Die Schamanen

[72] Die Schamanen: so nennt man in Sibirien, Kamtschatka und dem größten Theile der großen Tartarei und Mungalei die Priester, die zugleich Aerzte, Zauberer und Geisterbeschwörer sind, und das ohnehin sehr uncultivirte Volk aus Eigennutz und Herrschsucht in dem finstersten Aberglauben erhalten. Alle Völker jener Länder, unter die auch die Kalmücken und Samojeden gehören, sind, einige christliche und muhamedanische Nationen ausgenommen, durchgehends Heiden und haben verschiedene Religionen, die aber doch im Wesentlichen alle mit einander übereinstimmen und deßhalb zusammengenommen die Schamanische Religion [72] genannt werden. Diese ist nun voll von Aberglauben und sinnlichen Vorstellungen, trägt ganz das Gepräge der Rohheit nomadischer Völker an sich und hat ungefähr folgende Hauptlehren: Es giebt unzählig viele Götter, die theils in unerschaffenen geistigen Wesen, theils in Himmelskörpern, lebendigen und leblosen Geschöpfen, theils in Gegenständen, die durch Menschenhände hervorgebracht sind, und willkührlich geformten Puppen und Bilderchen bestehen (fast so wie bei den Fetischdienern – s. Fetisch); auch existiren gute und böse Geister. Der Mensch dauert nach dem Tode fort, aber in einem elenden und verabscheuenswürdigen Zustande, den weder gute Handlungen verbessern noch böse verschlimmern können; denn die Götter leben in stetem Nichtsthun und geben nicht im geringsten auf die Moralität der Sterblichen Achtung, die daher weiter für nichts, als für Opfer und Geschenke an gute und böse Götter zu sorgen haben, damit ihnen erstere großes Glück ohne ihre eigene Arbeit gewähren und letztere sie nicht verfolgen und beängstigen. Ihr ganzer Gottesdienst besteht deßwegen in nichts als Gebet, Gesängen, lächerlichen Ceremonien, Opfern und Geschenken: und ihre Priester, die Schamanen, welche gewöhnlich feine Betrüger sind, wissen sich durch Wahrsager-Orakel, vermeintliche Kämpfe mit den bösen Geistern, verstellte Verzuckungen und Erstasen beim gemeinen Haufen ein unumschränktes Ansehen zu geben; sie ordnen den Gottesdienst an, bedienen sich bei demselben gewöhnlich einer Menge von Zaubertrommeln und tragen ein mit Schellen behangenes Gewand. Diese Religion hat, da sie ganz aus den Ideen des ungebildeten Naturmenschen fließt, sehr viele Aehnlichkeit mit der Götterverehrung der uncultivirten Bewohner vieler Gegenden von Afrika, Amerika und Südindien; und man kann mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß sie in Asien eine der ältesten und allgemein war, späterhin aber durch die Aufklärungen des Zoroaster, Confuz, der Hindus und Muhamedaner im südlichen Asien verdrängt wurde und sich bloß in den nördlichen, für jede höhere Cultur beinahe unzugänglichen, Ländern erhielt. Sie ist auch nebst der Religion des Fohi (s. China), mit der noch andere vermischt wurden, die Mutter einer etwas [73] bessern, obgleich auch durch Aberglauben und Vielgötterei sehr verunstalteten, Religion, der Lamaischen oder Schigemunischen, die sich in China durch die Mandschu (s. diesen Art.) sehr verbreitet hat und selbst Hofreligion ist, außerdem aber in der großen Tartaren, der Mungalei, einem Theile Ostindiens und der Asiatischen Inseln, bei den Kalmücken, vorzüglich aber in Tibet (s. Tibet) herrscht. In letzterm Lande ist ihr eigentlicher Wohnsitz: und der oberste Lama (d. h. Oberpriester) hatte die ganze weltliche Herrschaft an sich gezogen, war auch in geistlichen Dingen unumschränkter Oberherr; allein seit 1792 ist den Lamaʼs die weltliche Oberherrschaft durch die Chinesen so gut als entrissen.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 5. Amsterdam 1809, S. 72-74.
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