesten Rechtssatz der Geschichte, wollten sie leben, die Knechte der Sieger und Besitzenden werden mußten. Diese Familie ist die älteste wirtschaftliche Gemeinschaft. Sie brachte in gemeinsamer Arbeit die Güter hervor und verzehrte sie gemeinsam. Und zwar verzehrte sie nur, was sie selbst hervorgebracht hatte – weil sie nichts anderes zu verzehren hatte – und brachte nur das hervor, was sie verzehren wollte, weil sie für das Mehr keine Verwendung hatte.

Vergleichen wir damit den Charakter der heutigen Wirtschaftsweise, so tritt der ungeheure Gegensatz alsbald zutage. Es gilt der umgekehrte Satz: Nicht die Güter bringt der einzelne hervor, die er selbst verbrauchen will, sondern solche, welche nach seiner Voraussicht andere gebrauchen werden, und jeder einzelne verzehrt nicht die Produkte seiner eigenen, sondern fremder Arbeit. Zwar ist selbstverständlich, daß das nicht allgemein gilt: es gilt nicht für den Urwaldkolonisten und den Landwirt in der Tiefe unkultivierter Reiche, und es gilt nur beschränkt für unsere Kleinbauern, die in erster Linie selbst von der[257] Ernte ihres Landes leben, und nur den Ueberschuß verkaufen. Aber es gilt gerade für die Wirtschaftsbetriebe, welche die moderne Zeit im Gegensatz zu jener ältesten schuf. Nicht ob er selbst die Güter wird brauchen können, sondern ob sie »Abnehmer« finden werden, d.h. ob andere sie wahrscheinlich brauchen, ist der Gesichtspunkt, unter welchem der moderne Unternehmer produziert und produzieren muß.

Zwischen diesen schroffen Gegensätzen liegt die geschichtliche Entwicklung der Jahrtausende, welche die alten Gemeinschaften auflöste. Sie verflocht die einzelne Wirtschaft in eine Austauschgemeinschaft mit einem sich stetig vergrößernden Kreise von andern Wirtschaften, einem Kreise, den die moderne Zeit auf die Gesamtheit der Kulturvölker zu erweitern strebt. Und sie vergrößerte andererseits denjenigen Bruchteil von Gütern, welchen die Wirtschaft, die sie hervorgebracht hatte, nicht selbst verbrauchte, sondern an andre abgab. Und hier tritt der Handel in Tätigkeit.

Neben der einfachen körperlichen Hervorbringung von Gütern und der dazu erforderlichen körperlichen Arbeit benötigt es, damit der Bedarf, dem diese Güter dienen sollen, befriedigt werde, noch eines andern: sie müssen demjenigen zugeführt werden, der sie verbrauchen soll und will und zu dem Zeitpunkt, in welchem dies der Fall ist. Dazu steht der heutigen Gesellschaftsordnung das Mittel des Güteraustausches zu Gebote und diejenige Tätigkeit, welche den Güteraustausch vermittelt, ist der Handel. Die älteste patriarchalische Familiengemeinschaft bedurfte seiner nicht, da sie grundsätzlich nur verzehrte, was sie hervorbrachte und umgekehrt. Erst mit dem Erwachen des Bedarfes nach Luxusartikeln begann der Tauschverkehr. Metallene Geräte, Bernstein, Edelmetalle und Stoffe von hohem Werte sind die ältesten Gegenstände des Handels. Er lag in den Händen des wandernden Kaufmannes. Als Landfremder rechtlos und mit abergläubischer Scheu betrachtet, stand der gehaßte und doch unvermeidliche Mann unter dem Schutze der Götter, ähnlich wie etwa giftige Schlangen im alten Orient angebetet zu werden pflegten. Mit der Zeit gestalteten sich die Beziehungen regelmäßiger, und es entstanden neben dem wandernden Kaufmann die großen, periodischen Märkte, wie wir sie noch jetzt in Mittelasien finden. Auch hier sind es einander Stammfremde, die miteinander handeln. Die »Internationalität« stand an der Wiege[258] des Handels-Kapitals. Innerhalb der Gemeinschaft von Stammesgenossen und unter diesen selbst kannte man den Handel so wenig, wie das Nehmen von Zinsen. Unentgeltlich, wie noch heute in altväterischen Dörfern fern von der Stadt, lieh man Saatgut und Ackergeräte, und »unter Brüdern« gab es keinen nach Angebot und Nachfrage bestimmten Preis von Gütern. Auch als an die Stelle der großen Familienwirtschaft der Horden und Sippen mit dem Erstehen regelmäßigen Ackerbaues die Wirtschaft selbständig in Dörfern und Höfen nebeneinander existierender Bauern getreten war, blieb dieser Gegensatz bestehen. – Das änderte sich mit der Entstehung der Städte. Sie bedeutet das Hineintragen eines rein geschäftlichen Verkehrs in die alten Gemeinschaften selbst, den ersten Schritt zu ihrer Zersetzung. Neben die internationalen Märkte, auf welchen die Luxusartikel des Auslandes gehandelt wurden, traten die regelmäßigen städtischen Märkte, auf welchen sich die ländlichen Produzenten von Nahrungsmitteln und die städtischen Produzenten von gewerblichen Produkten begegneten und ihre Waren austauschten. Diese Wirtschaftsweise also kannte und benötigte des Tauschverkehrs als eines regelmäßigen Elements. Aber immer noch war der Bruchteil, den der einzelne von den durch ihn hervorgebrachten Gütern zu Markte brachte, ein geringer: Der städtische Gewerbetreibende war neben seinem Handwerk zumeist auch Landwirt (Ackerbürger), der Bauer verzehrte den größten Teil seiner Produkte selbst, nur der Ueberschuß kam zu Markt. Aber neben dem Handwerk, welches für die Versorgung der Stadt und ihres wenige Meilen im Umkreis umfassenden Bezirks arbeitete, erschien in den Städten alsbald noch ein anderes Element. Der wandernde und landfremde Kaufmann wurde ersetzt und verdrängt durch den ansässigen, einheimischen Kaufmannstand, der im Wege regelmäßiger Geschäftsverbindung Waren, welche das einheimische Gewerbe nicht hervorbrachte, von auswärts bezog. Es entstand der berufsmäßige Importhandel, und andererseits entstanden große Gewerbebetriebe, die den Ueberschuß der einheimischen Produktion nach auswärts verhandelten – als Exporteure. Dazu bedurfte es der Kenntnis der fremden Märkte und bedeutender Mittel. Beides fehlte den Handwerkern. Ein Kapitalist stellte sich ihnen als »Verleger« zur Verfügung, nahm ihnen ihre Produkte ab und verhandelte sie, sie waren auf ihn angewiesen, und[259] da er auch den Rohstoff im großen billiger zu beschaffen wußte, lieferte er ihnen auch diesen und bedang sich aus, daß sie fortan allein für ihn arbeiteten; aus dem Handwerksmeister war ein abhängiger Hausindustrieller geworden: der erste Schritt zur modernen Fabrik. Damit waren alle Keime der modernen Entwicklung vorhanden. – Aber freilich nur als Keime. Denn noch immer war der Handel überwiegend ein Tauschverkehr mit Gegenständen von besonders hohem Werte. Wollten wir uns den Unterschied gegen heute vergegenwärtigen, so müßten wir uns vorstellen, daß der heutige Handelsverkehr vornehmlich etwa Champagner, Seidenstoffe und ähnliche Artikel für den Bedarf der besitzenden Klassen umfaßte. In Wahrheit zeigt ein Blick in die Uebersichten des auswärtigen Handels jedes Großstaates, daß es andere: die »Massenartikel« sind, welche die großen Zahlen ausmachen: Getreide – England hätte kein Brot, lieferte ihm das Ausland nicht jährlich für eine Milliarde Korn; – Kohlen und Eisen – Italien hätte aus den Mitteln des eigenen Landes keine Kohle im Ofen und kein eisernes Werkzeug; – Baumwolle – kein Kleidungsstück, wie es der moderne, europäische Arbeiter trägt, kann ohne die Versorgung des Marktes mit überseeischem Garne oder Baumwollrohstoff gefertigt werden. – Kein Baumwollfaden aber wird in der Wirtschaft versponnen und verwebt, in der er geerntet wurde, kein Eisenerz von dem Bergwerksbesitzer geschmiedet, der es der Erde abgewinnen ließ, nur ein winziger Bruchteil Kohlen wird von der Zeche selbst verbraucht, aber auch von Getreide rechnet man, daß mehr als die Hälfte der gesamten, gewaltigen Produktion der Welt von andern, als denen, die das Land bebauen, verzehrt und über ein Fünftel unter den Nationen ausgetauscht wird. Diesem Riesenaustausch solcher Güter dient die Börse. Sie ist ein moderner Markt, ein Ort, wo, wie auf diesem in regelmäßigen – an den großen Börsen täglichen – Versammlungen Kaufgeschäfte abgeschlossen werden. Worin unterscheidet sie sich von dem, was man gewöhnlich Markt nennt? Greifen wir den stärksten Gegensatz – einen kleinen lokalen Lebensmittelmarkt einer Landstadt – heraus. Auf diesem Markte verhandelt der Bauer regelmäßig selbst hervorgebrachte und an Ort und Stelle gegenwärtige Ware an einen Käufer, der sie alsbald bezahlt und selbst verbrauchen will; an der Börse wird ein Geschäft geschlossen über eine nicht gegenwärtige, oft noch unterwegs befindliche, oft erst künftig zu produzierende[260] Ware, zwischen einem Käufer, der sie regelmäßig nicht selbst behalten, sondern (womöglich noch, ehe er sie abnimmt und bezahlt) mit Gewinn weitergeben will und einem Verkäufer, der sie regelmäßig noch nicht hat, meist nicht selbst hervorbringt, sondern mit Gewinn erst beschaffen will. Das Getreide, das an einem Tage an der Börse gehandelt wird, lagert zum guten Teil noch in den Speichern Nordamerikas, oder schwimmt auf dem Ozean, und vom Käufer soll es seinerzeit weiter an die Mühlen und von diesen an die Bäcker gelangen. Auf dem kleinen Markte handeln nur oder fast nur Produzenten und Verbraucher miteinander. Auf der Börse handeln nur oder fast nur Kaufleute. – Trotz dieser Unterschiede sind aber Börse und Markt wesensgleich, schon durch den gleichartigen Zweck, dem sie dienen. Denn sie sind Orte, wo »Angebot« und »Nachfrage« in einer Ware sich treffen sollen. Gehen wir wieder von dem kleinen Markte aus: Auf der einen Seite stehen die Bauern, die Feldfrüchte zu verkaufen haben (Angebot) und Artikel der städtischen Handwerker kaufen wollen (Nachfrage) – auf der andern die städtischen Verzehrer, die Nahrungsmittel kaufen (Nachfrage) und die Handwerker, die ihre Erzeugnisse verkaufen wollen und müssen (Angebot). Diese ausgestreckten Hände müssen sich treffen können und dafür ist der Markt unentbehrlich. Den gleichen Zweck hat die Börse. Nur ist der Umfang ein unendlich viel gewaltigerer. Sie ist der Markt für die modernen Massenbedarfsartikel, in welchen fortgesetzt ein gewaltiges Angebot, und nach welchen eine ebenso gewaltige Nachfrage stattfindet. Damit hängt auch jener Unterschied in der Art der Vorgänge auf der Börse vom Markte zusammen. Will ich ein Haus kaufen, so will ich nicht ein Haus im allgemeinen, sondern ich kaufe ein ganz bestimmtes, bezeichnetes und will dies, kein anderes, auch wenn es ebenso viel wert ist, übereignet erhalten; kaufe ich Fische ein, die ich verzehren will, so will ich wenigstens sie mir vorher ansehen können auf ihre Preiswürdigkeit und dazu sind sie auf dem Markt zugegen. Will dagegen eine Getreidefirma im Großhandel 1000 Ztr. einer bestimmten Getreidesorte kaufen, für die sie Verwendung zu haben glaubt, so ist etwas ähnliches weder regelmäßig möglich, noch auch nötig. Es kommt ihr im allgemeinen nur darauf an, das bestimmte Quantum Getreide von einer bestimmten, vorher vereinbarten Sorte und Güte – sei es nach einer vorgelegten Probe, sei es eine im Handel gangbare und deshalb mit einer[261] bestimmten Bezeichnung belegte Qualität – zu erhalten. Sorte und Qualität also wird vereinbart, der Verkäufer bringt nicht erst die Ware zur Stelle und verkauft sie dann, sondern regelmäßig umgekehrt: erst verkauft er (»in Blanko«, wie man zu sagen pflegt) und dann sucht er sich innerhalb der vertragsmäßig ausbedungenen Zeit die Ware zu verschaffen, die er zur Erfüllung des Vertrages braucht; zur festgesetzten Zeit liefert er sie: entspricht sie der verabredeten Qualität, so nimmt sie der Käufer oder der, an den dieser sie weiter verkauft hat, ab, ist das nicht der Fall, so weist er sie als nicht vertragsmäßig (»nicht lieferbar«) zurück. So steht es mit all den Artikeln, die auf der Börse gehandelt werden. Braucht ein deutsches Handlungshaus einen Betrag russischen Papiergeldes, um eine Schuld in Rußland zu bezahlen, so kommt es ihm nicht auf gewisse Stücke an, wie dem, der ein Haus oder ein bestimmtes Reitpferd kauft, sondern jede Rubelnote, wenn sie echt ist, tut ihm den gleichen Dienst: – es handelt sich bei den Börsengeschäften regelmäßig um – wie man sich ausdrückt – »vertretbare« Sachen, d.h. solche, bei denen es nicht auf die Lieferung bestimmter einzelner Gegenstände, sondern darauf ankommt, daß das vertragsmäßige Quantum von der vertragsmäßigen Sorte und Qualität geliefert wird.

