Corneille

[287] Corneille (spr. -näj), 1) Pierre, berühmter franz. Dramatiker, geb. 6. Juni 1606 in Rouen (wo sein Vater das Amt eines maître des eaux et forêts bekleidete), gest. 1. Okt. 1684 in Paris, erhielt seine Schulbildung bei den Jesuiten, studierte die Rechte, verzichtete aber auf die Advokatur. Seinem beifällig aufgenommenen Jugendstück »Mélite« (1629) ließ er »Clitandre« und »La Veuve« folgen, und durch das letztere Drama gewann er Beziehungen zu Richelieu, der ihn unter seine Hofdichter aufnahm und ihm eine Pension gewährte. Der geringe Erfolg seiner nach Seneca und Euripides gearbeiteten Tragödie »Médée« (1635) führte ihn zum Lustspiel zurück; er dichtete die Zauberposse »L'illusion comique«, die 30 Jahre lang Kassenstück blieb. Aber erst mit dem »Cid«, den C. 1636 nach einem spanischen Original des Guillen de Castro bearbeitete, schuf er ein Werk, das trotz der gehässigen Kritik seiner Feinde und Neider (darunter Richelieu) allgemeine Bewunderung erregte, dergestalt, daß die Franzosen von ihm den Anfang des goldenen Zeitalters ihrer Literatur datieren (vgl. Hunger, Der Cidstreit, Leipz. 1891; Gasté, La querelle du Cid, Par. 1899). Fast auf gleicher Höhe stehen die historischen Tragödien: »Horace« (1640), »Cinna« (1640) und »Polyeucte« (1643); die Charakterkomödie »Le Menteur« (1642, nach Alarcon) halten die Franzosen für den Ursprung des höhern Lustspiels, obwohl C. in diesem Stück, besonders aber in der »Suite du Menteur« (1643, nach Lope), mit Ausnahme des Stils in die Fehler seiner Jugendperiode zurückfiel. Zu dieser seiner Hauptperiode gehören noch die Stücke: »La mort de Pompée« (1642), »Rodogune« (1641), »Théodore« (1645), »Héraclius« (1647), »Andromède« (1650), »Don Sanche d'Aragon« (1650), »Nicomède« (1651) und »Pertharite« (1652). Von Stück zu Stück aber war sein Ruhm gesunken, und als das letzte gänzlich durchfiel, wandte er sich mißgestimmt vom Theater ab und vollendete seine Übersetzung des Thomas a Kempis. Erst das Zusammentreffen mit Molières Truppe und das Drängen einflußreicher Gönner (Fouquet) bewogen ihn, zum Theater zurückzukehren; doch errangen nur »Oedipe« (1659), »Sertorius« (1662) und »Othon« (1664) einigen Erfolg; die andern (»La toison d'or«, »Sophonisbe«, »Agésilas«, »Attila«, »Tite et Bérénice«, »Psyché«, »Pulchérie« und zuletzt »Suréna«, 1674) ließen den großen Dichter nicht wiedererkennen. Obgleich er schon 1647 in die Akademie gewählt war, siedelte er doch erst 1662 mit seiner Familie und seinem Bruder Thomas, mit dem er immer zusammenwohnte, nach Paris über. Seine letzten Lebensjahre waren selbst durch Nahrungssorgen verbittert, da ihm seine schon lange unregelmäßig gezahlte Pension 1674 ganz entzogen worden war, und als sich endlich durch Boileaus Eintreten sein Schicksal günstig zu gestalten schien, starb er. Wieviel er auch dem italienischen und spanischen Theater verdankte, sein Bestreben ging dahin, die Bühne von fremdem Einfluß zu befreien und sie national zu machen, und in gewissem Sinne hat er sein Ideal erreicht. Er sprach zuerst wieder von Ehre, Ruhm, von Pflichtgefühl und Vaterlandsliebe. Seine Natur neigte zur Klarheit und logischen Schärfe, woher auch seine Vorliebe für