Diskussionsrede zu W. Sombarts Vortrag über Technik und Kultur auf dem ersten

Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910.

[449] M. H., wir sind doch wieder in Wertdiskussionen hineingeraten, und ich möchte glauben, daß wir diese ganze Seite der Debatte statutengemäß auch heute rücksichtslos ausscheiden müßten. Ich möchte mir nur die eine Bemerkung gestatten, daß das natürlich gewiß richtig ist, was Herr Prof. v. Schulze gesagt hat: daß für alle unsere Arbeit der Glaube an einen Wert der Wissenschaft Vorbedingung ist – was aber auch nicht bestritten worden ist. Sondern es wurde gesagt, daß wir hier praktische Wertfragen des Lebens ausschließen wollen. Nicht weil wir sie für minderwertige Dinge hielten. Im Gegenteil. Ich möchte glauben, daß grade auch die spezifische Wichtigkeit, die jeder einzelne von uns diesen, seine ganze Subjektivität in Mitleidenschaft ziehenden, eben deshalb aber[449] auf dem Boden einer ganz anderen Provinz des Geistes sich abspielenden praktischen Problemen zumessen wird, dazu führen muß, sie nicht als trockene Tatsachenfragen zu behandeln und also sie, mit den streng objektiven kühlen Tatsachenfeststellungen, mit denen wir es hier zu tun haben, nicht zu vermengen, weil sonst beide Arten von Fragestellungen zu kurz kommen.

Es ist selbstverständlich an sich etwas Willkürliches und sehr Zweifelhaftes, was man unter dem Begriff »Technik« verstehen will. Marx gibt eine Definition des Begriffs Technik meines Wissens nicht. Es steht aber bei Marx, bei dem sehr Vieles steht, was, wenn man genau und pedantisch, wie wir es tun müssen, analysiert, nicht nur widerspruchsvoll scheint, sondern wirklich widerspruchsvoll ist, unter anderem eine oft zitierte Stelle des Inhalts: Handmühle bedingt Feudalismus, Dampfmühle bedingt Kapitalismus. Das nun ist eine nicht ökonomische, sondern technologische Geschichtskonstruktion, – und von der Behauptung selbst ist einwandsfrei zu konstatieren, daß sie einfach falsch ist. Denn das Zeitalter der Handmühle, welches ja bis an die Schwelle der Neuzeit heranreicht, hat Kultur-»Ueberbauten« aller denkbaren Art auf allen Gebieten gesehen. Darin hat natürlich Herr Dr. Quarck vollständig recht, daß die materialistische Geschichtsauffassung von der Eigentumsverteilung als Bestandteil des Produktionsverfahrens ausgeht, und nicht nur von der Frage, ob z.B. Maschinen verwendet werden oder nicht. Aber die rein technologische Wendung findet sich bei Marx, neben anderen Unklarheiten, eben auch. Wenn man nun aber in irgendeinem Sinn einen gesonderten Begriff von »Technik« festhalten will, so ist es doch gewiß der, der in jener Aeußerung zum Ausdruck kommt, wo von den Eigentumsverhältnissen keine Rede ist.

