Guizot

[512] Guizot (spr. gíso), François Pierre Guillaume, hervorragender franz. Staatsmann und Schriftsteller, geb. 4. Okt. 1787 in Nîmes (Gard) von protestantischen Eltern, gest. 12. Sept. 1874 auf seinem Landgut Val Richer in der Normandie. Sein Vater, der Advokat war, starb in der Schreckenszeit 8. April 1794 unter der Guillotine, und der Knabe G. begleitete hierauf seine Mutter nach Genf, wo er auf dem Gymnasium eine gründliche Bildung erhielt. 1805 begab er sich nach Paris, übernahm 1807 eine Hauslehrerstelle, und nachdem er sich 1812 mit der 15 Jahre ältern vornehmen und sehr einflußreichen Schriftstellerin Pauline de Meulan verheiratet, wurde er zum Professor der Geschichte an der schönwissenschaftlichen Fakultät zu Paris ernannt. Als Schriftsteller hatte er sich schon früher versucht mit einer Ausgabe von Girards »Nouveau dictionnaire universel des synonymes de la langue française« (1809, 2 Bde.; 8. Aufl. 1874) sowie den Werken: »De l'état des beaux-artsen France et du Salon de 1810« (1811), »Vie des poètes français du siècle de Louis XIV« (1813, Bd. 1), »Annales de l'éducation« (1811–15, 6 Bde.) und der Übersetzung von Rehfues' »Spanien im Jahr 1808« (1811, 2 Bde.). Nach Napoleons Rückkehr von Elba begab er sich nach Gent an den Hof Ludwigs XVIII., wurde nach der zweiten Restauration zum Generalsekretär der Justiz, bald darauf zum Requetenmeister und Staatsrat befördert und gründete mit Decazes, Royer-Collard und seinen andern[512] politischen Freunden die Partei der »Doktrinäre« (s. d.). Gleichzeitig mit dem Ministerium Decazes 1820 entlassen, trat G. wieder als Lehrer der neuern Geschichte bei der Faculté des lettres ein. Seine von 1820–1822 gehaltenen Vorlesungen sind enthalten in der »Histoire des origines du gouvernement représentatif« (1851, 2 Bde.; 4. Aufl. 1880). Außerdem veröffentlichte er damals einige kleinere Schriften: »Du gouvernement représentatif et de l'état actuel de la France« (4. Aufl. 1821); »Des conspirations et de la justice politique« (1820); »Les moyens de gouvernement et d'opposition dans l'état actuel de la France« (1821); »Sur la peine de morten matière politique« (1822). Zugleich lag er im offenen Kampf mit den reaktionär-klerikalen Bestrebungen der Regierung und wirkte ihnen als Präsident der Gesellschaft »Aide-toi, et le Ciel t'aidera«, die damals zum Schutz der Unabhängigkeit der Wahlen gegründet war, auf alle Weise entgegen. Seine Vortrage von 1828–30 erschienen u. d. T.: »Cours d'histoire moderne« (1828–30, 6 Bde.), wozu die »Histoire de la civilisationen France depuis la chute de l'empire romain jusqu'à la révolution française« (1828–30, 4 Bde.; 14. Aufl. 1886) und die als Einleitung dienende »Histoire de la civilisationen Europe« (1828, 19. Aufl. 1883; deutsch, Stuttg. 1844) gehören. In Verbindung mit mehreren Gelehrten besorgte er die »Collection des mémoires relatifs à l'histoire de France depuis la fondation de la monarchie française jusqu'an XIIIe siècle« (1823 ff., 31 Bde.) und die »Collection des mémoires relatifs à l'histoire de la révolution d'Angleterre« (1823 ff., 26 Bde.), versah viele Werke andrer, z. B. Letourneurs Übersetzung des Shakespeare (1821, 12 Bde.; neueste Ausg. 1869), mit Einleitungen und Anmerkungen und fügte Mablys »Observations sur l'histoire de France« (1823, 3 Bde.) den »Essai sur l'histoire de France« (1824, 12. Aufl. 1868) als vierten Band bei. Seine »Histoire de la révolution d'Angleterre«, 1. Abt.: »Histoire de Charles Ier, 1625–1649« (1828, 2 Bde.; 12. Aufl. 1881), ist das bedeutendste Werk der sogen. pragmatischen Schule; ihr schließen sich an die unten genannten Werke über die beiden Cromwell. 1828 gründete G. die »Revue française«, die von der Julirevolution unterbrochen u. erst 1837 auf kurze Zeit wieder aufgenommen wurde.

