20. Kapitel
Sei gern einsam und still!

[37] 1. Suche dir oft eine schickliche Zeit aus, wo du ganz allein zu Hause sein kannst. Und dann überdenk das Gute, das du von der Hand Gottes empfangen hast. Laß liegen, was die Neugier reizt. Lies immer wieder in solchen Büchern, die dein Herz zu Buße aufschließen, lieber als in jenen, die deine Gedanken nach allen vier Winden zerstreuen. Wenn du dich von dem unnötigen Geschwätze, dem müßigen Umherlaufen und dem geistlosen Jagen nach Neuigkeiten und Gerüchten losmachst, so wirst du Zeit genug übrig haben, um heilsamen Betrachtungen obzuliegen. Die größten Heiligen sind dem geräuschvollen Umgang mit andern, so viel sie konnten, ausgewichen, und es war ihnen weit lieber, Gott im Stillen zu dienen.

2. Einer (Seneka) sagte sehr wahr: So oft ich unter Menschen gewesen bin, war ich beim Heimgehen weniger Mensch. Dies erfahren wir fast immer, wenn wir lange schwatzen. Es ist leichter, nichts zu reden, als reden und nicht fehlen. Es ist leichter, sich im Hause verborgen zu halten, als sich außer dem Hause rein zu bewahren. Wer also zum inneren, geistlichen Leben gelangen will, der muß sich mit Jesus von der Volksmenge entfernen.

Es kann niemand sicher unter dem Volke sich sehen lassen, der nicht gern daheim ungesehen lebt. Niemand kann sicher den Mund zum Reden auftun, als der ihn gern wieder schließt und geschlossen hält. Niemand kann sicher obenan stehen, als der gern untenan steht. Niemand kann sicher befehlen, als der gelernt hat, gehorsam zu sein.

3. Niemand hat sichere Freude, als der das Zeugnis des guten Gewissens für sich hat. Und selbst diese Sicherheit war bei den größten Heiligen immer mit der Furcht Gottes vereint. Und obgleich ihre große Tugend und Gnade bei Gott im hellen Glanze vor den Augen der Menschen leuchteten,[37] so nahm doch ihre Wachsamkeit und Demut deshalb nicht im geringsten ab. Nicht so die Gottlosen: ihre Sicherheit entspringt aus Stolz und vermessenem Selbstvertrauen und endet mit Selbstbetrug. Lieber! versprich dir doch in diesem Leben keine volle Sicherheit, wenn dich gleich die Leute für einen guten Ordensmann oder frommen Einsiedler halten.

4. Oft sind gerade die, welche im Auge der Menschen die besten waren, in die größte Gefahr geraten, weil ihr Vertrauen auf sich selbst viel zu groß war. Deswegen ist es für viele nützlicher, daß sie von Versuchungen nicht gänzlich frei bleiben, sondern öfter davon angegriffen werden; denn sonst möchten sie sich in das täuschende Gefühl der Sicherheit einwiegen lassen, oder in stolzen Einbildungen sich verlieren, oder nach äußeren Tröstungen laufen.

Wie rein und ruhig würde der sein Gewissen erhalten, der keiner vergänglichen Freude nachjagen würde und mit der Welt nichts mehr zu tun haben möchte! Und, wer Mut hätte, alle eitle Sorge abzuschneiden wie etwas Störendes, nur an das zu denken, was heilsam und göttlich ist, und sein ganzes Vertrauen auf Gott zu setzen, der müßte in einer unaussprechlichen Fülle des Friedens und der Ruhe wohnen.

5. Es ist doch kein Mensch einer himmlischen Tröstung wert, der sich nicht zuvor in der Schule der heiligen Reue fleißig geübt hat. Soll dein harter Sinn zerschlagen werden, so geh in deine Kammer und laß den Tumult der Welt nicht herein, wie die Schrift (Ps. 4, 5) sagt: Auf euerm Lager redet mit euerm Herzen. In der Zelle wirst du finden, was du draußen so oft verlierst. Wenn du oft darin bist, so wirst du gern darin sein. Gewöhne dich gleich im Anfange deiner Besserung, die Zelle fleißig zu hüten; dann wird sie nach und nach eine liebe Freundin und ein lieblicher Trost werden.

6. In Schweigen und Ruhe findet die andächtige Seele ihr Fortkommen, das lehrt sie, die Geheimnisse der Schrift verstehen. Da, da findet sie die Gnade der Tränen, mit denen sie sich alle Nächte reinwäscht, damit sie mit ihrem Schöpfer[38] desto vertraulicher umgehen kann, je weiter sie sich von dem Getümmel der Welt entfernt hat. Wer sich also von seinen Bekannten und Freunden zurückhält, zu dem nahen sich Gott und die heiligen Engel.

Besser ist es, verborgen zu sein, und für sein Heil zu sorgen, als auf dem Markte Wunder zu tun und dabei sein Heil zu versäumen. Es ist für einen Ordensmann lobenswert, selten auszugehen, sich nicht gern sehen zu lassen und auch andere nicht sehen zu wollen.

7. Wozu willst du auch sehen, was du nicht haben darfst? Sieh, die Welt vergeht, und alle Lust der Welt mit ihr. Die Sinnlichkeit lockt dich zum Ausgehen; aber, wenn das Stündchen vorüber ist, was bringst du denn wieder nach Hause als ein beschwertes Gewissen und ein zerstreutes Herz? Ein heiteres Ausgehen erzeugt oft ein trübes Heimgehen, und ein lustiger Abend einen traurigen Morgen. So ist's mit jedem fleischlichen Vergnügen. Es geht sanft und kosend ein, aber zuletzt beißt und tötet es. Was wolltest du auch anderswo sehen, das du im Grunde nicht zu Hause siehst? Sieh da Himmel und Erde, und alle Elemente, denn daraus ist doch alles gemacht.

8. Sage mir, kannst du anderswo etwas sehen, das dauerhaft ist unter der Sonne? Du glaubst vielleicht, du wirst deine Begierde zu sehen durch Sehen doch noch befriedigen können, aber du täuschest dich und wirst es nicht erreichen. Wenn du alle sichtbaren Dinge sehen könntest, was wäre es denn anders, als ein eitler Anblick. Erhebe deine Augen zu Gott in die Höhe und bete für deine Sünden und Versäumnisse. Laß dem Eitlen, was eitel ist, du aber forsche und sinne in dem Gesetze des Herrn.

Schließ deine Tür hinter dir zu und lade Jesus, deinen Geliebten, zu dir. Bleib bei ihm in der Zelle; denn draußen wirst du nirgends so viel Frieden finden. Wärest du nicht hinausgegangen, hättest du dir die Gerüchte nicht angehört, dein Herz wäre nicht so geschwind um seine Ruhe gekommen. Seitdem du jeden Tag Neues und wieder Neues[39] hören willst, schleicht sich fast immer mit den Neuigkeiten neuer Unfriede in dein Herz.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 37-40.
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