Der sogenannte Geschichtsmaterialismus wird heute ja mit völliger Verdunkelung seines eigentlichen Sinnes vertreten. Es ist z.B. eine hoffnungslose Verwirrung in der Diskussion über die materialistische Geschichtsauffassung dadurch angerichtet worden, daß ein ganz hervorragender Gelehrter, Stammler, sie in einer Weise interpretiert hat, über die Marx in der Tat in höchstem Maße erstaunt sein würde. Denn hiernach ist alles, was Inhalt der sozialen Ordnung ist, also beispielsweise religiöse Interessen ganz genau so wie wirtschaftliche, die »Materie« des sozialen Geschehens, und eine »materialistische« Geschichtsauffassung ist dann die, die dasjenige, was Materie des Lebens ist, als Ursache der Form, nämlich der Art der äußeren Ordnung des Lebens hinstellt. Damit ist selbstverständlich der materialistischen Geschichtsauffassung in dem Sinne, wie Marx sie gemeint hat, jede Pointe genommen. Ich habe aber ganz ebenso das große Bedenken, daß wenn wir solche Unterscheidungen beiseite lassen, wie sie Sombart gemacht hat und meiner Meinung nach machen mußte, wonach wir eben als »Technik« eine bestimmte Verfahrensweise an Sachgütern betrachten – ich will diesen Begriff hier im übrigen nicht weiter definieren – wenn wir nicht den Begriff der Technik darauf einschränken, wenn das verwischt wird[450] und, wie es hier geschah, alles hineingezogen wird: der »Geist« des Menschen und ich weiß nicht was noch alles, daß wir dann ins Uferlose kommen und uns nicht verständigen. Es ist denn doch nicht richtig, wenn Herr Prof. Staudinger den Satz aufgestellt hat: der Sinn aller Technik – in dem sehr weiten Begriff, den er genommen hat, – sei der, daß der Mensch dabei im Gegensatz zu dem, was nicht Technik ist – und ich weiß nicht, was das eigentlich dann schließlich ist nach seiner Auffassung – das Endprodukt voraussehe, welches er herstellen wolle. Das trifft auf das Spazierengehen, das Essen, und auf alle möglichen anderen Leistungen auch zu. Trifft es aber wirklich zu z.B. für die Weberinnen, für die Hasplerinnen, für all die ungelernten Arbeiter in unseren Fabriken, die irgendeine unverstandene Manipulation an einer Maschine vornehmen? Es trifft für die kalkulierenden Fabrikanten zu, aber nicht für jene. Das ist kein Prinzip, wonach man irgend etwas abgrenzen kann gegen irgend etwas anderes. Worauf es uns hier ankommt, ist gerade ein viel spezifischerer Begriff von »Technik«, jedenfalls aber ein solcher, der, wie gesagt, die von der materialistischen Geschichtsauffassung oft – nicht immer – mitgemeinten Eigentumsverhältnisse ausschlösse. Denn ich glaube, daß über die materialistische Geschichtsauffassung als solche ein andermal bei uns debattiert werden könnte. Heute aber stand lediglich »Technik und Kultur« zur Diskussion. Weder aber – das erwähnte ich schon – bedeutet die gleiche Technik immer die gleiche Oekonomik, noch ist das Umgekehrte der Fall. Wie wenig es der Fall ist, zeigt nach dem, was ich schon sagte, folgende Erwägung: Zu den ganz großen Phänomenen, mit denen die vergleichende Kulturgeschichte sich befassen müßte, gehört dieses: Wir haben im Altertum nicht nur eine Kulturentwicklung gehabt, die, gleichviel wie man sie wertet, mit der Kulturentwicklung der Gegenwart jedenfalls in vielen Beziehungen vergleichbar ist, – wir haben im Altertum vor allem auch eine kapitalistische Entwicklung gehabt, die sich mit jeder kapitalistischen Entwickelung in der Welt messen kann. Die kapitalistische Entwickelung des Altertums aber hat – das möchte ich hier etwas übertreibend betonen – in dem Moment ihren Anstieg auf ihren höchsten Gipfel begonnen, wo, nach unserer heutigen Kenntnis, die technische Entwickelung des Altertums zu Ende gewesen ist. Soviel wir heute wissen – und wir bedürfen langjähriger Mitarbeit der Techniker und Technologen, um endgültig zu konstatieren, ob diese Auffassung die richtige ist – haben weder die Hellenen noch das kapitalistische Volk des Altertums par excellence: die Römer, dem, was aus dem Orient an technischen Errungenschaften gekommen war, irgend etwas besonders Erhebliches hinzugefügt. Es wäre ja zuviel gesagt: gar nichts; ich sage aber: nichts irgend Erhebliches. Und doch haben gerade sie eine kapitalistische Entwickelung ersten Ranges gehabt. Heute dagegen geht die kapitalistische Entwickelung mit der technischen Entwickelung scheinbar Hand in Hand, so sehr, daß allen Ernstes die Techniker zu dem Glauben gelangen, als sei die Technik und ihre Evolution das ausschließlich führende Element[451] in unserer Kulturentwickelung. Ich habe diese Auffassung heute nicht zu kritisieren, es sind dazu ja schon Bemerkungen von seiten Sombarts gemacht worden, ich konstatiere nur, daß gerade das ein Problem ist für uns Soziologen, inwieweit dies eigentlich der Fall ist, und daß jedenfalls auch jener Gegensatz zwischen heute und einst für uns ein Problem, und zwar allerersten Ranges, ist und bleiben wird, welches freilich nicht ohne die Mitarbeit von Technikern gelöst werden kann.

