54. Kapitel
Von den verschiedenen Regungen der Natur und der Gnade.

[175] 1. Der Herr: Mein Sohn, habe fleißig acht auf die Regungen der Natur und der Gnade; denn sie laufen einander schnurstracks entgegen und sind doch so fein, daß sie fast nur das geistliche, erleuchtete Auge eines innerlichen Menschen unterscheiden kann. Wir haben zwar alle ein Verlangen nach dem Guten; jedermann macht etwas Gutes zum Vorwande seiner Reden und Handlungen; aber der Schein des Guten betrügt nur zu viele.

Die Natur ist listig, sie lockt, überlistet und bringt viele in ihre Fallstricke und hat sich selbst allemal zum Zwecke: die Gnade ist einfältig im Wandel, meidet allen Schein des Bösen, weiß nichts von Trug und Hinterlist und tut alles rein um Gottes willen, der auch ihr letzter Ruhepunkt ist.

2. Die Natur will nicht daran, sich selbst abzusterben, scheut allen Druck und allen Zwang, weiß nichts von Gehorsam[175] und freiwilliger Unterwürfigkeit: die Gnade treibt zur Selbstüberwindung, widersteht der Sinnlichkeit, liebt Unterwürfigkeit, kann jeden über sich leiden, eifert nicht nach freier Lebensweise, lebt gern unter Zucht und Ordnung, kennt keine Herrschsucht, will in all ihrem Wesen, Sein und Tun unter Gott leben und um Gottes willen auch jedem Menschen in Demut untertänig sein.

Die Natur arbeitet immer nur für ihren eigenen Vorteil und sieht scharf darauf, was ihr dieses und jenes für Zinsen abwirft: die Gnade sieht nicht auf das, was ihr vorteilhaft und bequem, sondern auf das, was vielen anderen heilsam ist.

Die Natur nimmt gern Ehrbezeigung und Weihrauch an: die Gnade stellt alle Ehre und allen Ruhm Gott treu anheim.

3. Die Natur bebt zurück vor allem, was vor Menschen Schande und Verachtung bringt: die Gnade freut sich, um des Namens Jesu willen Schmach zu leiden.

Die Natur hat es gern, wenn sie müßiggehen und körperliche Ruhe genießen kann: die Gnade kann nicht müßig sein und schafft immer mit Trieb und Lust zur Arbeit.

Die Natur strebt nach dem, was die Neugierde lockt und die Sinne durch den Zauber des Schönen reizt und hat Abscheu vor dem Gemeinen und Groben: die Gnade erfreut sich gern am Einfachen und Demütigen, sie scheut das Herbe nicht und sträubt sich nicht, ein abgenutztes Kleid zu tragen.

Die Natur blickt auf das Vergängliche, macht ein heiteres Gesicht bei irdischem Gewinn und ein finsteres bei zeitlichem Verlust, ein unbedeutendes Schmähwort kann sie erbittern: die Gnade sieht auf das Ewige, klebt nicht am Vergänglichen, kennt keine Verwirrung bei zeitlichem Verlust und keine Verbitterung bei harten Worten, weil sie ihren Schatz und ihre Freude in den Himmel, wo ihr nichts verloren geht, gesetzt hat.

4. Die Natur ist habsüchtig, hat mehr Freude daran, zu empfangen, als zu geben, liebt das Eigene und Private: die Gnade ist voll Güte und Gemeinsinn, meidet alles Besondere,[176] begnügt sich mit Wenigem und hält Geben für seliger als Nehmen.

Die Natur neigt zu erschaffenen Dingen, neigt zu Fleisch, zu Eitelkeit und zu törichtem Umherlaufen: die Gnade zieht zu Gott und zur Tugend hin, entsagt den Geschöpfen, flieht die Welt, haßt Fleischeslust, schränkt Umgang und Gesellschaft ein und errötet, wenn sie sich vor andern muß sehen lassen.

5. Die Natur hat gern äußere Tröstungen, die den Sinnen Freude machen: die Gnade aber will allein in Gott getröstet und im höchsten Gut, das über allem Sichtbaren ist, erfreut werden.