Sehen wir uns nun zunächst die Waren näher an, welche den Gegenstand des Verkehrs auf der Börse zu bilden pflegen. Man pflegt sie in zwei Hauptgruppen zu scheiden: »Produkten«, Waren im engeren Sinne, einerseits und Geldsorten, sowie Wechsel, »Effekten« und »Fonds«, d.h. Wertpapiere verschiedener gleich zu besprechender Art, andererseits, und man scheidet danach die »Produktenbörse« von der »Effektenbörse«. Die Unterscheidung hat nur dieselbe Bedeutung, als wenn man etwa Fisch-, Fleisch- und Gemüsemarkt unterscheidet. Beide können an ein-und demselben Orte stattfinden und gemeinschaftlich organisiert sein, so z.B. in Berlin und Hamburg. Oder sie können an verschiedenen Orten stattfinden – so in Paris und London. Es können auch beide Hauptabteilungen wiederum geteilt sein, z.B. die Effektenbörse in eine Börse für Wechsel und eine solche für andre Wertpapiere, so in London, und die Produktenbörse in besondere Märkte für Getreide, Zucker, Eisen, Schmalz usw. – so vielfach in Amerika. Es werden endlich überhaupt nicht an jeder Börse alle oder viele »börsengängigen« Waren und Papiere gehandelt, sondern naturgemäß oft nur oder[262] ganz überwiegend die, welche in der betreffenden Gegend produziert oder durch den betreffenden Hafenplatz hindurch ein- oder ausgeführt werden: – wie in den Seestädten der Fischmarkt; so besteht in Essen, im westdeutschen Kohlenreviere eine Börse, an welcher nur Kohlen und Anteile an Bergwerken gehandelt werden, in Magdeburg, inmitten der Zuckerrüben bauenden Provinz Sachsen eine solche für Zucker. Nur an den großen zentralen Börsen konzentriert sich der Verkehr in allen Haupthandelsartikeln.

An der Produktenbörse begegnen wir zunächst dem Getreide und den Feldfrüchten aller Art, nebst den unmittelbar daraus gewonnenen Produkten, insbesondere Mehl. Der größte Markt dafür ist in Deutschland nächst der Berliner Börse Mannheim, bis wohin das überseeische Getreide rheinaufwärts verschifft wird. Ferner: Zucker – die größten Märkte sind mit Berlin, wie schon erwähnt, Magdeburg und Hamburg (Ausfuhrhafen) und Sprit – Berlin und Hamburg (Ausfuhrhafen) teilen sich in den Markt; Petroleum: Bremen (Einfuhrhafen), teilt sich mit Berlin; Baumwolle: ebenso; – Wollgarne, besonders Kammgarne: Leipzig (Produktionsort) spielt eine erhebliche Rolle; – Kaffee: Für ihn ist Hamburg (Einfuhrhafen) der größte Handelsplatz; – Kohle und Eisen: die Märkte der westlichen Produktionsgegen den sind von entscheidender Bedeutung, – und viele andere nicht so wichtige Artikel, deren Aufzählung zu weit führt. Im Effektenhandel drängt sich der Verkehr natürlich an den Orten zusammen, welche der Sitz der großen Bankhäuser sind: in Deutschland haben neben Berlin nur Frankfurt a. M. und Hamburg große Bedeutung.

Wir müssen uns die Gegenstände, die an der Effektenbörse ge- und verkauft werden, näher ansehn.

Es werden gehandelt: 1. Geldsorten und geldwerte Papiere, welche unsere Industriellen und Kaufleute als Zahlung aus dem Ausland erhalten und zur Leistung von Zahlungen an das Ausland gebrauchen. Dahin gehören natürlich zunächst die Münzen und das Papiergeld fremder Staaten (namentlich das Papiergeld Rußlands), aber auch eins der ältesten Objekte des Börsenhandels, der Wechsel, gehört dahin. Was ist er?

Man sieht ihm seiner Form nach nicht an, was er rechtlich bedeutet. Die wichtigste Form des Wechsels, die sog. »Tratte« oder[263] der »gezogene« Wechsel, stellt sich dar als die Anweisung z.B. eines Kaufmanns Schulze in Berlin, gerichtet z.B. an einen Kaufmann Smith in London, eine bestimmte Summe an einem bestimmten Tage zu zahlen an einen Dritten, Herrn Müller in Berlin, oder an dessen »Order«, d.h. an denjenigen, welchem der Wechsel durch Müller gültig übertragen sein werde2. Rechtlich bedeutet er aber nichts anderes als: Schulze verspricht dem Müller und dessen »Order« dafür aufzukommen, daß Smith die bestimmte Summe zur bestimmten Zeit zahlen werde, und sein weitaus wichtigster praktischer Zweck – der, zu dem er schon vor etwa 700 Jahren gebraucht wurde – ist folgender: Schulze in Berlin ist Exporteur, er hat deutsche Waren nach London an den englischen Importeur Smith verkauft und nun den Kaufpreis (sagen wir 100 £) zu fordern. Müller in Berlin ist Importeur. Er hat englische Waren von einem englischen Exporteur Jones in London gekauft und eingeführt, schuldet also diesem den Kaufpreis (nehmen wir der Einfachheit halber an: ebenfalls 100 £). Der gegenseitige Verkehr zwischen Deutschland und England beträgt Hunderte von Millionen Mark an Wert im Jahr, es gibt Tausende von jeder der vier Personenarten, die wir mit Schulze, Smith, Müller und Jones bezeichnet haben. Würden die Kaufpreise alle in bar bezahlt, so müßten unglaubliche Summen Geldes – mehrere Tausend Zentner in Gold – hin- und hergeschickt werden, was unsinnige Kosten machen und das Geld der Seegefahr aussetzen, auch für die Dauer der Reise dem Gebrauch entziehen würde. Deshalb verfährt man wie folgt: Schulze in Berlin, der von Smith in London Geld zu empfangen hat, »zieht« einen Wechsel über 100 £ »auf« Smith, d.h. er weist ihn an, an Müller oder dessen »Order« zu zahlen. Diesen Wechsel gibt er an Müller in Berlin, der an Jones in London Geld zu zahlen hat, und verpflichtet sich dadurch, dem Müller dafür aufzukommen, daß Smith an ihn oder an den zahlen werde, der seine Order sein werde. Müller zahlt ihm dafür die 100 £3 aus und schickt den Wechsel an seinen Gläubiger Jones in London, indem er diesen auf dem Wechsel als seine »Order« bezeichnet – diesen Vermerk auf dem Wechsel nennt man »Giro« oder »Indossament«. Jones in London zieht[264] die Wechselsumme bei Smith in London ein und kommt durch diese Zahlung zu seinem Gelde – Schulze hat das Seinige als Kaufpreis für die Hingabe des Wechsels von Müller erhalten: das Geschäft ist »abgewickelt«4. Alle die Schulzes (Gläubiger englischer Schuldner, also Verkäufer von Wechseln »auf« London) und die Müllers (Schuldner englischer Gläubiger, also Käufer von Wechseln »auf« London) unsres Beispiels, treffen sich nun auf dem großen Markt, wo jederzeit große Beträge »auf London« zu kaufen und zu verkaufen sind – auf der Wechselbörse. Sie können sich nur dort mit Sicherheit gegenseitig finden. Ebenso vollzieht sich das Geschäft mit den übrigen Ländern, mit denen wir im Güteraustausch stehen. Fortwährend findet der Handel in Wechseln auf London, auf Paris, auf Petersburg, auf Neuyork usw. in gewaltigen Summen statt – und die ser Handel ist unentbehrlich. Bei etwa 3 Milliarden Mk. in gemünztem Geld und Geldscheinen, die in Deutschland im Umlauf sind, laufen über 13 Milliarden in Wechseln jährlich um.