Angesichts der vorgerückten Zeit will ich nur noch beiläufig auf ein ganz heterogenes Gebiet zu sprechen kommen, auf das Gebiet der von Sombart auch erwähnten ästhetischen Evolution.

Sombart hat da vielleicht etwas einseitig die Auslese des Sujets seitens des Künstlers hervorgehoben. Daneben hat er von dem Einfluß der Technik auf moderne Orchestermusik und derartigem geredet. Nun ist die Sujetauslese ein sehr wichtiges Element für die kulturgeschichtliche Beurteilung einer kunstgeschichtlichen Situation, aber sie trifft ganz gewiß nicht das spezifisch Künstlerische. Die entscheidende Frage, die wir uns hier zu stellen hätten, wäre vielmehr m. E. die: inwieweit zufolge ganz bestimmter technischer Situationen formale ästhetische Werte auf künstlerischem Gebiet entstanden sind. Und dabei wäre wieder die rein technische und die ökonomisch-soziale Seite der Situation zu trennen. Gewiß ist z.B. die Frage höchst wichtig: Was bedeutet denn für die künstlerische Entwicklung beispielsweise die Klassenevolution des modernen Proletariats, sein Versuch, sich als eine Kulturgemeinschaft in sich – denn das war ja das Großartige an dieser Bewegung – hinzustellen? (Der Vorsitzende will den Redner unterbrechen.) Das »großartig« war soeben ein Werturteil, wie ich offen zugestehe, und ich nehme es wieder zurück. (Große Heiterkeit.) Das war, will ich sagen, das für uns Interessante an dieser Bewegung, daß sie die schwärmerische Hoffnung hegte, aus sich heraus der bürgerlichen Welt ganz neue Werte auf allen Gebieten entgegenzustellen. Ich frage: sind denn nun irgendwelche, irgendwelche Formwerte auf künstlerischem oder literarischem Gebiete, also nicht nur Vermehrung der Sujets, sondern wirkliche Formwerte davon ausgegangen? Von meinem gegenwärtigen, freilich ganz provisorischen Standpunkt würde ich diese Frage kategorisch verneinen. Bei keinem mir bekannten großen Künstler von proletarischer Provenienz oder sozialistischer Gesinnung haben die von ihm etwa – es gibt solche Fälle – hervorgebrachten Revolutionen der künstlerischen Form irgend etwas mit seiner Klasse oder seinen Gesinnungen zu tun, sie sind zumeist dieser seiner Klasse nicht einmal verständlich. Derjenige »Naturalismus«, dem solche Künstler zuweilen – aber bei weitem nicht regelmäßig – huldigen, hat uns neue Sujets gebracht, nicht neue Formwerte, und die Arbeiterklasse als solche steht z.B. literarisch heute bei Schiller – wenn es gut geht – aber nicht bei moderner naturalistischer Kunst. Es sei denn, daß sie als die »wissenschaftlich« allein akzeptable, spezifisch revolutionäre, präsentiert[452] würde, – und dann doch eben aus reinem künstlerischem Nichtverständnis. Daß bei den Künstlern selbst der Bruch mit Vorurteilen in der Kunst sich leichter bei Naturen vollzieht, die überhaupt überkommene Vorurteile – auch: Klassenvorurteile aller Art – leichter abstreifen, das ist richtig. Aber für Klassengebundenheit künstlerischer Formwerte beweist es gewiß nichts. Wie gesagt, diese Frage gehört in eine künftige, spezielle Diskussion der materialistischen Geschichtsdeutung nach vorheriger allseitiger gründlicher Vorbereitung; sie gehört ja zu den wichtigsten Erörterungen, mit denen wir uns beschäftigen können.

