Herzen

[248] Herzen, 1) Alexander, russ. Publizist, geb. 25. März 1812 in Moskau als Sohn eines russischen Edelmanns Jakowlew und der Luise Haag aus Stuttgart, gest. 21. Jan. 1870 in Paris, wurde, als er in Moskau studierte, 1834 mit einigen Genossen verhaftet, weil sie einer Saint-Simonistischen Gesellschaft angehören sollten, und in Wjatka interniert. Hier bei der Regierung arbeitend, zeichnete er sich aus und wurde nach Wladimir, 1839 nach Moskau, endlich nach Petersburg versetzt. Indes einer freien Äußerung wegen wurde er als Regierungsrat nach Nowgorod versetzt. 1842 schied er aus dem Staatsdienst, beschäftigte sich in Moskau mit philosophischen Studien und veröffentlichte unter dem Pseudonym Iskander geistvolle Schriften, auch zwei Romane, deren erster im dritten Bande von Wolfsohns »Rußlands Novellendichter« (Leipz. 1851) u. d. T.: »Wer ist schuld?« deutsch erschien. Nach dem Tode seines Vaters (1846) begab sich H. nach Deutschland, von da nach Italien und Frankreich. Seine beiden ersten, Aufsehen erregenden Werke waren: »Vom andern Ufer« und »Briefe aus Italien und Frankreich«, die anonym und zuerst deutsch (von F. Kapp, Hamb. 1850) erschienen. Aus Paris ausgewiesen, gründete er 1851 in London im Dienst gegen die russische Autokratie eine Druckerei und gab eine Zeitschrift: »Kolokol« (»Die Glocke«), heraus. Er veröffentlichte ferner. »Die Entwickelung der revolutionären Ideen in Rußland« (1851); »Das getaufte Eigentum« (d. h. die Leibeignen, 1853); »Gefängnis u. Verbannung« (1851); »Rußlands soziale Zustände« (auch deutsch, Hamb. 1854). Zugleich gab er moderne russische Schriftsteller, wie Puschkin, Lermontow, Marlinskij u. a., ohne Zensurlücken heraus. Seine Schriften, namentlich die »Glocke« (seit 1857), gelangten trotz strengen[248] Verbots nach Rußland; nach der Thronbesteigung Alexanders II. beherrschte er fast die öffentliche Meinung Rußlands. Er schien allwissend zu sein und Mitarbeiter in der Nähe des Thrones zu haben. Das schien erwiesen, als er 1859 die unzweifelhaft echten, ängstlich gehüteten »Mémoires de l'impératrice Catherine, écrits par elle-même« (deutsch, Hann. 1859), herausgab. Seine politische Tätigkeit wurde in Rußland beifällig aufgenommen, da er die Schattenseiten der offiziellen und sozialen Verhältnisse darlegte. Als sich aber H. der anarchistischen Partei näherte, sank sein Ansehen, und vollends verdarb er es mit den Russen, als er die polnische Revolution für den Anfang der Erhebung der slawischen Völker erklärte. Seit 1863 lebte er bald in Genf, wo von 1865–68 auch der »Kolokol« erschien, bald in Brüssel. H. unterstützte stets zahlreiche Flüchtlinge. Eine Gesamtausgabe seiner Werke in russischer Sprache erschien in Basel 1875 ff. (10 Bde. und 1 Band nachgelassener Werke). In deutscher Übersetzung erschien noch: »Aus den Memoiren eines Russen« (Hamb. 1855–56, 4 Bde.) und später eine Erzählung: »Die Pflicht vor allem« (Dresd. 1894). Vgl. Eckardt in »Jungrussisch und Altlivländisch« (2. Aufl., Leipz. 1871); Althaus in »Unsere Zeit«, neue Folge, Bd. 8 (1872); O. v. Sperber, Die sozialpolitischen Ideen A. Herzens (Leipz. 1894); »Kawelins und Turgenjews sozialpolitischer Briefwechsel mit A. H.« (Stuttg. 1894).

2) Alexander, Physiolog, Sohn des vorigen, geb. 1839 in Wladimir, studierte in der Schweiz und in London, machte eine Reise nach Norwegen und Island, ließ sich 1863 in Florenz nieder, wurde 1877 daselbst Professor der Physiologie am Instituto superiore und 1881 an der Akademie in Lausanne. Er schrieb: »Vergleichende Anatomie der niedern Tiere« (russ., 1862); »Analisi fisiologica del libero arbitrio umano« (3. Ausg., Flor. 1879); »Gli animali martiri, i loro protettori e la fisiologia« (1874); »Cos' è la fisiologia?« (1877); »Lezioni sulla digestione« (1877); »Il metodo psichico e la coscienza« (1879); »Le cerveau et l 'activité cérébrale« (Par. 1887); »Causeries physiologiques« (das. 1899) u. a.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 248-249.
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