2. Zweitältester Gegenstand des Handels an der Fondsbörse sind die »Fonds« im engeren Sinne des Wortes: die Staatspapiere und die ihnen verwandten Schuldverschreibungen der Gemeinden und andrer öffentlicher Korporationen.

Daß Staat und Gemeinde heutzutage fast ausnahmslos Schulden machen, ist bekannt: Das Reich und die deutschen Staaten zusammen haben rund 81/2 Milliarden, England, ohne seine Kolonien, 15 Milliarden, Frankreich 20 Milliarden Mk. Staats-Schulden, und diese Schulden müssen den Gläubigern des Staates verzinst werden. Die Verschuldung eines Staates ist heute nicht etwa an sich ein Unglück, ein Zeichen schlechter Verwaltung oder mangelnden Reichtums. Wenn ein Staat eine große Eisenbahn ankauft oder baut für – sagen wir – 50 Millionen Mark, so wäre es weder gerecht noch verständig, wenn er diesen Betrag durch eine Steuer, im Durchschnitt z.B. in Deutschland von 1 Mk. pro Kopf, aufbringen würde. Nicht nur der lebenden Generation dient und nützt die Bahn, und nicht nur der jetzige Finanzminister[265] heimst die Einnahmen daraus ein. Deshalb ist es richtig, daß wir dafür auch die Nachkommen steuern lassen, das geschieht, indem das Geld geliehen, verzinst und allmählich in längeren Zeiträumen aus den Steuern zurückbezahlt wird. Die Steuerlast dafür wird dadurch auf Gegenwart und Zukunft verteilt. Preußen hätte z.B. die 5 Milliarden, welche es innerhalb von 10 Jahren für den Ankauf von Bahnen ausgab, sonst etwa durch jährlich 500 Millionen besondere Steuern decken müssen und das wäre ein törichter und unmöglicher Versuch gewesen. Etwas anderes und eine schlechte Finanzwirtschaft ist es, wenn ein Staat für Bedürfnisse, die ständig wiederkehren, die Bezahlung seiner Beamten und seines Heeres z.B., fortgesetzt Geld leiht: dann schiebt die lebende Generation auf die Nachkommen Lasten ab, die sie selbst tragen muß: der Staat wirtschaftet mit einem Defizit, welches die Nachkommen bezahlen sollen. – Das Leihen des Geldes für jene Staatsbedürfnisse nun bewirkt der Staat – und ähnlich verfahren Kreise, Gemeinden usw. – durch Verkauf von Schuldverschreibungen, in denen der Staat die Zahlung bestimmter Zinsen – 3, 31/2, 4 usw. Prozent einer Schuldsumme – an bestimmten Zahlungsterminen (z.B. 1. Januar und 1. Juli) verspricht an jeden, der zu der betreffenden Zeit als Inhaber der Schuldverschreibung sich melden und ausweisen werde5. Wer den Besitz der Schuldverschreibung rechtmäßig – durch Kauf usw. – erwirbt, wird also Staatsgläubiger. Die Schuld zurückzuzahlen verspricht der Schuldner (Staat, Gemeinde usw.) entweder nach einem bestimmten Plan, so daß jährlich eine Anzahl Nummern der Schuldscheine ausgelost und zurückbezahlt (»amortisiert«) werden, oder er behält sich nur das Recht vor, sie zu kündigen, übernimmt aber keine entsprechende Pflicht – so ist es bei unsern Reichs- und preußischen Anleihen (sog. »Konsols«). Der Staat (resp. die Gemeinde usw.) kann das, denn den Besitzern der Schuldverschreibungen liegt gar nichts daran, ihr Geld zurückzuerhalten, sie wollen vielmehr die Zinsen beziehen, sie sind Mitglieder der besitzenden Klassen, welche auf diese Weise »ihr Vermögen anlegen«, das heißt, sich das Recht auf den Bezug eines Tributes sichern von den mit diesen[266] Zinsen Belasteten, also hier den Steuerzahlern des Staates oder der Gemeinde, welche die Zinsen der Staats-und Gemeindeschuld durch Steuern aufbringen. Und ebenso ist es mit den »Obligationen«, welche Eisenbahnen oder Fabrikunternehmer ausgeben. Krupp z.B. gab kürzlich 24 Millionen Schuldverschreibungen aus zum Ankauf einer Konkurrenzfabrik, und massenhaft sind die Obligationen von Eisenbahnen und Aktiengesellschaften. Die Zinsen werden hier aufgebracht von den Benutzern der Bahn: in den Frachten, den Käufern der Waren: in den Preisen, endlich indem ein Teil dessen, was das Unternehmen einträgt, nicht an die Unternehmer als Gewinn und an die Arbeiter als Lohn, sondern eben an die Tributberechtigten abfließt. Jene alle werden »besteuert« zur Bestreitung des Kapitalzinses.

Diese modernen Tributpflichten sind das Produkt einer langen Entwicklung. Einst war der Zins das Zeichen der Unfreiheit. »Unter Brüdern« lieh man nicht gegen Zins. Ihn nahm der fremde Eroberer als Kopfzins von der Person, als Bodenzins vom Lande, oder der Herr des Bodens von dem Besitzlosen und deshalb nicht Vollfreien, dem er Land lieh. Der Bodenbesitz ist die älteste Quelle von Zinsrechten. Heute ist er es zwar auch noch: zumal die Mietszinsen in den Städten zeugen davon, allein mächtiger ist jetzt jener andere Tributherr. Seine Eigenart ist es, »unpersönlich« zu sein. Der Zinsbauer steuerte seinem Grundherrn, der ihn persönlich beherrschte und den er kannte, heute kennt der Besitzer zinstragender Papiere diejenigen nicht, deren Einkommen für ihn besteuert wird, und der Gutsbesitzer, der von einer Hypothekenbank Geld gegen Verpfändung seines Grundstücks dargeliehen erhält, kennt die nicht, welche dieser Bank das von ihr so verwendete Geld darleihen und dagegen »Pfandbriefe«, d.h. zinstragende Urkunden erhalten, für welche die Gesamtheit der der Bank zinspflichtigen und verpfändeten Grundstücke weiter verpfändet ist. Die Unpersönlichkeit der Beziehungen zwischen Zinsherrn und Zinspflichtigen ist das Charakteristische dieser heutigen Tributpflichten. Deshalb spricht man von der Herrschaft des »Kapitals« und nicht von derjenigen der Kapitalisten. Wer sind nun die Inhaber dieser Papiere, an welche das Recht auf den Zinstribut geknüpft ist? Das kommt auf die soziale Struktur und Vermögensverteilung innerhalb des einzelnen Volkes an und man muß sich hüten, zu glauben, sie seien mit Notwendigkeit an eine dünne Schicht »kuponschneidender[267] Faulenzer« gebunden. In Frankreich z.B. reicht der Besitz von Staatsschuldverschreibungen und ähnlichen Papieren bis in Volksschichten, welche derartige Papiere bei uns nie zu Gesicht bekommen. Das hat seinen Grund teils in dem Bestehen einer weit breiteren Schicht eines immer noch wohlhabenden Bauernstandes, als wir sie bei uns finden, unleugbar aber auch in der bei den Franzosen üblichen Einschränkung der Kinderzahl (»Zwei-Kinder-System«), welche den Zerfall der Vermögen durch Erbteilung hindert, freilich zweifellos andererseits die Gefahr schwerer sittlicher Schäden in sich trägt6. In Deutschland rechnet man, bei ca. 11 Millionen Familien mit 50 Millionen Köpfen, daß ca. 10 Millionen Personen Sparkassenbücher besitzen, zwischen 21/2-4 Millionen Kapitalzins in irgendeiner Form beziehen und von diesen 11/2-2 Millionen solchen in Form von Wertpapierzinsen oder »Dividenden« einnehmen. Damit haben wir die zweite Hauptform des Tributes an das »Kapital«, die »Dividende«, schon erwähnt. Wir müssen auch sie etwas näher betrachten. Einen anderen Charakter nämlich als jene bisher betrachteten »Obligationen«, welche Gläubiger-Rechte darstellen, haben die Aktien und die ihnen ähnlichen Werte (Bergwerksanteile: sog. »Kuxe«, Schiffsanteile: sog. »Schiffsparten« usw.). Sie bedeuten Anteilrechte an einem Unternehmen (Eisenbahn, Fabrik usw.). Das geschichtlich Ursprüngliche ist, daß z.B. die »Gewerken«, denen ein Bergwerk gemeinschaftlich gehört, selbst den Abbau der Erze durch gemeinschaftliche Arbeit besorgen, die Reeder, denen ein Schiff gehört, alle oder zum Teil die Fahrt persönlich mitmachen. Später, als der Besitz eines großen Schiffes oder der planmäßige Betrieb eines Bergwerks die Aufbringung bedeutender Mittel forderten, schieden sich die Besitzenden allmählich von den Arbeitenden (jetzt: gedungenen Lohnarbeitern). Die anteilsberechtigten Gewerken allein beschließen heute über die Angelegenheiten des Betriebes; von ihnen erhält ein jeder auf seinen Kux anteilsweise das, was über den Arbeitslohn und den sonstigen Bedarf für den Bergwerksbetrieb an Einnahme eingeht, als »Ausbeute« verteilt, und wenn die Einnahmen die Ausgaben[268] nicht decken, muß jeder anteilsweise »Zubuße« zahlen oder seinen Anteil zugunsten der anderen aufgeben7.