Nun aber fragen wir einmal, ob denn das, was man im gewöhnlichen Sinn des Wortes moderne Technik nennt, nicht irgendwie doch mit formal-ästhetischen Werten in Beziehung steht, so ist diese Frage meiner Meinung nach zweifellos zu bejahen, insofern als ganz bestimmte formale Werte in unserer modernen künstlerischen Kultur allerdings nur durch die Existenz der modernen Großstadt geboren werden konnten, der modernen Großstadt mit Trambahn, mit Untergrundbahn, mit elektrischen und anderen Laternen, Schaufenstern, Konzert- und Restaurationssälen, Cafés, Schloten, Steinmassen, und all dem wilden Tanz der Ton- und Farbenimpressionen, den auf die Sexualphantasie einwirkenden Eindrücken und den Erfahrungen von Varianten der seelischen Konstitution, die auf das hungrige Brüten über allerhand scheinbar unerschöpfbare Möglichkeiten der Lebensführung und des Glückes hinwirken. Teils als Protest, als spezifisches Fluchtmittel aus dieser Realität: – höchste ästhetische Abstraktionen oder tiefste Traum-oder intensivste Rauschformen, teils als Anpassung an sie: – Apologien ihrer eignen phantastischen berauschenden Rhythmik. M. H., ich glaube, daß eine Lyrik, wie etwa die Stefan Georges: – ein solches Maß von Besinnung auf die letzten, von diesem durch die Technik unseres Lebens erzeugten Taumel uneinnehmbaren Festungen rein künstlerischen Formgehalts gar nicht errungen werden konnte, ohne daß der Lyriker die Eindrücke der modernen Großstadt, die ihn verschlingen und seine Seele zerrütten und parzellieren will, – und mag er sie für sich in den Abgrund verdammen, – dennoch voll durch sich hat hindurchgehen lassen; erst recht natürlich nicht eine Lyrik wie die Verhaerens, der sie emphatisch bejaht und nach ihren immanenten und adäquaten Formungen und Einheiten sucht. Ich glaube ebenso, daß ganz bestimmte formale Werte der modernen Malerei gar nicht erschaut werden konnten, daß ihre Erringung nicht möglich gewesen wäre für Menschen, welche die bewegten Massen, die nächtlichen Lichter und Reflexe der modernen Großstadt mit ihren Verkehrsmitteln – nicht des London des 17. oder 18. Jahrhunderts, in dem, um ein anderes Gebiet heranzuziehen, noch ein Milton geboren werden konnte, den ganz gewiß kein Mensch für ein mögliches Produkt einer modernen Großstadt halten wird – ich sage, es ist gar nicht möglich, glaube ich, daß gewisse formale Werte der modernen Malerei ohne den noch nie in aller Geschichte menschlichen Augen dargebotenen Eindruck,[453] denjenigen eigentümlichen Eindruck, den die moderne Großstadt schon am Tag, aber vollends in überwältigender Weise, bei Nacht macht, hätten errungen werden können. Und da das Sichtbare – auf welches es hier allein ankommt – bei jeder modernen Großstadt bis ins letzte hinein seine spezifische Eigenart primär nicht von Eigentumsverhältnissen und sozialen Konstellationen, sondern von der modernen Technik empfängt, so ist hier allerdings ein Punkt, an dem die Technik rein als solche, sehr weittragend für die künstlerische Kultur, Bedeutung hat. Mag man im weiteren kausalen Regressus von dieser Technik aus nun wieder auf ökonomische, politische und andere sie erst ermöglichende Faktoren kommen, – jedenfalls sind nicht diese, sondern sind es rein technische Dinge, von denen her jene – vielleicht! – künstlerisch relevanten Einflüsse ins Leben treten.

