Leiden

[2008] Leiden, verb. irreg. act. Imperf. ich litte, litt, Mittelw. gelitten, Imperat. leide.

1. Eigentlich, ein Übel, welches man nicht verhindern kann, mit Unlust empfinden. So wohl mit ausdrücklicher Benennung des Übels. Große Schmerzen leiden. Hunger und Durst, Frost und Hitze leiden. Noth, Mangel leiden. Gewalt, Verfolgung, Verspottung, Verachtung leiden. Unrecht leiden. Seine verdiente Strafe leiden. Als auch absolute, mit Verschweigung des Übels. Der Kranke leidet sehr, empfindet viele Schmerzen. Wenn ein Glied leidet, so leidet der ganze Körper. Wer leidet, muß verzeihen. Der leidende Theil. Von andern viel leiden müssen, Verfolgung, Verachtung, Ungemach. Mein Herz leidet bey dieser verstellten Zärtlichkeit mehr als du glaubst. Leiden und dafür danken ist die beste Hofkunst.

2. In weiterer Bedeutung, doch nur in einigen Fällen, mit Verschwindung des Nebenbegriffes der Unlust, so daß bloß der Begriff der Verursachung des Übels von außen übrig bleibet. Schiffbruch leiden. Schaden, Verlust, Nachtheil leiden. Ingleichen absolute. Dein Bruder würde bey diesem Handel leiden, d.i. zu kurz kommen, Nachtheil leiden. Ehre und Tugend leiden allerdings darunter. Bey einem solchen Betragen leidet die ganze Ordnung des Staates.

3. Etwas ohne Unlust, ohne Widerwillen empfinden. 1) Eigentlich. Das kann ich leiden. So warm du es leiden kannst. Ich kanns leiden, meinetwegen mag es geschehen. Das Schreyen kann ich unmöglich leiden. Er kann diesen Menschen nicht vor Augen leiden. Jemanden um sich leiden können, auch, ihn nicht ungern um sich haben. Im Grunde mag sie ihn wohl leiden können, nicht ungern sehen. In welcher Bedeutung auch das Mittelwort gelitten mit dem Zeitworte seyn gebraucht wird. Er ist in diesem Hause wohl gelitten, man siehet ihn daselbst gerne. Dieß macht bey aller Welt gelitten. 2) Figürlich, verstatten, der Sache selbst, den Umständen, den Absichten gemäß seyn. Dieser Wein leidet kein Wasser. So viel die Umstände leiden. Die Sache leidet keinen Verzug. Wenn Zeit und Ort es so gelitten hätten.[2008]

4. Im weitesten Verstande leidet dasjenige Ding, oder ist dasjenige Ding der leidende Theil, in welchem eine Veränderung von einem andern hervor gebracht wird; da denn leiden dem thun entgegen gesetzt ist. So ist das Eisen auf dem Amboße, oder auch der Amboß selbst, der leidende Theil, im Gegensatze des Hammers. Und in dieser Bedeutung ist in der Sprachkunst das Passivum oder die leidende Gattung der Zeitwörter, diejenige Gattung, da sie das Verhältniß bey einer von andern hervor gebrachten Veränderung bezeichnen, im Gegensatze der thätigen oder des Activi. Der leidende Gehorsam, in der Theologie, welcher gegen den beschließenden Willen Gottes, so wie der thätige gegen den befehlenden geübt wird.

5. Geschehen lassen, daß etwas sey oder geschehe, es nicht hindern; eine Fortsetzung der vorigen ersten und dritten Bedeutung. In diesem Lande wird kein Wucher gelitten. Dieses kann nicht gelitten werden. In den Preußischen Landen werden alle Religionen gelitten. Sollte ich das von ihm leiden?

6. * Sich leiden, geduldig seyn; eine im Hochdeutschen veraltete Bedeutung.


Ein Siech sich billig leiden soll,

Auf Hofnung daß ihm bald werd wohl, Narrenschiff bey dem Frisch.


Halt fest und leide dich, Sir. 2, 2. Leide dich als ein guter Streiter Jesu Christi, 2 Tim. 2, 3.

Anm. Bey dem Willeram lidan, in dem alten Gedichte auf den heil. Anno lidin, im Nieders. liden, im Schwed. lida, im Dän. lide. Ihre bemerket, daß daß Lat. latum des Zeitwortes fero hierher gehöret, so wie das Perf. tuli von dulden, ehedem dolen, ist, und fero, ferre, zu unserm bären, tragen, gehöret. Es war ehedem auch im gemeinen Sprachgebrauche von weiterm Umfange, und wurde, so wie das Griech. πασχειν, von einer jeden auch angenehmen Veränderung gebraucht. Ehedem hatte man auch ein Activum leiden, welches unmittelbar von Leid abstammete, und Leid, d.i. Unlust, verursachen bedeutete, und schon bey dem Notker leidon lautet.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 2008-2009.
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