Anrede

[69] Anrede. (Redende Künste)

Eine Figur, deren sich sowol Redner, als Dichter bedienen, ihren Vorstellungen neue Kraft zu geben. Diese Figur besteht eigentlich darin, daß die Rede plözlich ihre Wendung verläßt, und mitten in einer Erzählung, oder Betrachtung, voll Affekt eine Person anredet. Sie ist von den Griechen apostrophe, welches Wegwendung bedeutet, genennt worden; weil in gerichtlichen Reden durch diese Figur die Rede von dem Richter abgewandt und an eine andre Person gerichtet wird. Bey folgender Stelle in Virgils Beschreibung von Italien:


Haec genus acre virûm, Marsos pubemque Sabellam

Assuetumque malo Ligurem, Volscosque verutos

Extulit: haec Decios, Marios, magnosque Camillos

Scipiadas duros bello et te maxime Caesar!1


empfindet man bey der, in den lezten Worten liegenden Anrede, einen Schlag, der plözlich die Aufmerksamkeit aufs neue reizt.

Die Anrede würket überhaupt schnell und stark; aber ihre Würkung ist nach des Redners oder Dichters Absicht sehr verschieden. Sie kann Mitleiden, Zorn, Verachtung, und jeden andern Affekt erweken. Sie muß aber sparsam gebraucht werden, damit sie ihre Kraft nicht verliere.

1Georg. L. II. 167.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 69.
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