Etwas anders steht es mit der Aktiengesellschaft, einer Form der Vereinigung von Kapitalisten, welche in großem Umfang in Deutschland zuerst für den Eisenbahnbau und -betrieb benutzt wurde, seither aber für Unternehmungen aller Art Verwendung findet. Der Gesellschafter, »Aktionär«, leistet für seinen Anteil nur einen bestimmten Beitrag, regelmäßig in bar, er ist also nicht im Falle des Verlustes zu Nachzahlungen verpflichtet, wie der Gewerke. Die Summe dieser Beiträge verwendet der (regelmäßig von der »Generalversammlung« der Aktionäre zu wählende) Vorstand der Gesellschaft, um damit z.B. eine Bahn zu bauen, oder eine Fabrik anzukaufen usw., welche dann vom Vorstand für Rechnung der Aktionäre betrieben wird oder aber es überträgt einer der Gesellschafter der neu zu »gründenden« Gesellschaft seine Fabrik, die er bisher betrieb, nach einem verabredeten Geldanschlag als »Einlage« und erhält dafür nach Vereinbarung eine bestimmte Anzahl Anteile, Aktien also, während die anderen für ihre Anteile Geld einzahlen. Braucht die Gesellschaft noch mehr Geld und will sie nicht noch mehr neue Aktionäre zuziehen – »junge Aktien« ausgeben – so macht sie Schulden. Sie kann solche namentlich machen, indem sie verzinsliche »Obligationen« – Schuldverschreibungen – ausgibt. Unbewanderte können nun die Aktien leicht mit diesen verwechseln. Auch die »Aktien« sehen nämlich äußerlich einer Schuldverschreibung ähnlich, denn eine jede lautet über einen Geldbetrag, z.B. über 1000 Mk., – das bedeutet aber nicht, wie bei den Obligationen, daß der Aktionär diese 1000 Mk. von irgend jemandem als Gläubiger zu fordern hat, sondern vielmehr nur, daß er soviel in Geld oder in anderen »Einlagen« für die Gesellschaft geleistet hat, daß er also soviel bar Geld eingezahlt hat, oder ihm z.B. die Fabrik, die er einlegte, so hoch angerechnet worden ist. Zu fordern hat er, solange die Gesellschaft besteht, nur seinen Anteil an ihrem Gewinn, die »Dividende«, und diese natürlich nur, wenn die Gesellschaft einen Gewinn gemacht, d.h. seit Aufstellung der letzten Abrechnung[269] – »Bilanz« – ihr Vermögen vermehrt hat. Im übrigen hat er einen verhältnismäßigen Anteil an ihrem Vermögen und erhält also, wenn sich die Gesellschaft auflöst, – »liquidiert« – diesen Anteil, der mehr oder weniger betragen kann, als jene 1000 Mk., oder auch gar nichts, je nachdem die Gesellschaft bis dahin Gewinn oder Verlust hatte oder etwa nach Abzahlung der Schulden, die sie gemacht hat, nichts oder gar noch weniger als das – unbezahlte Schulden – verblieben sind. Denn wie für den einzelnen Geschäftsmann, wenn er sein Geschäft aufgibt, an Vermögen nur etwas übrigbleibt, nachdem er seine Gläubiger bezahlt hat, so muß auch die Gesellschaft der Aktionäre ihre Gläubiger erst befriedrigen, ehe sie etwas für sich selbst behält. Man nennt deshalb die Schuldverschreibungen der Aktiengesellschaften auch »Prioritäten« – d.h. vorgehende Rechte – weil die Rechte der Gläubiger (selbstverständlich) zuerst kommen und dann die der Aktionäre. Damit nun für die Gläubiger etwas da sei, ist den Aktiengesellschaften gesetzlich verboten, ihr Vermögen durch Verteilung von angeblichem Gewinn unter die Aktionäre unter den Betrag des »Grundkapitals«, d.h. desjenigen Wertbetrages zu vermindern, auf welchen es durch die Einzahlungen und Einlagen der Aktionäre gebracht war. Sind 100 Aktien über je 1000 Mk. ausgegeben, so bedeutet das, daß auf jede Aktie, in Geld oder anderen »Einlagen« mindestens ein Wert von 1000, zusammen mindestens 100000 Mk. zusammengebracht war. Bei der »Bilanz« muß also, wenn man das Eigentum der Gesellschaft, z.B. das Fabrikgrundstück und die Maschinen usw., die vorhandenen Waren, Forderungen, Gelder usw. der Gesellschaft, alles in Geld veranschlagt, zusammenrechnet – die »Aktiva« – und dann die Schulden – die »Passiva« – abzieht, sich ein Mehrbetrag der »Aktiva« über die »Passiva« von mindestens 100000 Mk. ergeben, sonst hat die Gesellschaft Verlust erlitten, und erst wenn mehr als 100000 Mk. Vermögen da ist, darf dies Mehr als »Dividende« verteilt werden. – Leicht kann durch falschen (zu hohen) Wertanschlag der Vermögensgegenstände in der Bilanz dieser Vorschrift zuwidergehandelt und fälschlich der Schein der Deckung des »Grundkapitals« erweckt werden, damit zu Unrecht eine Dividende verteilt werde, obwohl gar kein Gewinn gemacht ist, und die Aktien als hohen Wertes erscheinen und von Käufern teuer bezahlt werden8. Oefter noch kam es in der »Gründerzeit«[270] vor 20 Jahren vor, daß die »Gründer«, d.h. die ersten Aktionäre, wenn dies unsolide Bankhäuser waren, welche ihre Aktien gern bald an das Publikum möglichst über ihren wahren Wert loszuschlagen wünschten, Fabriken usw., welche die Aktiengesellschaft übernahm, zu teuer bezahlten, indem sie mit dem bisherigen Besitzer unter einer Decke spielten. Alles dies wird erleichtert durch den auch hier »unpersönlichen« Charakter des Kapitals. Der einzelne Aktionär hat in die Führung der Geschäfte nicht hineinzureden, er hat, wenn ein Bergwerk oder eine Fabrik auf Aktien betrieben wird, mit den Arbeitern nichts zu tun, sie kennen ihn sowenig wie er sie, er bekommt die Bücher nicht zu sehen, sondern erhält nur in der Generalversammlung Berichte vom Vorstand vorgetragen; meist beruhigt sich die Mehrzahl der Aktionäre und erscheint auch dort nicht einmal. – Die Anteile sind (regelmäßig) durch einfache Uebertragung des Papiers (der Aktie) übertragbar und gehen von Hand zu Hand: Die Aktionäre kennen auch einander gegenseitig nicht. Und doch sind sie Mitinhaber desselben Unternehmens und für die wechselnden Aktionäre arbeiten unter Umständen Tausende von Arbeitern, denen sie niemals im Leben begegnen und auf deren Lage sie, die eigentlichen Unternehmer, deren Vertreter nur der leitende »Direktor« ist, so gut wie keinen Einfluß haben, für die sie sich jedenfalls, auch ohne irgend besonders gewissenlose Menschen zu sein, regelmäßig schwerlich verantwortlich fühlen werden. – Noch immer ist diese Form der Unternehmung in starker Zunahme begriffen und für große Betriebe, die gewaltiger Mittel bedürfen, regelmäßig heute völlig unentbehrlich, denn Ansammlungen von Vermögen in einer Hand, wie bei Krupp und Stumm sind seltene Ausnahmen. Für Betriebe solchen Umfangs müssen die Mittel vielmehr regelmäßig durch Einlagen einer sehr großen Zahl von Leuten aufgebracht werden, welche gar nicht in der Lage sind, ihre persönliche Mitarbeit dem Betrieb zu widmen, auch gar nichts davon verstehen würden, sondern nur das Interesse haben, Tribut in Gestalt von Dividende zu beziehen. Und auch hier wieder muß man sich hüten zu glauben, daß die[271] Besitzer von Aktien etwa notwendig hauptsächlich in den Kreisen der »Großkapitalisten« zu suchen wären. In England besitzen auch Arbeiter Aktien, bei uns und unsern weit kärglicheren Reichtumsverhältnissen besteht gerade die Gefahr, daß zuviel Aktien in die Hände von Leuten gespielt werden, die nicht viel zu verlieren haben, aber durch gelegentliche hohe Dividenden, von denen sie lesen oder hören, oder sonstige Reklamen angezogen werden und meinen, weil auf der Aktie z.B. »1000 Mk.« steht, komme ihnen doch wohl irgendwer dafür auf, daß sie diese 1000 Mark irgendwann von irgendwoher erstattet erhalten.

