Verhältnisse (Baukunst)

[1217] Verhältnisse. (Baukunst)

Mit den Verhältnissen in der Baukunst hat es eine ähnliche Bewandniß, als mit denen im menschlichen Körper. Da man einmal vollkommene Muster vor sich hat, so müssen die Verhältnisse derselben, als erwiesene Regeln angenommen werden. Sie sind zwar nicht so bestimmt, daß man nicht vielfältig, ohne den guten Geschmak zu beleidigen davon abweichen könnte, und würklich abgewichen wäre. Da aber zu befürchten ist, daß dergleichen Abweichungen nach und nach zu großen Ausschweifungen Gelegenheit geben möchten, so scheinet die Erhaltung des guten Geschmaks zu erfodern, daß die genaue Beobachtung der von den besten Baumeistern gebrauchten Verhältnisse, als ein unveränderliches Gesez angenommen werde. Denn wo man einmal die Regeln aus den Augen sezet, da wird dem schlechten Geschmak die Freyheit gelassen, nach und nach das Schöne zu vertreiben, wie aus unzähligen Beyspielen in der Baukunst kann dargethan werden.

Was ein alter Philosoph1 bey einer andern Gelegenheit angemerkt hat, kann auch hier angewendet werden. »Wenn du einmal vergessen hast, sagt er, daß der Schuh blos zur Verwahrung des Fußes gemacht ist, so hast du bald einen verguldeten Schuh, hernach einen von Purpur, und denn einen ausgeschnizten. Denn wenn man einmal das Ziel der Natur überschritten hat, so hat man auch keine Schranken mehr gegen die Ausschweifung.« Es scheinet also besser gethan zu seyn, wenn man durch eine genaue Befolgung der einmal vorgeschriebenen Verhältnisse, die Baukunst in dem Zustand läßt, worin sie von den größten Meistern gesezt worden ist, als daß man durch Abweichungen von denselben, den schlechten Geschmak die Freyheit lasse, das schon entdekte Schöne zu verderben.

Da von den allgemeinen Grundsäzen über gute Verhältnisse vorher gesprochen, in verschiedenen Artikeln über die Theile der Gebäude, auch ihre Verhältnisse angegeben, in dem Artikel Ordnung aber die wichtigsten Werke, woraus die Verhältnisse der alten Baumeister gelernt werden können, angezeiget worden, [1217] so enthalten wir uns hier fernerer Weitläuftigkeit über diese Materie.

1Epictetus.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1217-1218.
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