Die Natur tut alles aus Gewinn- und Selbstsucht, kann nichts umsonst tun, sucht für Wohltun das Nämliche oder etwas Besseres, oder Lob, oder Gunst einzuernten, und sieht es gern, wenn man ihre Handlungen und Geschenke wichtig findet: die Gnade sucht kein vergängliches Gut, sucht keinen Lohn als Gott allein und verlangt selbst den notdürftigen Lebensunterhalt nur soweit, als er ein Mittel werden kann, ewige Güter zu erobern.

6. Die Natur hat Freude daran, viele Freunde und Bekannte zu zählen, hält sich vieles zu gut auf adelige Abkunft und hohen Rang, lächelt den Mächtigen zu, schmeichelt den Reichen und spendet ihresgleichen Beifall: die Gnade liebt auch die Feinde und brüstet sich nicht vieler Freunde wegen, achtet Abkunft und Geburt, wenn nicht edlere Tugend dabei ist, für nichts Großes, hält es mehr mit den Dürftigen als mit den Reichen, will lieber mit dem Unschuldigen leiden, als mit dem Mächtigen Freude haben, freut sich mit Freunden der Wahrheit und nicht mit falschen Brüdern der Lüge, ermuntert die Guten zum schönen Wetteifer, immer besser und dem Sohne Gottes durch Tugend ähnlicher zu werden.

Die Natur bricht über jede Mängel und noch so geringe Lasten in laute Klagen aus: die Gnade kann Mangel und Last mannhaft ertragen.

7. Die Natur lenkt alles auf sich zurück, sie kämpft und[177] streitet nur für sich: die Gnade führt alle Dinge auf Gott als die Urquelle aller Dinge zurück, schreibt sich nichts Gutes zu, kennt keine stolze Anmaßung, zankt nicht, hält ihre Meinung nicht für besser als fremde Meinungen, sondern unterwirft sich in allem, was sie denkt und empfindet, der ewigen Weisheit und dem Spruche des göttlichen Richters.

Die Natur forscht nach Geheimnissen und hascht nach Neuigkeiten, will außen glänzen und durch die fünf Sinne Erfahrungen einsammeln, will gekannt sein und glänzende Taten verrichten, die Lob und Bewunderung schaffen: die Gnade, unbekümmert um alles, was durch Neuheit die Neugier reizt, vergißt es nicht, daß all das Neue ein Beweis des alten Verderbens ist, da es im Grunde nichts Neues und nichts Dauerhaftes unter der Sonne gibt.

Das ist also die Summe und der Kern alles dessen, was uns die Gnade lehrt: Die Sinne bezähmen, eitle Selbstgefälligkeit verschmähen, sich nicht selbst zur Schau tragen, vielmehr alles, was des Lobes und der Bewunderung wert sein mag, mit dem Schleier der Demut bedecken und in allen Dingen und Wissenschaften nichts anderes suchen, als die Frucht des Nutzens und Gottes Lob und Ehre. Die Gnade will nicht sich oder ihre Vorzüge gerühmt wissen; Gott möchte sie in allen seinen Gaben verherrlicht sehen, Gott, der alles aus der lautersten Liebe gibt.

8. Dies Gnade ist ein Licht, höher als alles Licht der Natur, ist eine besondere Gabe Gottes, ist das eigenste Siegel der Auserwählten, ist das rechte Unterpfand des ewigen Heils; sie hebt den Menschen über alles Irdische, daß er das Himmlische lieben kann, und schafft aus dem sinnlichen Menschen einen geistlichen. Eben deswegen wird diese Gnade dem Menschen desto reichlicher mitgeteilt, je mehr er die sinnliche Natur beherrscht und besiegt. Täglich erhält der innerliche Mensch neue Zuflüsse dieser Gnade, wodurch das Ebenbild Gottes in ihm eine herrlichere Gestalt gewinnt und nach dem heiligen Urbilde erneuert wird.[178]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 175-179.
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