Das sind die Hauptformen der eigentümlichen Ware, welche den Gegenstand des Marktverkehrs an den »Effektenbörsen« bilden. Man sieht, es sind verbriefte Tributberechtigungen, und die moderne Organisation der Wirtschaft führt dazu, daß eine immer steigende Zahl von solchen entsteht und »in Umlauf gesetzt« wird. Der Ingenieur eines Elektrizitätswerkes hilft z.B. durch seine Arbeit den Dividendentribut aufbringen, an welchem etwa der Prokurist einer Papiermühle als Aktionär Anteil hat und besitzt vielleicht selbst Aktien dieser Papiermühle, so daß ihm umgekehrt auch die Arbeit dieses abgabepflichtig ist, und beide besitzen vielleicht Staatspapiere und besteuern so die Gesamtheit der Steuerzahler – einschließlich derer, die ihrerseits solche Tribute nicht in Händen haben, der »Besitzlosen«. Unter der heutigen Wirtschaftsordnung würde eine solche gegenseitige Tributpflichtigkeit auch stattfinden, wenn wir einmal uns vorstellten, daß alle Vermögen in gleicher oder annähernd gleicher Höhe besäßen: dann steuerten alle an alle, jetzt alle an einen Teil, an die Besitzenden. Die gegenseitige Tributpflichtigkeit an sich ist kein notwendiges Zeichen dafür, daß wenige Tributherren und viele Tributpflichtige einander gegenüberstehen. Das Bestehen des Zinses und der Dividende an sich ist vielmehr nur ein weiterer Ausfluß der modernen »Verkehrswirtschaft«, welche auf der Eigentümlichkeit aufgebaut ist, daß jeder fortgesetzt von dem Ertrage der Arbeit anderer existiert und selbst für den Bedarf anderer arbeitet. Der große Gutsherr der Karolingerzeit, welcher ausnahmslos alles, was er bedurfte: Gespinste, Gewebe, Eisengeräte usw. auf seinem Gut mit seinen hörigen Handwerkern anfertigen ließ – er und diese seine Untertanen waren noch berechtigt zu sagen »Wir, die Gutsinsassen, leben von dem Ertrage unsrer Arbeit[272] aus unserm Boden und nur von diesem und kein anderer lebt mit davon.« Der moderne Rittergutsbesitzer mit seinen Arbeitern – auch der größte – kann das Gleiche nicht mehr behaupten: Ställe und Wohnungen bauten Fremde aus fremdem Material, das Ackergerät ist gekauft, ja selbst der Boden ist nicht mehr die naturgewachsene Erde, sondern mit hereingeführtem, künstlichem Dünger, Kali, Phosphaten usw., Produkten fremder Arbeit, bereichert. Diese fremde Arbeit muß entgolten werden und wird entgolten und zwar unter unsrer heutigen Organisation in Gestalt einer »Kapitalrente«, des Zinses, den der Hypothekengläubiger, von dem das Geld entliehen war, bezieht. Das ist z.B. oft die Sparkasse, welche die Gelder der kleinen Leute, die sie ihnen verwaltet und für die sie Zins zahlt, gegen Grundstückpfand darleiht, und es zinst also der Grundherr dem Proletarier. Meist freilich zinst er städtischen Bürgern. – Er erntet mehr Getreide aus dem Gut, aber er sitzt nicht mehr auf freier Scholle, er ist angebunden und verflochten in die Wirtschaftsgemeinschaft der Welt draußen. Und noch weit mehr ist es der Fabrikant, der die Rohstoffe, welche Fremde erarbeiteten, zu deren Ankauf er oft wenigstens zum Teil fremdes Geld entleiht, durch »seine« Arbeiter verarbeiten läßt und dann davon abhängt, daß andre sie brauchen können und ihm hoch genug bezahlen wollen. Es ist menschlich, daß er meint, das Produkt sei sein Produkt, der Gewinn sein Gewinn, die Fabrik seine Fabrik und da er ein freier Mann sei, habe ihm eigentlich niemand, auch nicht der Staat, hineinzureden: in Wahrheit ist es die Gemeinschaft, deren Arbeit er braucht, nur ein winziger Bruchteil des von ihm »geschaffenen« Wertes enthält »sein« Produkt und wiederum ist es die Gemeinschaft, deren Bedarf nach Waren der von ihm zu Markte gebrachten Art das Gebot ist, welches ihm die Arbeitsstellung zuweist, welche er einnimmt, und dem er gehorchen muß, will er etwas »verdienen«.

Eine sozialistische Organisation würde alle einzelnen je an einen Faden binden und diese Fäden in der Hand einer Zentralleitung zusammenlaufen lassen, welche nun jeden einzelnen dahin dirigieren würde, wo sie ihn nach dem Maß ihrer Kenntnis am zweckmäßigsten verwenden zu können glaubt. Die heutige Organisation bindet jeden mit zahllosen Fäden an zahllose andere. Jeder zerrt an dem Fadennetz, um an die Stelle zu gelangen, wohin er möchte und wo er an seinem Platz zu sein glaubt, aber[273] selbst, wenn er ein Riese ist, und viele der Fäden in seiner Hand zusammenfaßt, wird er vielmehr von den andern dorthin gezerrt, wo gerade ein Platz für ihn offen ist.

Doch zurück zu unserm Thema.

Fortgesetzt entstehen neue Bedürfnisse von Staaten, Gemeinden, Grundbesitzern, Fabrik- und Eisenbahngesellschaften, Geld gegen Verkauf von zins-oder dividendetragenden Papieren »aufnehmen« zu können. Fortwährend sind andererseits zahlreiche Personen in der Lage, ihr Geld in solchen »anlegen« zu können. Ein immer steigender Teil des Volksvermögens wird in solchen Tributrechten zum Ausdruck gebracht und in Umlauf gesetzt. Man rechnet das deutsche Volksvermögen, d.h. die Summe der einen Ertrag irgendwelcher Art gewährenden Güter in Deutschland, in Geld veranschlagt, zu etwa 180 Milliarden Mark und die bisher vorliegenden Berechnungen machen wahrscheinlich, daß 3/7 davon in zins-oder dividendetragenden Rechten, Hypotheken, Aktien, Obligationen aller Art bestehen. Jährlich wird etwa 1 Milliarde (1000 Millionen) Mark neu erspart und zur »Anlage« verfügbar. Für mehr als die Hälfte dieser riesenhaften Beträge – alle die, welche die Form der oben beschriebenen Wertpapiere angenommen haben – bildet die Effektenbörse den Markt, wo sie angeboten und gekauft werden, wie die Lebensmittel auf den Lebensmittelmärkten. Man sieht zugleich die Unentbehrlichkeit und die Riesenhaftigkeit dieses Marktes. –

Wie ist nun dieser Markt, die Produkten-, Wechsel-, Effektenbörse, – zunächst äußerlich – organisiert? Die ältesten Börsen, in den Niederlanden im 15. Jahrhundert, waren einfach internationale Versammlungen von Kaufleuten, welche dorthin reisten und ihre Waren veräußerten. Allmählich aber kam das Reisen der Händler als Zeitverschwendung ab, man sandte seine Kauf- und Verkaufsaufträge durch Korrespondenz an den Börsenplatz hin, wie noch heute, und es bildete sich eine Klasse von Kaufleuten, welche aus der Besorgung dieser Aufträge einen Beruf machten und daneben selbst für ihre eigene Rechnung an der Börse handelten – ein Stand berufsmäßiger Börsenhändler. Diese vereinigen tatsächlich in ihrer Hand den Geschäftsbetrieb an der Börse. Dies einfach des halb, weil sie allein den »Markt« kennen, täglich jahraus jahrein, damit zu tun haben und wissen, oder doch vermuten können, welche Waren und Papiere voraussichtlich besonders begehrt oder billig[274] zu haben sein werden. Nicht weil das Gesetz sie privilegierte, sondern deshalb haben sie eine monopolartige Stellung, weil jeder andere, auch wenn er sich auf die Börse begibt und man ihn am Verkehr teilnehmen läßt (z.B. in Paris und Hamburg ist die Börse jedem ausnahmslos zugänglich), schwerlich durch Beteiligung am Geschäft Vorteil zu ziehen oder auch nur rein äußerlich sich über die Art des Geschäftsschlusses zu informieren wissen, sondern vielmehr sich ziemlich »von Gott verlassen« vorkommen wird. Denn dieser Riesenmarkt ist selbstverständlich auch ebensoviel komplizierter als ein gewöhnlicher Wochenmarkt, als er größer ist. Im allgemeinen ist vielmehr derjenige, welcher nicht berufsmäßig Börsenhändler ist, wenn er an der Börse kaufen oder verkaufen will, darauf angewiesen, sich an einen Börsenhändler zu wenden, damit dieser als »Kommissionär« für seine Rechnung das Geschäft abschließt; dafür macht sich der Börsenhändler in der einen oder anderen Form bezahlt – wie, werden wir in einem späteren Heft erörtern.

Die ältesten Börsen waren Versammlungen auf einem offenen, zuweilen eingehegten Platz. Später meist und jetzt wohl immer finden diese Versammlungen in geschlossenen großen Sälen statt. Von jeher bedurfte es naturgemäß eines Organs, welches die Marktpolizei handhabte. Das ist ebenso jetzt, es sind überall Kommissare bestellt, welche die Ordnung aufrechterhalten. – Daneben aber kannte die ältere Markt- und Börsenorganisation noch ein Glied, – und der überwiegende Teil der Börsen, darunter die deutschen, kennt es noch jetzt – welches den speziellen Zweck hat, die möglichste Beschleunigung des Abschlusses der Geschäfte herbeizuführen: die »Makler«. Der Gegensatz gegen die Kommissionäre bestand – wir werden später erörtern (im nächsten Heft), wie sich das geändert hat – darin: der Kommissionär schließt das Geschäft als Beauftragter selbst ab und verrechnet sich mit seinem Auftraggeber, dem er die gekauften Waren dann gegen Erstattung der Auslagen und der »Provision« – z.B. 1, 1/2, 1/8 von je hundert des Betrages – überweist, er ist es, durch dessen Vermittelung die außerhalb der Börse befindlichen an dem Handel, der sich darin abspielt, teilnehmen. Der Makler dagegen ist nur Vermittler, und zwar (normalerweise) nur zwischen den Börsenbesuchern auf der Börse selbst. Er erhält von dem Börsenhändler – sei es, daß dieser für sich, sei es, daß er als Kommissionär für jemand draußen[275] ein Geschäft machen will, den Auftrag, ihm – z.B. – jemand nachzuweisen, der 100 Aktien einer bestimmten Gesellschaft oder 100 Zentner Weizen abnehmen und dafür mindestens x Mark zahlen wolle. Seine Sache ist es, einen solchen zu finden, hat er ihn gefunden, so überbringt er ihm das Angebot (die »Offerte«) und nimmt die Erklärung, daß dasselbe angenommen sei, entgegen. Ueber das so zustande gekommene Geschäft, welches er sich zunächst in einem Notizbuch notiert, stellt er jeder der Parteien eine gleichlautende Bescheinigung, die sog. »Schlußnote«, zu9 und erhält dann – von jeder Partei normalerweise zur Hälfte – die übliche »Courtage«: z.B. 1, 1/2 usw. vom Tausend des Betrages als Entgelt für seine Mühewaltung. Er ist also nach dem Gedanken, der seiner Stellung zugrunde liegt, das Werkzeug, welches die ausgestreckten Hände von Angebot und Nachfrage zusammenführt, so daß sie sich fassen können. Seine Unentbehrlichkeit beruht darauf, daß sonst bei der großen Zahl der Börsenbesucher – an den größten Börsen verkehren mehrere Tausend – die Wahrscheinlichkeit, sich zu treffen, für die Kaufs- und Verkaufslustigen gering, jedenfalls unerhört zeitraubend wäre. Der Geldwert der Zeit aber ist seit Jahrhunderten im Handel enorm gestiegen. – Der einzelne Makler vermittelt meist – wir werden das im einzelnen noch sehen – Geschäfte in einem oder mehreren bestimmten Gegenständen (z.B. in Aktien der Berliner Diskonto-Gesellschaft), man kennt diejenigen Makler, an welche man sich zu wenden hat, wenn man in diesem Gegenstand Geschäfte machen will und in ihrer Hand läuft daher alles zusammen, was an Angebot und Nachfrage »zu Markte« kommt. –

