Hexameter

[536] Hexameter. (Dichtkunst)

Ein Vers von sechs drey-und zwey-sylbigen Füßen, der auch der heroische Vers genennet wird, weil die Griechen, die Erfinder desselben, ihn in ihren Heldengedichten gebraucht haben. Die lateinischen Dichter haben ihn den Griechen abgeborget, und vor nicht langer Zeit ist er auch in der deutschen Sprache mit glüklichem Erfolg versucht worden. Er verträgt zwey Arten der Füße, die Daktylen und Spondeen, an dessen Stelle die Deutschen auch, was sie Trocheen nennen, gebrauchen. Beyde, und im deutschen Hexameter alle drey Arten des Fußes, können verschiedentlich abwechseln, bald kann die eine, bald die andre darin herrschen. Dadurch bekommt der Dichter eine große Freyheit den Vers nach seiner Absicht bald eilender, bald langsamer zu machen, ihm bald einen hohen, bald einen gemäßigten oder gemeinen Ton zu geben. Er ist nur an das einzige Gesetz gebunden, daß der fünfte Fuß ein Daktylus und der sechste ein Spondäus sey, damit der Vers seinen Fall am Ende habe; wiewol auch dieses Gesetz nicht ohne Ausnahm ist.

Dieser Vers hat vor allen andern wegen der Freyheit, die er dem Dichter verstattet, große Vortheile. Man ist dabey nicht an bestimmte Ruhepunkte gebunden; er nöthiget nicht zu müßigen Wörtern, weil er sich selbst nicht gleich bleiben därf: er verstattet der Rede eine große Mannigfaltigkeit des Tones, und kann majestätisch oder flüchtig seyn, einen prächtigern oder nachläßigern Gang anzunehmen. Dadurch wird er zum Heldengedicht tüchtiger, als irgend ein andrer Vers. Denn der epische Dichter muß nothwendig den Ton, nach Maaßgebung seiner Materie, verschiedentlich abändern. Doch bemerkt man oft an dem deutschen Hexameter, daß er, um voll zu werden, manches unnöthiges Beywort veranlaset.

Nach dem Urtheil des Diomedes, welches das Urtheil aller Menschen ist, die Gehör haben, ist der Hexameter der schönste, dessen Füße so in einander geschlungen sind, daß keiner weder mit einem Wort anfängt noch aufhört, es sey denn der erste und letzte, so wie dieser


Oceanum interea surgens aurora reliquit.


Virg.

Am schlechtesten ist er, wenn die Wörter die Füße machen.


Præter cætera Romæ, mene poemata censes

Scribere?


Hor.

Seine Länge erfodert, daß man ihm irgendwo einen kleinen Ruhepunkt oder Abschnitt gebe, den man verschiedentlich versetzt.1

Es wäre seltsam, wenn man ietzt noch untersuchen wollte, ob die deutsche Sprache fähig genug sey, den griechischen Hexameter nachzuahmen, nachdem wir den Meßias haben, ein Gedicht, das auch in dem Ton und Klang, mit der Ilias oder Aeneis um den Vorzug streiten kann. Daß es aber den Deutschen mehr Mühe macht in wolklingenden Hexametern zu schreiben, als der Griech' oder der Römer nöthig gehabt hat, kann wol nicht geleugnet werden; genug daß einige unsrer Dichter die Schwierigkeiten glüklich überwunden haben.

Man muß Klopstok und Kleist, die zu gleicher Zeit, und ohne daß einer von den Versuchen des andern etwas gewußt, versucht haben deutsche Hexameter zu machen, als die Erfinder derselben ansehen; denn die wenigen Versuche, die ältere [536] Dichter darin gemacht haben, können als nicht gemacht angesehen werden.2 Der Hexameter, den Kleist zu seinem Frühling gewählt hat, fängt, wie man sich in der Musik ausdrükt, im Aufschlag an. Denn er setzt dem ersten Fuß eine kurze Sylbe vor. Vermuthlich ist er blos von ohngefähr auf diesen Einfall gekommen; denn eine genaue Ueberlegung würde ihn doch haben fühlen lassen, daß dieses den Gang des Gedichtes etwas monotonisch macht, und auch der Mannigfaltigkeit des Rhythmus, oder der Perioden, schadet.

Es ist denen, die sich einfallen lassen den deutschen Hexameter zu brauchen, sehr zu rathen, daß sie mit großer Sorgfalt dasjenige überlegen, was Klopstok in den Vorreden zu dem zweyten und dritten Theil des Meßias, Ramler in seiner Uebersetzung des Batteux, und Schlegel in seiner Abhandlung vom Reim, darüber angemerkt haben.

1S. Abschnitt. Cäsur.
2Eine kurze Geschichte des deutschen Hexameters ist in den Briefen über die N. Litteratur im ersten Th. auf der 109 u. s. f. S. zu finden.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 536-537.
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