Im Januar 1830 trat G. in die Deputiertenkammer, wo er zum linken Zentrum gehörte; doch begann seine eigentliche staatsmännische Tätigkeit erst mit der Julirevolution. Er war es, der den Protest gegen die Juliordonnanzen verfaßte und so den ersten Anstoß zum Ausbruch der Revolution gab. Am 30. Juli ward er provisorischer Minister des öffentlichen Unterrichts, und 11. Aug. ernannte ihn Ludwig Philipp zum Minister des Innern. Da er jedoch die Politik Laffittes nicht billigte, nahm er schon im November 1830 mit den übrigen Doktrinären seine Entlassung. Nach Casimir-Périers Tode trat er 11. Okt. 1832 ins Kabinett Soult als Minister des öffentlichen Unterrichts (bis 15. April 1837). Er wirkte verdienstvoll für die Verbesserung der Unterrichtsanstalten, namentlich der Primarschulen, durch das Gesetz vom 28. Juni 1833 und veranlaßte die Wiederherstellung der von Napoleon 1803 aufgehobenen 5. Klasse des Instituts, der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften. G. wurde 1839 an Sebastianis Stelle als Gesandter nach London geschickt, wo er aufs wohlwollendste empfangen wurde, aber den gegen Frankreichs orientalische Politik gerichteten Vertrag der vier Großmächte vom 15. Juli 1840 nicht hindern konnte. Am 28. Okt. 1840 übernahm er nach Thiers' Rücktritt im neugeschaffenen Ministerium Soult das Portefeuille des Auswärtigen und ward seit Soults Rücktritt im September 1847 der offizielle Chef dieses Kabinetts, das bis zur Februarrevolution von 1848 am Ruder blieb und, durch sein ganzes Verfahren in den innern wie in den äußern Angelegenheiten die persönliche Politik Ludwig Philipps repräsentierend, nicht wenig dazu beitrug, die konstitutionelle Monarchie in Mißkredit zu bringen und den endlichen Sturz der Julidynastie herbeizuführen. In der Ausführung seiner systematischen Repressivpolitik bewies er sich halsstarrig, ja zuletzt geradezu verstockt. Kräftigen Geistes, war er doch unfähig, die Menschen und die Zustände richtig zu verstehen, und dabei von unerträglichem Selbstgefühl und Unfehlbarkeitsdünkel erfüllt. In der auswärtigen Politik führte er durch die Intrigen bei den spanischen Heiraten die Entfremdung mit England herbei und erregte durch die Unterstützung der Jesuiten in der Schweiz die Unzufriedenheit der Liberalen. Die Wahlreform lehnte er hartnäckig ab und rief dadurch die Bewegung von 1848 hervor, die sich wegen seiner allgemeinen Unpopularität zuerst gegen seine Person richtete. Am 24. Febr. 1848 mußte er aus Paris flüchten und lebte seitdem zu London. Nachdem er im November 1849 nach Paris zurückgekehrt war, wirkte er hier mit den Häuptern der monarchischen Partei gemeinsam für eine Fusion der Bourbonen und Orléans. Der Staatsstreich vom 2. Dez. 1851 steckte dieser seiner Tätigkeit ein Ziel und veranlaßte ihn, wieder nach England zu gehen. Später kehrte er in sein Vaterland zurück und ward im Januar 1854 Präsident der Pariser Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften. An den Fusionsverhandlungen 1873 hatte er heimlich einen bedeutenden, aber erfolglosen Anteil. Seine immer starrsinnigere Orthodoxie veranlaßte ihn, in der protestantischen Kirche Frankreichs eine beklagenswerte Spaltung herbeizuführen, indem unter seinem Einfluß die Synode 1874den Ausschluß der liberalen Protestanten beschloß.