Auf diese Art sorgt die Börse wie der Markt dafür, daß Käufer und Verkäufer sich zu finden vermögen. Allein das ist nicht der einzige Grund ihrer Bedeutung. Auch der Bauer fährt mit seinen Produkten, welche er in die kleine Landstadt bringt, zum Markt, und nicht etwa vor die Türen der einzelnen Häuser[276] von Städtern, die sie vielleicht brauchen könnten, nicht nur deshalb, weil dies eine unerhörte Zeitvergeudung bedeuten würde. Sondern vor allem deshalb bringt er sie zu Markt, weil er dort den höchst-möglichen Preis zu erzielen hofft. Hier trifft der Käufer mit allen oder den meisten Verkäufern, der Verkäufer ebenso mit den Käufern zusammen und beide können gegenseitig übersehen, ob ihnen ein andrer der Anwesenden günstigere Bedingungen bietet, als der, mit welchem sie eben verhandeln. Im allgemeinen werden infolge der so entstehenden »Konkurrenz« der Reflektanten untereinander Waren gleicher Art und Güte auf dem Markt unter geringen Abweichungen zu etwa dem nämlichen Preise ge- und verkauft werden. Dieselbe Rolle spielt die Börse, nur daß der dort für einen Gegenstand bestimmter Art und Güte, in einem bestimmten Moment sich ergebende Preis – der »Börsenkurs« des Tages bzw. der Stunde – eine Bedeutung von ungleich gewaltigerer Tragweite hat. In die Spalten der Zeitungen, welche täglich die an der Berliner Produktenbörse für Getreide, Sprit usw. gezahlten Preise veröffentlichen, blickt der Getreide-, Sprit-usw. Händler und der Landwirt in ganz Ostdeutschland. Der Getreidehändler berechnet sich: der Preis für die Tonne (1000 Kilogr.) Getreide ist X Mark, ungefähr dafür also werde ich Getreide verkaufen können. Y Mark kostet die Eisenbahnfracht nach Berlin; wenn ich Z Mark an der Tonne verdienen will, kann ich mithin höchstens X weniger Y weniger Z Mk. an meine Kunden bezahlen. Er sagt also dem Landwirt, der ihm sein Getreide bietet: ich bin bereit zu zahlen »so und so viel (nämlich wenigstens Y + Z) Mk. unter der heutigen Berliner Kursnotiz für Getreide«. In dieser Art wird der größte Teil der ostdeutschen Getreideernte verkauft, ebenso fast der sämtliche dort gebrannte Sprit den Produzenten abgekauft, für sie ist dieser Börsenkurs und seine Höhe eine Lebensfrage. Bestände die Börse nicht, so hätten sie gar keine Möglichkeit, ungefähr zu kontrollieren, wieviel Profit der Getreidehändler an dem Getreide macht, das er ihnen abnimmt, und wären seinem Belieben ausgeliefert. – In die Spalten der Zeitungen, welche die Kurse von Staatspapieren, Aktien usw. enthalten, sieht andererseits der Besitzer von solchen Papieren, um sich zu vergewissern, wie hoch an der Börse der Wert dessen, was er daran besitzt, veranschlagt wird. Er kauft mit Vorliebe »börsengängige« Papiere und leiht sein Geld meist nicht direkt irgendeinem soliden[277] Geschäftsmanne oder Landwirt, der es brauchen kann, und ihm verzinst. Einmal weil es reiner Zufall ist, ob er gerade einen solchen findet. Vor allem aber auch deshalb, weil er es von ihm nicht jeden Augenblick wieder haben kann, sondern warten muß, bis die Schuld fällig ist: er könnte ja die Forderung einem andern, der sie ihm abnehmen und ihm dafür Geld geben will »zedieren« (d.h. übertragen), aber ob er einen solchen findet, und was dieser ihm zu zahlen bereit ist, fragt sich sehr. Bei einem Papier dagegen, welches an der Börse regelmäßig gehandelt wird, ist er jeden Augenblick, wenn er sein Geld braucht, sicher, einen Käufer an der Börse zu finden, zu ungefähr dem Preise, den er aus der Zeitung ersehen kann. Die Ziffern des Kurszettels sind für ihn ein Thermometer, aus dem er täglich sieht, wie hoch er das Vermögen, welches er besitzt, veranschlagen darf.

Auf diesen Umständen vornehmlich beruht die ungeheure Bedeutung, welche die Börsen für die Volkswirtschaft gewonnen haben, deren Regulatoren und Organisatoren sie heute zu werden begonnen haben, immer mehr werden, und solange die heutige Gesellschaftsordnung auch nur in irgend annähernd ähnlicher Art bestehen wird, auch werden müssen. Zugleich zeigt sich aber auch, von welch ungeheurer Wichtigkeit es ist, daß die Bildung und Feststellung des Preises (»Kurses«) auf der Börse sich in solider und richtiger Weise vollzieht. Für die Ermittelung der Preise, welche in den an der Börse gehandelten Waren und Papieren an den einzelnen Tagen gezahlt worden sind, haben alle Börsen Einrichtungen getroffen. Fast alle, speziell die größte deutsche Börse: die Berliner, geben ein amtliches »Kursblatt« heraus, durchweg unter Mitwirkung der Makler, welche die Geschäftsabschlüsse vermittelt haben, dessen Inhalt dann die Zeitungen abdrucken. Wie diese »Kurse« zustandekommen und in welcher Art und zwischen welchen Personen sich der Geschäftsverkehr, dessen Resultat sie sind, an der Börse abspielt, werden wir uns noch im einzelnen in einem weiteren Heft ansehen.

Die langen Zifferreihen am Schluß der Zeitungen, welche der Leser, welcher weder Kapitalist noch Geschäftsmann ist, überschlägt, sind nicht nur für die Kapitalisten und Geschäftsleute von Bedeutung, sondern die Art, wie sich im Laufe der Jahre die trocknen Zahlen darin ändern, bedeuten Aufblühen und Niedergang ganzer Produktionszweige, an deren Bestand heute Glück und Elend von Tausenden hängt.

[278] Wir sehen: die wesentliche Grundlage und die Einrichtungen der Börsen müssen in der Hauptsache gleichartige sein, weil die Bestimmung der Börse überall dieselbe ist.

Trotz dieser grundsätzlichen Gleichartigkeit der wesentlichen Zwecke zeigt aber die Organisation der Börse in den einzelnen Ländern höchst auffällige Verschiedenheiten, deren Hauptformen wir kurz an Beispielen betrachten wollen.

Die größten englischen und amerikanischen Börsen haben – nicht alle, aber gerade die bedeutendsten – den Charakter geschlossener Klubs der berufsmäßigen Börsenhändler. Regelmäßig voneinander getrennt sind Fonds- und Produktenbörsen und oft diese noch in weitere Spezialbörsen. Jede bildet einen sich selbst verwaltenden Verein, der regelmäßig als Korporation selbst beschließt, wen er in seine Mitte aufnehmen will. Die einzelnen Plätze an der Börse sind, wie früher allgemein und zum Teil noch die Kirchensitze bei uns, erblich und verkäuflich und kosten ganz bedeutende Summen, und nur wer einen Platz erworben hat und in den Verband aufgenommen wird, kann am Börsenhandel direkt teilnehmen, alle anderen müssen sich eines der Zugelassenen als Kommissionär – broker – bedienen, wenn sie Geschäfte machen wollen10.

Um in einen solchen Börsenhändlerverband eintreten zu können, muß aber nicht nur der Platz erworben werden, sondern regelmäßig fordert der Verband noch eine bedeutende Kaution, damit, wer mit dem Eintretenden Geschäfte macht, auch sicher sei, daß er imstande sein wird, seinen Verpflichtungen nachzukommen11. Hier ist also die Börse offen als Monopol der Reichen organisiert, die berufsmäßigen Händler haben sich nach Art einer Zunft des Handels allein bemächtigt, sie allein setzen die Usancen fest, d.h. die Bedingungen, unter welchen ein für[279] allemal die Geschäfte an der Börse als geschlossen gelten, der Staat weder, noch sonst jemand hat ihnen hineinzureden. Sie bilden eine Art »Geld-Aristokratie« des Börsenhandels.

Scheinbar den größten Gegensatz dazu stellt die größte französische, die Pariser Fondsbörse dar. Hier existiert kein geschlossener Verband von Börsenhändlern, es hat jedermann wie zu einem offenen Markt unmittelbar Zutritt und kann – wenn ihm jemand Kredit gibt! – am Handel teilnehmen. Man sieht zuweilen Arbeiter in blauer Bluse ihre Anweisungen auf Staatsschuldscheine, die sie erworben haben, an die Börse weiter verkaufen. Der Börsenhandel ist äußerlich demokratisch eingerichtet wie der Staat. Aber das hat seine Grenze. Gerade die französische Fondsbörse war von jeher eine politische Einrichtung, die der Staat für politische Zwecke dienstbar machte und in deren Organisation er dementsprechend nach Belieben eingriff. So finden wir an den 7 größten französischen Fondsbörsen, besonders der Pariser, das Institut des parquet d.h. eines privilegierten Verbandes vom Ministerium zugelassener Makler »Agents de change«. Diese Makler haben nach dem Gesetz allein das Recht, Geschäfte an der Börse gegen das übliche Entgelt (die Courtage) zu vermitteln, jeder, der einen Makler braucht, soll sich an einen von ihnen wenden und, wie schon eben gesagt, in 9 von 10 Fällen muß jemand, der ein Geschäft machen und schnell jemand finden will, mit dem er es macht, sich eines Maklers bedienen. Sie haben also das Monopol der Geschäftsvermittelung und damit sind ihnen Einkünfte von gewaltigem Umfang gesichert. Für den ganzen ungeheuren Verkehr der Pariser Börse gibt es solcher konzessionierter Makler nur sechzig. Und da jeder derartige Makler das Recht hat, wenn er sich zur Ruhe setzt, seinen Nachfolger selbst vorzuschlagen, also seine Konzession (ähnlich wie etwa die Apotheker bei uns) zu übertragen, so sind die Stellen tatsächlich verkäuflich und man zahlt jetzt etwa 2 Millionen Franken für eine solche. Jeder Makler muß außerdem eine Kaution von 250 000 Franken hinterlegen. Diese Monopolmakler sind also Millionäre12. Durch ihre Hände läuft also ein[280] gewaltiger Bruchteil – etwa die Hälfte – aller Geschäfte der Fondsbörse. Sie haben ihren Platz innerhalb eines mit Schranken umgebenen Raumes, und der Unterschied gegen die großen englisch-amerikanischen Börsen ist also nur der, daß hier nicht der ganze Börsenverkehr, sondern nur gewissermaßen dessen innerster Kern, das letzte Bindeglied zwischen Käufer und Verkäufer, das Monopol einer privilegierten Personengruppe bildet.

