Hexamĕter

[298] Hexamĕter, von den Griechen erfundener sechs süßiger daktylischer Vers (wegen der frühesten Anwendung im Heldengedicht auch heroischer oder epischer Vers genannt), dessen letzter Versfuß zur Bezeichnung des Versendes um eine Silbe verkürzt ist Die ersten vier Daktylen kann der metrisch gleichwertige Spondeus ersetzen; im fünften Fuß, wo der Charakter des Verses am schärfsten hervortritt, ist dies mit zwecks rhythmischer Malerei gestattet, und man nennt dann den H. einen spondeischen (Spondiacus). Das Schema ist also folgendes:

Tabelle

Ein andres Mittel, Mannigfaltigkeit im Bau der H zu erzeugen, sind die verschiedenen Zäsuren (s. Zäsur): 1) die männliche Hauptzäsur nach der ersten Silbe des dritten Fußes oder nach dem fünften Halbfuß (Penthemimerēs):


[298] »Und je wilder der Sturm, || je höher brauset die Brandung«

(Uhland);

2) die weibliche Hauptzäsur nach der ersten Kürze des dritten Daktylus (κατὰ τρίτον τροχαῖον):


»Bunt aneinander Gereihtes || ergötzt zwar, doch es ermüdet«

(Platen);

3) die meist verbundenen Zäsuren nach der ersten Silbe des zweiten Fußes oder dem dritten Halbfuß (Trithemimerēs) und nach der ersten Silbe des vierten Fußes oder dem siebenten Halbfuß (Hephthemímerés):


»Schroffes Gestad' || als Pilger besucht, || dann weißt du, wie selten«

(Platen);

Bukolische Zäsur heißt nach dem häufigern Gebrauch bei den bukolischen Dichtern die mit Sinnesabschnitt verbundene Diärese nach dem vierten Daktylus:


»Sei willkommen im Freien, Antonio, | selten erscheinst du«

(Platen);

Durch die beliebige Vertauschung der Daktylen mit Spondeen gestattet der H. die verschiedensten Mischungen von Kraft und Weichheit und nimmt bald einen majestätischen oder prächtigen, bald einen flüchtigen oder nachlässigen Gang an. Der H. wurde bei Griechen und Römern in verschiedenster Weise angewendet, namentlich zu epischen oder erzählenden Gedichten, Lehrgedichten und Satiren, mit dem Pentameter (s. d.) verbunden zu Elegien. In der lateinischen Poesie des Mittelalters nahm er eine besondere Gestalt an, indem der Versschluß mit der weiblichen Hauptzäsur (im dritten Fuß) reimen mußte (leoninischer H.). In die deutsche Poesie führte ihn Klopstock (im »Messias«, 1748) ein. J. H. Voß suchte ihn möglichst der griechischen Technik nachzubilden. Goethe in »Hermann und Dorothea«, »Reineke Fuchs« und kleinern Dichtungen, Schiller in einzelnen Gedichten behandelten um mit größerer Freiheit und mit sicherm Gefühl für das in deutscher Sprache Zulässige; dagegen haben ihn A. W. Schlegel und Platen zwar kunstvoller als andre aber mit störender Nichtachtung des deutschen Wortakzents behandelt. Spätere (übrigens nicht ungeschickte) Versuche, ihn bei uns heimisch zu machen, wie die Erzählung »Richard« von V. Strauß, das idyllische Epos »Adam und Eva« von M. Hartmann, »Mutter und Kind« von Hebbel, »Thekla« von P. Heyse, »Euphorion« von Gregorovius u. a., haben ihm keine Popularität zu verschaffen vermocht. So bleibt sein Wirkungskreis in der Neuzeit auf das kürzere Idyll und vorzugsweise auf das Distichon beschränkt. In Italien und Frankreich ging man den Deutschen mit der Einführung der H. voran. Schon im 16. Jahrh. traten Annib. Caro mit italienischen, Baïf mit französischen Hexametern auf, vermochten aber keinen allgemeinen Beifall zu erringen, ebensowenig der Engländer Albr. Fraunce (um 1670) und der gleichzeitige Schwede Stjernhjelm.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 298-299.
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