Pierre Corneille

[298] Pierre Corneille, der ältere und berühmtere, 1606 zu Rouen geboren, practicirte anfänglich daselbst mit wenig Glück als Sachwalter, dann aber betrieb er mit dem größten Fleiß die dramatische Dichtkunst, die in Frankreich noch sehr wenig ausgebildet worden war, und erwarb sich nicht nur im Lustspiel, sondern auch im Trauerspiel einen bleibenden Ruhm, wiewohl ihn in dem erstern Moliere verdunkelte. Bloß zwei seiner Landsleute verdienen, ihm an die Seite gesetzt zu werden, nehmlich Racine und Crebillon der ältere. Corneille ist Meister in Darstellung der Leidenschaften; an seinen Stücken, die man noch jetzt allgemein für Muster erklärt, tadelt man vorzüglich die ungleiche [298] Versification und Schreibart; denn nicht selten sinkt er aus der höchsten Begeisterung in prosaische Diction herab; auch ist seine Sprache noch etwas rauh. Dieser große Mann wurde wegen seiner Verdienste sehr beneidet, und seine Schriften wurden, auf Anstiften des Cardinals Richelieu, von der Französischen Akademie sehr streng beurtheilt und heftig getadelt. Dessen ungeachtet aber entschied die allgemeine Stimme des Publicums für ihren Werth; der Verfasser wurde selbst Mitglied, und in der Folge Decan der erwähnten Akademie, und starb in dieser Würde 1684. Seine glänzendste Laufbahn fing mit Herausgabe eines heroischen, aus der Spanischen Geschichte genommenen Schauspiels, Cid, an. – Thomas Corneille, des vorigen Bruder, 1625 zu Rouen geboren, wurde nach seines Bruders Tode Mitglied der Französischen Akademie, und 1701 Mitglied der Akademie der Inschriften, war im Alter ganz blind, und starb 1709 zu Andeli in der Normandie. Er war nicht nur ein großer Gelehrter, sondern auch ein schätzbarer Schriftsteller im Fache der schönen Literatur, und seine Trauerspiele sind ebenfalls vorzüglich. Beide Brüder gaben ein seltnes Beispiel der Eintracht: denn ob sie gleich um den Beifall des Publicums wetteiferten; so wohnten sie doch beständig beisammen, heiratheten zwei Schwestern, und nie trübte ein Zwist ihre häusliche Glückseligkeit, die durch den trefflichen Charakter beider großen Männer sehr erhöht wurde.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 1. Amsterdam 1809, S. 298-299.
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