Ein aus diesem Problem: Abhängigkeit der künstlerischen Entwicklung von den allgemeinen, außerkünstlerischen, technischen Bedingungen des Lebens auszusonderndes, weit spezifischeres Spezialproblem ist nun natürlich die Abhängigkeit der Entwicklung einer Kunst von ihren technischen Mitteln. Sombart hat in dieser Hinsicht mehr nebenbei einige Bemerkungen auf musikalischem Gebiete gemacht. Das ist ein sehr schwieriger Punkt. Stilwandelungen sind wohl auf keinem Gebiete der Kunst jemals rein technisch motiviert gewesen. Wenigstens ist mir kein Fall bekannt, für den sich dies heute nach Lage unsrer Kenntnis behaupten ließe. Aber allerdings hat die Technik, auch wo sie künstlerischen Formungen dient, ihre eigene immanente Gesetzlichkeit. In der Geschichte der Baukunst ist der Uebergang zum gotischen Stil nicht die »Erfindung« des schon vorher dekorativ bekannten Spitzbogens, sondern die »Lösung« eines ganz bestimmten statischen Problems des Gewölbeschubes, ja vielleicht sogar der Schalung, welches die Architekten technisch beschäftigt hatte und nach den gegebenen technischen Aufgaben nur durch die nunmehr auch konstruktive Verwendung jener Bogenform zu bestimmten Zwecken möglich war. So viel andere kulturhistorische Momente sonst noch mitspielen, – hier hat einmal ein rein bautechnisches Moment eminent schöpferisch eingegriffen. Inwieweit die von Sombart herangezogene Musikgeschichte geeignete Beispiele ähnlicher Art bieten würde, ist wohl fraglich. Es läßt sich z. B. vielleicht – mir fehlt das Urteil – behaupten, daß Beethoven um deswillen ganz bestimmte Konsequenzen seiner eigenen musikalischen Auffassung nicht gewagt hat zu ziehen, weil die volle chromatische Tonleiter, wie sie die Ventiltrompeten haben, den Blasinstrumenten zu seiner Zeit noch fehlte. Aber dieser Mangel war, wie Berlioz schon vor deren Erfindung bewies, technisch nicht absolut unüberwindbar und Beethoven selbst hat sich vor erstaunlichen Experimenten nicht gescheut, ihn zu überwinden, hat aber seine evolutionistischen größten Neuerungen ohne alle instrumental- und orchestraltechnischen Aenderungen geschaffen. Es läßt sich feststellen, welchen Einfluß die bekannte plötzliche Entwicklung der Streichinstrumente,[454] dann bei Bach die Orgel, auf den Charakter der Musik gehabt hat. Aber schon hier spielen andere als technische Dinge mit. Bedingungen soziologischen, zum Teil ökonomischen Charakters ermöglichten die Entwicklung des Haydnschen Orchesters. Aber der ihm zugrunde liegende Gedanke ist sein persönlichstes Eigentum und nicht etwa technisch motiviert. Die Regel ist, daß das künstlerische Wollen sich die technischen Mittel zu einer Problemlösung gebiert. Natürlich, darin hat Sombart ganz recht: es ist kein Zweifel, daß eine Musik wie die Wagnersche und alles, was ihr gefolgt ist, bis zu Richard Strauß, instrumental- und orchestraltechnische Voraussetzungen hat. Aber wir würden auch dabei wohl höchstens von »Bedingungen« sprechen, mit denen, als gegeben, der Künstler zu »rechnen« hatte und zwar als mit Schranken. Denn was er an »Technik« braucht und haben kann, schafft er sich, nicht aber die Technik ihm. Ob vollends das innere Bedürfnis nach dieser spezifisch modernen Art der musikalischen Aussprache und ob der zugleich sinnlichemotionale und intellektualistische Charakter dieser tonmalerischen Musik, der doch das Entscheidende ist, als ein Produkt technischer Situationen verstanden werden darf, das will mir allerdings äußerst fraglich erscheinen, denn da sind die technischen Dinge eben nur die – mehr oder minder vollkommenen – Mittel; da dürften andere, vielleicht ihrerseits wieder »technisch«, aber nicht orchestraltechnisch, mitbedingte Einflüsse unserer Kultur, das durch die Kulturlage bedingte Suchen nach einer neuen Einheit jenseits der alten gebundenen Formelemente, hineinspielen, und das wäre eben, soweit die »Technik« mitspielt, vom Instrumentaltechnischen wohl zu unterscheiden. Denn auf diesem Problemgebiete gehört in die Musikgeschichte, und nur in sie, die Frage der Beziehung zwischen künstlerischem Wollen und musiktechnischem Mittel. In die Soziologie dagegen die andere Frage nach der Beziehung zwischen dem »Geist« einer bestimmten Musik und den das Lebenstempo und die Lebensgefühle beeinflussenden allgemeinen technischen Unterlagen unseres heutigen, zumal wiederum unseres großstädtischen Lebens.

