Hunger

[656] Hunger (Fames, Inanition), das Gefühl, durch welches das Bedürfnis nach Nahrung zum Bewußtsein gebracht wird. Die Empfindung des Hungers ist anfangs nicht unangenehm (Appetit, Eßlust), sie wird es erst, wenn man das Nahrungsbedürfnis nicht befriedigt; es stellt sich dann ein Gefühl von Mattigkeit, Muskelschwäche und schmerzhafter Druck im Magen ein. Später nehmen diese Empfindungen zu; länger dauernder H. kann zu großer Aufregung, Irrereden (Inanitionsdelirien), selbst Tobsucht führen. Die Schwäche steigt dabei aufs höchste, die Muskeln versagen ihren Dienst, die meisten Sekretionen vermindern sich oder hören auf, die Schleimhäute werden trocken. Hungernde Tiere werden so stumpf, daß sie schließlich vorgehaltenes Futter gar nicht mehr aufnehmen, sondern unter zunehmender Schwäche zugrunde gehen. Die ersten Empfindungen des Hungers, besonders die lästigen Gefühle im Magen, werden zweifellos durch die Leere des Magens verursacht und gehen von dessen Empfindungsnerven aus. Sie werden durch Füllung des Magens selbst mit unverdaulichen Stoffen (s. Erdeessen) beseitigt. Die später auftretenden Empfindungen müssen als Folge allgemeiner Veränderungen, als Ausdruck des Stoffbedürfnisses des Gesamtorganismus aufgefaßt werden. Auf welchem Wege, durch welche Nervenbahnen dies Bedürfnis zum Bewußtsein gelangt, ist nicht bekannt. Der Stoffwechsel besteht im Hungerzustand fort, aber mit sehr verminderter Energie, so daß die Ausscheidung von Stickstoff und Kohlenstoff auf die Hälfte bis ein Drittel sinkt. Im ernährten Körper regelt sich die Stoffabgabe nach der Einnahme; beim Hungern tritt das Körpergewebe (zuerst das abgelagerte Fett und hierauf das Organeiweiß) an die Stelle der zugeführten Nahrung, bis die Grenze der Existenzfähigkeit des auf diese Weise konsumierten Körpers erreicht ist. Der Tod tritt ein, wenn das Körpergewicht auf drei Fünftel seines ursprünglichen Wertes gesunken ist. Die Frist aber bis zum Tod ist stets abhängig von der Individualität des Hungernden, besonders auch von seinem Fettvorrat. Bei Kindern und jungen Tieren ist der Stoffwechsel lebhafter, sie können demnach das Hungern nicht so lange ertragen wie Erwachsene. Kräftige, wohlgenährte Hunde erliegen dem Hungertod erst nach 4–6 Wochen, der Mensch nach etwa 12 Tagen; bei Genuß von Wasser erträgt er den H. viel länger; bei Melancholie hat man erst nach 41 Tagen den Tod eintreten sehen. Nach dem Vorgang des amerikanischen Arztes Tanner haben in neuester Zeit mehrere Personen 40 Tage und länger angeblich aller Speise sich enthalten (Hungerkünstler). Pferde vermögen 8–15 Tage den H. ohne üble Folgen zu ertragen, wenn sie an Wasser keinen Mangel leiden. Die kaltblütigen Wirbeltiere, namentlich die Amphibien und Reptilien, hungern sehr lange, oft ein ganzes Jahr, doch ertragen sie bei höherer Temperatur den Futtermangel viel weniger leicht als in der Kälte. Am Gewichtsverlust hungernder Tiere sind die verschiedenen Organe sehr ungleich beteiligt. Während Gehirn und Herz nur eine geringe Einbuße erleiden, zeigt das Fettgewebe eine bedeutende Einschmelzung; ganz besonders verlieren die Muskeln an Masse. Wenn der Lachs zur Erlangung seiner Geschlechtsreife in die Flüsse hinaufsteigt, bleibt er gänzlich ohne Nahrung; dabei nehmen aber seine Geschlechtsorgane mächtig an Masse zu, das Material dafür liefert die Muskulatur. S. auch Ernährung. Vgl. Luciani, Das Hungern. Studien und Experimente am Menschen (deutsch, Hamb. 1890).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 656.
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