Tibet (Thibet)

[171] Tibet (Thibet), ein ansehnliches Reich in Asien, gegen Osten an China, gegen Süden an Indostan, Ava etc. gegen Westen an Kaschemir, Nepkal, und gegen Norden an eine Sandwüste grenzend, durch welche letztere es von der Bucharei getrennt wird. Der südliche Theil wird Butan, der nördliche Tibet, im eigentlichen Sinne, genannt. Obgleich das Land dem Ackerbau nicht günstig ist, so ersetzen doch zahlreiche Heerden und reiche Bergwerke diesen Mangel gar sehr. Unter jenen sind hauptsächlich die Schafe eines der nützlichsten Thiere, da sie eine weiche Wolle haben und ihr Fleisch fast das einzige ist, was in Tibet gegessen wird; ja, man braucht diese Thiere auch zum Theil zum Lasttragen. Eine Gattung Ziegen, von denen die Shawls herrühren, ist noch schöner, als die Angola-Ziegen. In Ansehung der Mineralien hat Tibet sehr edle Metalle, namentlich Gold, in Menge, welches meistens in den Flußbetten als Staub gefunden wird. Aber gemünztes Geld hat man hier sehr wenig. Auf den Butanischen Gebirgen wird eine große Menge von Reiß, Tabak, Indigo gebaut.

[171] Tibet steht zwar nicht unmittelbar unter der Vollmacht des Chinesischen Kaisers; allein dieser hat doch den bedeutendsten Einfluß auf dieses Reich: und das Mißvergnügen der Einwohner darüber ist sehr bemerkbar. Die Tibetaner – ein leutseliges, gutes Volk – halten den heiligen Lama – Dalai Lama – für den unbefleckten Stellvertreter des Höchsten, und durch den Einfluß seiner Lehren werden sie eben zu jenen leutseligen, friedfertigen Menschen gebildet. Nach dem Dalai Lama sind die nächsten der Teshoo- (Tischu-) Lama und der Taranaut-Lama (dem vorzüglich die Kalmükischen Tartarn im Russischen Reiche unterworfen sind). Die Religion der Lamas verbietet ihnen, irgend etwas zu essen, was Leben gehabt hat. Die Priester heißen Gylongs: sie leben außerst keusch, und sind sehr reinlich, da das Baden mit unter die Pflichten der Lama-Religion gehört. Ihre Gebete und Gesänge verrichten sie mit unglaublichem Geschrei. Zwei religiöse Secten haben hier besonders (so wie sie sich in der ganzen Tartarei vertheilt haben) ihr Wesen, nehmlich: die gelbe (Gyllupka), welche, als die orthodore und geachteste, in dem größten Theile von Tibet herrscht, und zu welcher sich auch der Chinesische Kaiser bekennt; und die rothe (Schammar), welche ihren Priestern die Ehe erlaubt, die jenen untersagt ist. Zwischen beiden Secten (die den Namen von der Farbe ihrer Hüte haben) gab es ehedem große Kriege: die Schammar war die herrschende, wurde aber zuletzt von der Gyllupka überwunden; doch sollen sie jetzt völlig einig sein. – Die Haupt- und Residenz-Stadt des Teschu-Lama heißt Teschu-Lumbu, oder Lubrong, ist eigentlich ein großes Kloster, und besteht, außer den Tempeln, Grabmählern der Lamas und dem Palast des großen Lama, aus 3 bis 400 Häusern, worin die Gylongs wohnen. – Sie haben zweierlei Schrift: 1) Uchen (ungefähr was Sanskritta ist, in welcher auch ihre heiligen Bücher geschrieben sind; 2) Umim, die gemeine Schrift. – In Tibet herrscht die Vielmännerei; allein die Hohen, die Staatsbeamten etc. befassen sich gar nicht mit dem andern Geschlechte: das Kinderzeugen wird bloß den niedern Ständen überlassen. Uebrigens bestatten die Tibetaner, deren größte Landesplage die Pocken sind, [172] ihre Todten nicht, sondern sie legen sie, wenn sie sie nicht verbrennen, in die freie Luft, wo die Leichname den Raubvögeln und Hunden zur Speise dienen; bloß der Leichnam des Lama ist davon ausgenommen, welchen man sehr kostbar aufzubewahren pflegt. (Der letztere, welcher in China starb, liegt in einem massiv goldenen Sarge.)

Was die Geschichte dieses Landes betrifft, so waren die ältesten Bewohner von Tibet vermuthlich nomadische Horden von Mongolischem Stamme, und das Land erhielt seine Cultur, Religion etc. aus Indien in der zweiten Hälfte des Ersten Jahrh. nach Chr. Geb. 780 wurde dasselbe, wenigstens nach Tibetanischen Sagen, von China aus unterjocht, und 1232 bemächtigte sich ein Inländer des Reichs, bis endlich 1580 der Dalai-Lama dergleichen Machthaber zu entfernen wußte und die geistliche und weltliche Macht vereinigte, wovon die letzte durch einen Statthalter verwaltet wurde. Dieß dauerte bis ins 18te Jahrhundert, wo erst die Dsongaren (Kalmüken) sich 1717 Tibets bemächtigten, und diesen wieder der Chinesische Kaiser 1720 einen König setzte, bis dann 1752 auch der nordöstliche Theil Tibets mit China verknüpft wurde. So blieb Tibet bis 1792 in sehr blühenden und glücklichen Zustande; allein in diesem Jahre machten die Bewohner der Gebirge von Nipal einen Einfall in Tibet, und plünderten die hier aufgehäuften ungeheuern Schätze. Der Chinesische Kaiser ließ, da die Tibetaner sich selbst nicht vertheidigen konnten, ein Heer vorrücken; jene wurden geschlagen, und sie mußten nun um Frieden flehen, der ihnen dann auch gegen einen jährlichen Tribut an China und gegen Erstattung der geraubten Schätze zugestanden wurde. Seit dieser Zeit haben die Chineser einen militärischen Posten an der Grenze von Bengalen, und aller Verkehr mit Tibet und andern nördlichen Staaten hat nun aufgehört; ja, die argwöhnischen Chineser erlauben nicht einmahl den Hindus und Bengalern – noch weit weniger den Engländern – sich Tibet zu nähern.

Alle diese nähern Kenntnisse von Tibet haben wir dem Englischen Gesandten, Samuel Turner, zu verdanken, welcher im J. 1783 seine Gesandtschaftsreise [173] dahin antrat, und in einem Berichte darüber jene interessanten Nachrichten mittheilte.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 6. Amsterdam 1809, S. 171-174.
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