den[287] kraftvollen, pathetischen Stil, für das Einfache und Erhabene. In seiner glänzenden Dialektik liegt aber auch seine Schwäche; seine Helden gefallen sich zu sehr in langen Reden und gesuchten Sentenzen; die Liebe seiner Heldinnen ist wortreich und spitzfindig und kommt aus dem Kopf, statt aus dem Herzen; die Liebe weicht der Pflicht, die Leidenschaft der Vernunft; statt der Taten bietet er langatmige Plaidoyers. Kurz, seinen Figuren fehlt die psychologische Entwickelung, und am schwächsten ist die Anlage der Stücke. C. hat außerdem lyrische Gedichte, Epigramme, Sonette, Madrigale, Oden, Episteln (an den König), metrische Übersetzungen etc. geschrieben und die eigentümliche Theorie des französischen klassischen Theaters in seinen »Examens« und »Discours du poème dramatique, de la tragédie, des trois unités« behandelt. Von allen Ausgaben seiner Werke ist die wichtigste die von C. selbst durchgesehene von 1682. Voltaires Kommentar (1764) wird dem Dichter nicht gerecht; die beste Ausgabe ist die von Marty-Laveaux (1862–1868, 12 Bde.; neue Aufl. 1889ff.), welche alle Varianten nebst Anmerkungen, eine Biographie und ein Lexikon enthält. Eine deutsche Übersetzung von J. I. Kummer erschien in Gotha 1779ff. 1834 wurde dem Dichter zu Rouen eine Bildsäule errichtet. Vgl. Guizot, C. et son temps (7. Aufl., Par. 1880); Taschereau, Histoire de la vie et des ouvrages de P. C. (3. Aufl. 1869); Saint-René Taillandier, C. et ses contemporains (1864); Levallois, C. inconnu (1876); Hémon, Le théâtre de C. (1886–1887, 4 Bde.); Bouquet, Points obscurs et nouveaux de la vie de C. (1888); Faguet, Corneille (6. Aufl. 1892); Liéby, Corneille (1892); Lanson, Corneille (1898); I. Böhm, Die dramatischen Theorien P. Corneilles (Berl. 1901); Huszar, P. C. et le théâtre espagnol (Par. 1903); Picot, Bibliographie Cornélienne (1875).

2) Thomas, dramat. Dichter, Bruder des vorigen, geb. 20. Aug. 1625 in Rouen, gest. 8. Dez. 1709 in Andelys, genoß dieselbe Erziehung wie sein Bruder, dessen Schwägerin er heiratete, wurde Advokat, trat dann zuerst auf mit einem Lustspiel: »Les engagements du hasard« (1647), und brachte nach und nach an 40 Stücke (Komödien nach spanischen Vorbildern, Tragödien und Opern) zur Ausführung, welche die Fehler seines Bruders in verstärktem Maß aufweisen, ohne die Kraft und Erhabenheit desselben zu erreichen. Eine gewisse Regelmäßigkeit und nüchterne Eleganz wird ihnen nachgerühmt. Seine erste Tragödie: »Timocrate« (1656), fand eine so beifällige Aufnahme, daß sie 6 Monate hindurch ohne Unterbrechung gespielt werden konnte. »Ariane« (1672) wurde von Voltaire für seine beste Tragödie erklärt. Thomas C. hat sich auch als Sprachforscher Verdienste erworben; er schrieb außer einer Ovid-Übersetzung und einigen prosaischen Schriften: »Observations sur les remarques de Vaugelas« (Par. 1687, 2 Bde.). Die vollständige Ausgabe seines »Théâtre« ist die von 1722 (5 Bde.), eine neue Ausgabe besorgte E. Thierry (1880). C. wurde 1685 an Stelle seines Bruders in die Akademie aufgenommen. Vgl. Reynier, Thomas C., sa vie et son théâtre (Par. 1893).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 287-288.
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