Nun, schließlich die intellektuellen Kulturwerte! Es ist ja gar kein Zweifel, daß z.B. die moderne chemische Wissenschaft an praktisch-technischen Zielen verankert ist – das liegt auf der Hand; wie könnte ein Chemiker von der Bedeutung Ostwalds ausschließlich technologische Lebensideale haben und die ganze Kulturentwicklung als einen Prozeß der Energieersparnis ansehen, wenn nicht seine ganze Wissenschaft tatsächlich ausschließlich von den Bedürfnissen der modernen Technik in unseren Fabriken, von deren Fortschritt, abhängig wäre und dadurch nun allerdings indirekt in eminentestem Maß von kapitalistisch-ökonomischen Bedingungen. In der Vergangenheit – darin muß ich Herrn Prof. Böttcher sehr entschieden zustimmen – haben dagegen auch in die Entwicklung der heute technisch bedeutsamsten Wissenschaften oft ganz heterogene Elemente, die ganz anderen Sphären entsprungen waren als den Bedürfnissen der[455] Technik, haben Elemente ganz irrationaler Art, die direkt gar nichts zu schaffen hatten mit irgendwelchem ökonomischem oder technischem Interesse, hineingespielt. Solche Fragen gehören in die »Soziologie der Wissenschaft«. Ich möchte, ohne das weiter auszuführen, nur gegen den – ich weiß nicht, von welchem Redner – hier gefallenen Ausdruck, daß irgend etwas, heiße es Technik, heiße es Oekonomik, die »letzte« oder »endgültige« oder »eigentliche« Ursache von irgend etwas sei, Protest einlegen. Wenn wir uns die Kausalkette vorlegen, so verläuft sie immer bald von technischen zu ökonomischen und politischen bald von politischen zu religiösen und dann ökonomischen usw. Dingen. An keiner Stelle haben wir irgendeinen Ruhepunkt. Und diejenige immerhin nicht seltene Auffassung der materialistischen Geschichtsauffassung, als ob das »Oekonomische« in irgendeinem, wie immer gearteten Sinn, etwas »Letztes« in der Ursachenreihe sei, diese Ansicht ist meines Erachtens allerdings wissenschaftlich vollständig erledigt.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitk. Hrsg. von Marianne Weber. Tübingen 21988, S. 449-456.
Lizenz:

Buchempfehlung

Brachvogel, Albert Emil

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.

68 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon