Ausgang

[112] Ausgang. (Dramatische und epische Dichtkunst)

Diejenige Begebenheit, wodurch eine Handlung ihr völliges End erreicht, so daß nun nichts mehr geschehen kann, das zu dieser Handlung gehöret. In des Euripides Iphigenia in Aulis, ist die Verschwindung dieser Prinzeßin in dem Augenblik, da sie soll geopfert werden, und die Erscheinung einer Hindin, die an ihrer Stelle geopfert wird, der Ausgang der ganzen Handlung. Durch die Auflösung wird derselbe vorbereitet; nach ihm aber kann nichts mehr erwartet werden.

Daß jede, so wol epische, als dramatische Handlung einen Ausgang haben müsse, ist daraus offenbar; weil es unmöglich ist ein Zeuge einer interessanten Handlung zu seyn, und sich eher zu beruhigen, als bis man das Ende derselben gesehen hat. Durch die Verwiklung wird man in Erwartung gesezt, wie doch die Sachen zulezt auseinander gehen werden; der Ausgang befriediget sie, und läßt der Neugierde nichts mehr zu erwarten übrig. Ist der Ausgang vollkommen, so muß keine Frage mehr übrig bleiben, wie dieses oder jenes, das in der Handlung vorgekommen ist, noch ablaufen werde. Er muß eine befriedigende Antwort auf alle Fragen enthalten, die man zum voraus bey der Handlung gemacht hat: er ist der eigentliche Bereinigungspunkt, in welchem zulezt alle Vorstellungen über die Handlung zusammen treffen, und ist unvollkommen, wenn er nicht alle unsre Erwartungen über die Personen und Sachen befriediget.

Bey vielen Werken ist der Ausgang das, warum das ganze Werk verfertiget worden: er soll eine immer daurende Vorstellung von einer guten oder bösen Würkung eines Charakters, oder einer Unternehmung im Gemüthe zurüke lassen. In diesem Falle ist es von der höchsten Wichtigkeit, daß er wahrscheinlich und natürlich sey, weil sonst der ganze Zwek des Stüks verfehlt würde. In dem Kaufmann von London zielt alles darauf ab, zu zeigen, daß ein, im Grunde nicht böser Jüngling, durch Verführungen der Wollust zu großen Schandthaten verleitet werden, und zuletzt in die äußerste Schmach gerathen könne. Diese Vorstellung würde man nicht für wahr halten, sie würde in dem Gemüthe nicht haften, wenn der Ausgang erzwungen und unwahrscheinlich wäre. Wollte man durch eine dramatische Vorstellung die Zuschauer mit der Ueberzeugung nach Hause schiken, daß Standhaftigkeit und Muth, mit Rechtschaffenheit verbunden, Mittel sind, sich aus den schweeresten Verlegenheiten heraus zu helfen; so muß der Ausgang der Handlung die höchste Wahrscheinlichkeit haben, weil er den Beweis der Sache ausmachen soll. Man muß deswegen den Ausgang nicht auf zufällige Begebenheiten, oder auf gewaltthätige Veränderungen, sondern auf solche Auflösungen gründen, die in der Natur der Sachen liegen. Es wäre in solchen Fällen ungereimt, ihn auf ein Erdbeben, das kein Mensch erwarten konnte, auf den plötzlichen Tod einer Hauptperson, oder auf dergleichen Zufälle zu gründen. Es müssen in der Handlung selbst Ursachen liegen, die den Ausgang bewürken. [112] Dabey muß er etwas außerordentliches oder sonst stark rührendes haben, damit sein Eindruk unauslöschlich bleibe.

Er ist zwar nicht in allen Arten der Handlungen gleich wichtig. In demjenigen Lustspiel, wo es blos darauf ankommt, den Zuschauer ein paar Stunden zu ergötzen, hat der Dichter sich des Ausganges halber eben keine große Sorge zu machen. Sollte er ihm auch mißglüken, so hat er seinen Endzwek erreicht; der Zuschauer hat gelacht; und lacht vielleicht über den poßirlichen oder unnatürlichen Ausgang noch mehr. Deswegen hatten auch die mimischen Spiele der Römer keinen ordentlichen Ausgang. Mimi ergo, sagt Cicero,1 est jam exitus, non fabulae; in quo cum clausula non invenitur, fugit aliquis e manibus, deinde Scabella concrepant, aulaeum tollitur. Deswegen haben auch Plautus und Moliere, eben nicht allemal die größte Sorgfalt auf den Ausgang gewendet.

Es kommt hier auf die Absicht des Dichters an; aus dieser muß er urtheilen, wie wichtig oder gleichgültig der Ausgang sey, und worauf es dabey hauptsächlich ankomme. Wer den Tod des Cäsars vorstellen will, kann zur Absicht haben, einen Tyrannen zu schreken; sie kann aber auch seyn, die patriotischen Gesinnungen seiner Mörder im höchsten Lichte darzustellen. In beyden Fällen ist der Ausgang zwar einerley; aber seine besondre Behandlung muß bey jeder Absicht anders seyn. Es ist ganz unnöthig, sich hierüber umständlich einzulassen; genug daß der Dichter überhaupt aufmerksam gemacht werde, den Ausgang genau nach seiner Absicht einzurichten, und nach Beschaffenheit des lezten Eindruks, den er machen will, ihm die gehörige Lenkung zu geben. Im Trauerspiel ist er überhaupt weit wichtiger, als im Lustspiel, weil die tragische Handlung an sich wichtiger ist, und große Erwartung erweket.

Man hat als eine Regel festsetzen wollen, daß das Trauerspiel einen fatalen oder traurigen, das Lustspiel einen glüklichen Ausgang haben soll. So ist er auch gröstentheils. Allein zur Regel kann dieses nicht gemacht werden, weil der Ausgang der Absicht des Dichters gemäß seyn muß. Will er Schreken in den Gemüthern zurüke lassen, so muß er einen andern Ausgang suchen, als wenn er Zuversicht und Standhaftigkeit in die Herzen seiner Zuhörer bringen will.

So wie es uns verdrüßlich fällt, wenn der Ausgang einer Sache unsre Erwartung nicht völlig befriediget, so erwekt es Ueberdruß, wenn der Dichter dem wahren Ende der Handlung noch etwas überflüßiges anhängt; wenn er den starken Eindruk, den der Ausgang auf die Gemüther gemacht hat, durch unwichtige Nebensachen, oder durch Anmerkungen und Schlußreden, wieder schwächt. Beym Ausgang einer ernsthaften Handlung muß der Zuschauer voll Gefühl seyn; die Hauptpersonen müssen in der Lage, worin sie durch den Ausgang versezt worden, seine ganze Seele erfüllen. Dieses soll der Dichter wol bedenken, und sich sorgfältig hüten, irgend etwas einfließen zu lassen, was zu dieser Vorstellung unnütze ist.

Aus allem diesem erhellet, daß in ernsthaften Stüken der Ausgang, so ein kleiner Theil der Handlung er auch ist, mit der genauesten Ueberlegung müsse behandelt werden. Mit diesem Artikel ist der von der Auflösung zu vergleichen.

1Orat. pro Caelio.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 112-113.
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