Die deutschen Börsen sehen sich untereinander verschieden an. Greifen wir die größten: also die Berliner, Hamburger, Frankfurter heraus, so finden wir zunächst, daß die Börsen für alle Arten Geschäfte – in Effekten und Produkten – an demselben Ort zusammengelegt, konzentriert sind, was in Frankreich und England regelmäßig nicht der Fall ist. Innerhalb des Börsengebäudes scheiden sich natürlich die einzelnen »Märkte«. So finden die Produktengeschäfte in Berlin im hintersten der drei großen Räume des Börsensaales statt, und innerhalb der Fondsbörse haben wieder die einzelnen großen Papiere: Russische Banknoten, Diskonto-Kommandit-Aktien usw. ihre Stelle, wo gewohnheitsmäßig sich in ihnen der Handel vollzieht. – Näher zugesehen, sieht ferner die Hamburger Börse anders aus als die preußischen. Die Hamburger Börse ist ein überdeckter Markt. »Das gesamte männliche anständige Publikum« kann sie besuchen; wem sie gerade auf dem Wege liegt, der benutzt sie als Durchgang. Schiffer und fremde durchreisende Kaufleute besuchen sie und schließen dort Fracht- und andere Geschäfte ab. Anständigen Besuchern finden wir neben den berufsmäßigen Börsenhändlern, die entweder für sich oder als Kommissionäre für andere Geschäfte machen, die Makler. Es existieren aber keinerlei nach Art der Pariser Agenten bevorrechtigte Vermittler, es steht jedem frei, das Maklergewerbe auszuüben, er hat sich nur den allgemeinen Pflichten jedes Maklers – Führung bestimmter Bücher, in denen er die vermittelten Geschäfte notiert, Ausstellung der Schlußnoten (s. o.) usw. – zu unterziehen. Hier ist also das Prinzip des »freien Marktes« konsequent durchgeführt. Nur die äußere Leitung hat die Handelskammer, eine staatlich eingerichtete Vertretung der Kaufmannschaft. – Ein eigentümliches Mittelding zwischen den streng geschlossenen Börsenkorporationen[281] Englands und Amerikas und dem Zustand in Hamburg stellen nun die preußischen, so namentlich die Berliner Börse dar. Die preußischen Börsen sind staatlich konzessioniert und stehen unter der Leitung der Handelskammern, d.h. der gewählten Vertretungsorgane des größeren Handelsstandes, in Berlin der ähnlich gearteten »Aeltesten der Kaufmannschaft«. Diese entscheiden in letzter Instanz über die für die Geschäfte maßgebenden Usancen und bestellen (in der Hauptsache) die Organe – Börsenkommissare und Deputierte –, welche die äußere Ordnung auf der Börse aufrechtzuerhalten haben, daneben Schiedsgerichte zur Entscheidung solcher Streitigkeiten, welche freiwillig vor sie gebracht werden, – in einzelnen, hier nicht weiter interessierenden Streitfragen, sind nach den Geschäftsbedingungen die Parteien verpflichtet, der Entscheidung derartiger Schiedsgerichte sich zu unterwerfen. Ein geschlossener Verein ist die Börse nicht, andererseits hat auch nicht jeder Zutritt, sondern dazu bedarf es des Besitzes einer Einlaßkarte. Diese aber wird gegen eine nicht erhebliche Gebühr jedem Einheimischen erteilt, der glaubhaft dartut, daß er zum Zweck des Handels die Börse besuchen will und von Mitgliedern der Börse zur Aufnahme empfohlen wird – eine Empfehlung, die den, der sie gibt, zu nichts verpflichtet und deshalb von jedem ohne Ausnahme erlangt werden kann. Zeitweise ausgeschlossen werden Leute, welche die Ordnung stören, Börsenmitglieder beleidigen, falsche Gerüchte verbreiten und Zahlungsunfähige – eine Disziplin aber von der Strenge der englischen existiert auf unserer Börse nicht. Auch frühere Bankerotteure erhalten regelmäßig nach einiger Zeit wieder Zutritt. Die Machtmittel der Börsenvorstände sind gering. Andere Strafen als die zeitweise Ausschließung gibt es gegen Händler nicht13.

Neben den berufsmäßigen Händlern, Vertretern der Bankhäuser und Kommissionären finden wir auch an den preußischen Börsen die Makler. Auch bezüglich ihrer nimmt unsere Börse eine Mittelstellung ein, hier zwischen den konzessionierten Agenten in Paris und der gänzlichen Freigabe des Maklergewerbes in Hamburg. Es kann jeder das Maklergewerbe betreiben und es[282] existieren zahlreiche »freie« Makler, deren Geschäftsbetrieb ebensowenig wie der der Hamburger Makler einer Kontrolle unterliegt. Eine Sonderstellung nehmen aber die von den Regierungen auf Vorschlag der Börseninstanzen bestätigten »vereidigten« Makler ein. Sie haben als Vermittler keinerlei Vorrechte und sind namentlich nicht, wie die Pariser Agenten, allein zur Vermittlung berechtigt, – man kann sich nach Belieben an einen vereideten oder unvereideten Makler wenden. Eine bevorrechtete Stellung besteht – von unbedeutenden Vorrechten bei Zwangsverkäufen usw. abgesehen – nur an der Effektenbörse und nur insofern sie allein bei der Feststellung der Tageskurse für die einzelnen Papiere gefragt werden. Grundsätzlich – nicht durchweg tatsächlich – werden nur die durch sie vermittelten Geschäftsabschlüsse bei der Ermittlung und Notierung der angebotenen, verlangten und gezahlten Preise berücksichtigt14. Nun werden wir aber noch sehen, daß in vielen Fällen der ein Geschäft Schließende ein Interesse daran hat, daß dasselbe bei Feststellung des Börsenpreises berücksichtigt wird. Das ist z.B. namentlich bei den Kommissionären der Fall, deren Kunden draußen durch die Zeitung den Kommissionär kontrollieren, ob er ihnen auch den richtigen – d.h. den an der Börse ermittelten und notierten – Preisbetrag verrechnet. Solche Reflektanten sind also der Regel nach – nicht bei allen Arten von Geschäften, wie wir später sehen werden – auf die vereidigten Makler mehr oder weniger angewiesen. Im übrigen haben diese letzteren nur Pflichten vor den übrigen Maklern voraus: sie sollen vor allen Dingen keine eigenen Geschäfte machen, sich auch nicht dafür verbürgen15. – Bei uns gehört also zur Ausübung des Maklergewerbes nicht ein derartiges Vermögen, wie es der Pariser Agent besitzen muß. Es ist im Gegenteil nichts Seltenes, daß zahlungsunfähig gewordene Kaufleute zu Maklern bestellt werden, um sich in dieser Stellung wieder »emporzuarbeiten«. Ebenso muß man sich hüten zu glauben, der Stand der berufsmäßigen Börsenhändler sei bei uns im allgemeinen ein Stand reicher Leute. Man kann im Gegenteil sagen, daß die Vermögensunterschiede gerade der Börsenhändler mit die schroffsten sind, die es in einem Stande geben kann. Es ist in diesem Punkt eine äußerst »gemischte«[283] Gesellschaft – von den Vertretern der größten Banken, die Kapitalien von 50 und mehr Millionen Mark hinter sich haben, bis zu dem kläglichsten armen Schächer, der an den kleinen Preisschwankungen, auf die er spekuliert, sich von Tag zu Tag sein Dasein fristet. Große Vermögen werden zuweilen an der Börse »verdient«, meist freilich so, daß an sich schon große Vermögen ungemessen anschwellen, unter einem Aufwand von Nervenanspannung, der die Existenz eines Spekulanten durchaus nicht so beneidenswert gestaltet, wie mancher sie träumt. Aber man darf nicht glauben, daß der Börsenhändler durchweg den Marschallstab des Reichtums im Tornister trage. – Der Stand der Börsenhändler bildet bei uns infolge dieser riesigen Unterschiede in keiner Weise eine so (verhältnismäßig) einheitliche Klasse wie die Mitglieder der großen englischen Börsenkorporationen. Das ist in mehr als einer Hinsicht ein schwerer Schaden.

Wer außerhalb der Börse steht, ist leicht geneigt, das Hauptgewicht bei ihrer Beurteilung darauf zu legen, daß hier nicht selten lotterieartige Gewinnste erzielt werden, deren Erwerb verhältnismäßig »mühelos« erfolgt und daß andererseits die Ersparnisse langjährigen Fleißes im Börsenspiel verloren werden, zu welchem Agenten und Annoncen übel berufener Kommissionshäuser Leute, welchen nicht der geringste Beruf zur Teilnahme am Börsenhandel zukommt, verleiten. Die Vorschläge, welche die in den letzten 2 Jahren zur Untersuchung der Börsenverhältnisse versammelt gewesene Kommission (Börsen-Enquete-Kommission) gemacht hat, wollen mit Recht die Verleitung zu unwirtschaftlichem und gefährdendem Börsenspiel nach Art des Wuchers unter Strafe stellen und die Geschäfte für rechtlich nichtig erklären. Soweit durch sonstige Maßregeln – einige der in Frage stehenden besprechen wir im folgenden Heft – die Ausbeutung des Privatpublikums verhindert und überhaupt der Teilnahme Unberufener, welche dem berufsmäßigen Börsenhandel fernstehen, am Börsengeschäft wirksam vorgebeugt werden kann, müssen diese ergriffen werden. Man muß sich freilich hüten, immer die stärksten Schreier auch für die bewährtesten Kritiker zu halten: zumal gewisse politische Kreise, welche jeden Feldzug gegen die Börse an der Spitze mitmachen, wissen ihrerseits nur zu gut darin Bescheid und verschmähen dort gemachte Gewinnste nicht, während sie Verluste ungern bezahlen. Und man darf – leider – auch die Aussichten, das Publikum von der Beteiligung[284] an Spekulationen fernzuhalten, nicht allzu optimistisch ansehen.

