Epistel

[874] Epistel (griech.), im allgemeinen »Brief«; dann eine Dichtung in Form einer brieflichen Mitteilung. Schreiber oder Empfänger oder auch beide können fingierte Personen sein. In jedem Falle soll ein Inhalt von allgemeinem Interesse den vorausgesetzten Individualitäten des Schreibers und Empfängers, die danach nicht wesenlose Abstraktionen bestimmter Menschenklassen sein dürfen, angepaßt sein. Die E. ist meist in Hexametern oder Distichen geschrieben; im Deutschen möchte lich noch besser der Jambus in freier Behandlung (wie ihn Uz, Michaelis, Wieland und besonders Göckingk anwendeten) zur E. eignen; die Franzosen gebrauchen dazu den Alexandriner. Was den materiellen Inhalt der poetischen E. anbelangt, so wird entweder ein Faktum poetisch dargestellt (epische E.), oder es werden subjektive Vorstellungen und Gefühle des Briefschreibenden zur Darstellung gebracht (lyrische E.). In den meisten Fällen[874] wird der Briefschreiber seinem Freund irgend eine Wahrheit mitteilen wollen, und dann wird die E. didaktisch, wie die meisten der Briefe des Horaz (z. B. die berühmte »Epistola ad Pisones«). – In der Theologie versteht man unter Episteln die im Neuen Testament enthaltenen Briefe der Apostel; dann die Abschnitte aus den letztern (epistolische Perikopen), die an Sonn- und Festtagen am Altar verlesen zu werden oder der Predigt zu Grunde zu liegen pflegen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 874-875.
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