So gerechten Angriffen seine ministerielle Tätigkeit ausgesetzt gewesen ist, so bereitwillige Anerkennung haben von allen Seiten seine schriftstellerischen Leistungen gefunden. Durch die Gründung der Comités historiques, durch Anregung zur Herausgabe wichtiger Quellensammlungen sowie durch seine eignen zahlreichen Schriften hat er sich um Beförderung der historischen Studien in Frankreich, zumal auf dem Gebiete der Institutionen und der Kulturgeschichte, die größten Verdienste erworben. Leiden auch seine Geschichtswerke an teleologisch-pragmatischem Doktrinarismus, ist doch die große Kunst der Komposition und Darstellung unbestritten. Im Auftrag der Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika bearbeitete er die Geschichte Washingtons nach dessen hinterlassenen Papieren in »Vie, correspondance et écrits de Washington« (1839–40, 6 Bde.), wofür sein Bildnis im Sitzungssaal der Repräsentantenkammer zu Washington angebracht wurde. Als schriftstellerische Produkte seiner Muße seit der Februarkatastrophe sind hervorzuheben die politischen Schriften: »De la démocratieen France« (1849; deutsch, Leipz. 1849); »Histoire de Washington et de la fondation de la république des Etats-Unis« (3. Aufl. 1850; deutsch, das. 1850); »Pourquoi la révolution d'Angleterre a-t-elle réussi?« (1850; deutsch, das. 1850); »Monk, chute de la république et rétablissement de la [513] monarchie en 1660« (1851, 6. Aufl. 1862; deutsch, Wien 1852), mit der Fortsetzung: »Études biographiques sur la révolution d'Angleterre« (1851, neue Ausg. 1862); »Histoire de la république d'Angleterre et d'Oliver Cromwell, 1649–1658« (1854, 2 Bde.; 6. Aufl. 1871), »Histoire du protectorat de Richard Cromwell« (1856, 5. Aufl. 1869), beides Fortsetzungen seiner Geschichte der Revolution (s. oben) und mit dieser in Bülaus »Historischer Hausbibliothek« deutsch erschienen; »Nos espérances« (1855); »La Belgique en 1857« (1857) und endlich die wertvollen »Mémoires pour servir à l'histoire de mon temps depuis 1814 jusqu'an 22 février 1848« (1858 bis 1867, 8 Bde.); die philosophischen: »Études sur les beaux-arts« (1851); »Méditations et études morales« (1852, 3. Aufl. 1882; deutsch, Leipz. 1864); »Méditations sur l'essence de la religion chrétienne« (1864; deutsch, das. 1864); »Corneille et son temps« (1852, 6. Aufl. 1880); »Shakespeare et son temps« (1852); »L'amour dans le mariage« (1855, 11. Aufl. 1879); »Méditations sur l'état actuel de la religion chrétienne« (1866); »Méditations sur la religion chrétienne dans ses rapports avec l'état actuel des sociétés et les esprits« (1868); die »Mélanges biographiques et littéraires« (1868) u. »Mélanges politiques et historiques« (1869), endlich die biographische Schrift: »Le duc de Broglie« (1872). Von der »Histoire de France, racontée à mes petits enfants« (bis 1789 reichend, 1870–75, 5 Bde.) wurde der letzte Band durch seine Tochter Mad. de Witt herausgegeben, die auch die Herausgabe der Fortsetzung bis 1848 in 2 Bänden und der »Histoire d'Angleterre racontée à mes petits-enfants« (1877–78, 2 Bde.) besorgte. Vgl. Mad. de Witt: M. G. dans sa famille et avec ses amis (1880), Lettres de M. G. à sa famille et à ses amis (1884) und Les années de retraite de M. G., lettres à M. et Mme Charles Lenormant (1902); Jules Simon, Thiers, G., Rémusat (1885); Thureau-Dangin, Histoire de la monarchie de juillet, besonders Bd. 5 (1889); kleinere Biographien von Crozals (1893) und Bardoux (1894) und über Guizots Mutter: Véga, Madame G., la nièce d'un grand homme d'État (1901).

Guizots erste Gemahlin, Pauline de Meulan, geb. 2. Nov. 1773 in Paris, gest. daselbst 1. Aug. 1827, schrieb einige Romane, wie »Les contradictions« und »La chapelle d'Ayton«, und Erzählungen für Kinder u. d. T. »Les enfants« (1812, oft aufgelegt). Ihre zahlreichen Jugendschriften verraten mehr Verstand als Gemüt. Ihr Hauptwerk sind die »Lettres de famille sur l'éducation« (Par. 1827, 2 Bde.; 6. Aufl. 1881). Auch ihrem Gatten leistete sie literarische Beihilfe. Ch. de Rémusat gab ausführliche biographische Notizen von ihr als Einleitung zu ihren nachgelassenen und von G. herausgegebenen »Conseils de morale« (1828, 2 Bde.). – Guizots zweite Gattin, Elisa Dillon, eine Nichte seiner ersten Gattin, geb. 30. März 1804, gest. 11. März 1833, machte sich ebenfalls durch Herausgabe von Erzählungen in Prosa und Versen und einer Jugendschrift: »Caroline« (neue Aufl. 1840), bekannt. – Guizots Tochter, geb. 1829, Frau de Witt, hat sich durch vortreffliche Bearbeitungen der alten Chronisten, besonders des Froissart, verdient gemacht und historische Romane geschrieben. – Sein Sohn Guillaume, geb. 1833, gest. 1892 als Professor am College de France, schrieb: »Ménandre. Étude sur la comédie et la société grecques« (1855), »Alfred le Grand«« (3. Aufl. 1864), »Montaigne« (aus dem Nachlaß, 1899) u. a.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 512-514.
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