Allein es muß vor allem daran erinnert werden, daß der wesentlichste Gesichtspunkt, unter dem man politisch und sozialpolitisch die Börse und ihre Schäden betrachtet, unmöglich der sein kann: Denjenigen, welche »nicht alle werden«, und ihr Vermögen auf der Börse riskieren wollen, dessen Besitz unter allen Umständen zu garantieren. Sondern angesichts der völlig unentbehrlichen Funktion, welche die Börse im Wirtschaftsleben zu versehen hat, ist ungleich wichtiger die Frage: 1. Erfüllt die Börse heute im allgemeinen trotz jener Exzesse die ihr zufallenden volkswirtschaftlichen Funktionen – dieser Frage werden wir erst im II. Teil näher treten können; schon hier dagegen können wir einer entscheidenden Vorfrage näher treten, nämlich 2. der Frage, ob die Personengruppen, in deren Hand diese Funktionen bei unserer heutigen Börsenorganisation gelegt sind, nach ihrer Eigenart die erforderliche Garantie bieten können. Diese Frage ist wichtiger als Lamentationen über einzelne schwindelhafte Praktiken. Wir werden (im II. Teil) noch sehen, daß es keine Geschäftsformen und Manipulationen an der Börse gibt, welche, um ihrer Form willen, an sich »reell« oder »unreell« wären, sondern nur reelle oder unreelle Geschäftsleute, welche sich dieser Formen bedienen. Auf die Personen kommt es an. Deshalb gibt es an sich gegen Mißbräuche keine einschneidendere Maßregel, als die Einführung eines aus Standesgenossen zusammengesetzten Ehrengerichtes, wie es die Börsen-Enquete-Kommission vorschlägt. – welches die geschäftliche Praxis der Standesgenossen, wenn Beschwerden erhoben werden, einer Prüfung unterzieht und gegebenenfalls Ehrenstrafen, eventuell die Ausschließung von der Börse, verfügt. Aber: ein wirksames »Ehrengericht« setzt voraus, daß ein gemeinschaftlicher und gleichartiger Ehrbegriff innerhalb des Standes vorhanden sei. Das ist bei uns unzweifelhaft nicht der Fall und kann es nicht sein bei der Einrichtung unserer Börse, welche jedem unterschiedslos ihre Tore öffnet. Vor allem besteht keine auch nur annähernde persönliche Gleichstellung zwischen den in ihrer Vermögenslage und ihren Anschauungen grundverschiedenen Besuchern der Börse. – Die Londoner Fondsbörse ist »plutokratischer« organisiert, da sie, wie wir sahen, immerhin bedeutende Vermögenseinlagen und Bürgschaften als Vorbedingung[285] des Zutritts zum Börsenhandel fordert. Man darf aber deshalb, weil unsre Börse auch den annähernd Mittellosen Zutritt gewährt, nicht etwa glauben, daß bei uns die Vorherrschaft der großen Kapitalien auf der Börse abgemindert sei. Davon ist auch nicht im Entferntesten die Rede, im Gegenteil: sie vollzieht sich bei uns nur in verhüllterer Form und deshalb unter einem weit geringeren Druck des Verantwortlichkeitsgefühls: der Großkapitalist verweist, zur Rede gestellt, auf die zahlreichen, »unlautern Elemente«, welche am Börsenhandel beteiligt seien. Diese Elemente finden sich nun gewiß keineswegs nur in den minder bemittelten Schichten der Börsenhändler, denn Ehrenhaftigkeit der Gesinnung geht mit nichts weniger Hand in Hand als mit der Größe des Geldbeutels. Allein eins ist sicher: heute können nur »starke Hände«, d.h. große Kapitalien die Funktionen wahrnehmen, welchen der Börsenhandel dient. Die vielbeklagte Konzentration großer Kapitalien in den Händen der Banken ist innerhalb gewisser Schranken schlechterdings unentbehrlich für unsere heutige volkswirtschaftliche Organisation. Der kleine Spekulant, welcher in kleinen Preisdifferenzen zu verdienen sucht und die Börse zu einem Ort macht, auf welchem erein Vermögen, welches er nicht besitzt, erst erjagen möchte, erfüllt gar keinen volkswirtschaftlichen Zweck; das was für ihn an Verdienst abfällt, zahlt die Volkswirtschaft ganz unnötigerweise an einen überflüssigen Schmarotzer. Welche gewaltigen Gefahren die großen Kapitalisten auf der Börse zu Zeiten über Volksvermögen bringen können, das werden wir noch weiter sehen, und auch, ob und was etwa zur Einschränkung dieser Gefahren sich tun läßt. Aber während ihre Mitwirkung andererseits ganz unentbehrlich ist und eine nationale Wirtschaft, welche keine konzentrierten Kapitalmächte besäße, damit nur in die Abhängigkeit von ausländischen Kapitalisten geriete, ist der kleine Börsenspekulant ein Mann, welcher seine Arbeit nützlicher irgendeiner andern Tätigkeit zuwenden würde. Ervor allem aber hindert das Entstehen einer in ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Vorbildung, Erziehung und Stellung gleichartigeren Klasse von Börsenhändlern, welche in der Lage wäre, aus ihrer Mitte »Ehrengerichte« zu bilden, welche die Energie haben könnten, erzieherisch zu wirken und deren Urteile respektiert würden. Niemals wird es durchzusetzen sein, daß Sprüche eines Ehrenhofes, der aus der Wahl eines solchen Mischmaschs,[286] wie ihn jetzt unser Börsenpublikum darstellt, hervorginge, Beachtung finden, – schon die Voraussetzung: ein einheitlicher »Ehrbegriff«, fehlt. Meine persönliche Auffassung16, die ich unter allem Vorbehalt hier äußere, weil ich glaube, man könnte mich mit Recht darnach fragen, geht deshalb dahin: Ehrlichkeit ist die Stärke jeder gesellschaftlichen Organisation; auf unsrer und auf jeder Börse herrscht tatsächlich der größere Geldbeutel, und es kann auch nicht anders sein. Deshalb möge man ihm auch formell das Feld lassen und durch Erfordern starker pekuniärer Garantien den Zutritt zur Börse erschweren, man stärkt die Stellung der großen Kapitalien dadurch nicht, sondern macht eine Kontrolle und die Entstehung einheitlicher Anschauungen über das, was auf der Börse geschäftlich ehrbar ist oder nicht, erst möglich. Dazu wird derjenige ungläubig den Kopf schütteln, welcher die Börsenhändler als solche für einen Klub von Verschwörern gegen die Früchte fremder Arbeit hält. Ihm muß gesagt werden: er kennt sie nicht. Es kommt darauf an, den Elementen von unbezweifelbarer Ehrenhaftigkeit, welche dieser Stand, ebenso wie jeder andere in sich enthält, die Möglichkeit, seine Anschauungen mehr als bisher zur Geltung zu bringen, zu verschaffen; und gefragt werden kann nur, ob eine Organisation der Börse mehr nach englischer Art ein geeignetes Mittel bildet. Ich bin zur Zeit geneigt, diese Frage zu bejahen. Die Börse ist Monopol der Reichen, nichts ist törichter als diese Tatsache durch die Zulassung unbemittelter und deshalb machtloser Spekulanten verhüllen zu lassen und damit dem Großkapital die Möglichkeit der Abwälzung der Verantwortung auf jene zu geben17.

Man könnte hoffen, durch eine energische Staatsaufsicht ähnliche Zwecke zu erreichen. Die Möglichkeit eines ziemlich unbeschränkten Eingreifens des Handelsministers besteht nun in Preußen zu Recht. Es kommt also darauf an, wie die Aufsicht auszuüben wäre. In Oesterreich hat man einen Staatskommissar, der bisher so gut wie nichts hat ausrichten[287] können. Wenn ein Börsen-Ehrengericht eingerichtet wird, so wird es erwünscht sein, einen staatlichen Kommissar als Ankläger nach der Art des Staatsanwalts zu haben; die Gerichtsbarkeit selbst in andere als die Hände der Standesgenossen zu legen, wäre dagegen wahrscheinlich ein Fehler. Kann man auf das Durchdringen der möglichst höchsten Auffassung von geschäftlicher Ehrbarkeit innerhalb des Standes selbst nicht rechnen, so ist die ganze Institution eine Komödie und unterbleibt besser. Vorgeschlagen wurde ferner, den leitenden Börsenorganen – »Aeltesten«, »Börsenkommissariaten« usw. – staatliche Kommissare für ihre Verhandlungen beizugeben. Es handelt sich hier weniger um Kontrolle, als darum, staatlicherseits darin Anträge stellen und mit den Vertretern der Kaufmannschaft darüber verhandeln zu können. Ausgeschlossen ist ein solches Verfahren schon jetzt bei uns nicht. Sicherlich ist mit dem allen etwas Entscheidendes nicht geschaffen; am wenigsten eine Kontrolle des Verkehrs. Diese denkt man sich weit leichter als sie ist. Man kann auf den Lebensmittelmarkt einige Schutzleute stellen, welche Nahrungsmittelverfälschung, falsches Gewicht usw. kontrollieren. Was man etwa Gleichartiges durch Entsendung noch so vieler, noch so intelligenter staatlicher Kommissare auf die Börse zu den Verkehrsstunden, um dort auf Unrat zu passen, erzielen wollte, ist schwer zu sagen. Eine allgemeine Börsenbeaufsichtigung ist ein leeres Wort, darüber muß man sich klar sein; es kommt darauf an, welche bestimmten Vorgänge man kontrollieren oder durch gesetzgeberischen Eingriff regeln, welche Geschäfte z.B. und zwischen welchen Personen man verhindern kann und will18.[288]

Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitk. Hrsg. von Marianne Weber. Tübingen 21988, S. 256-289.
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