Reinike der Fuchs

[154] Reinike der Fuchs, nach Andern Reineke Fuchs, Reynke de Voß, nach der ersten Ausgabe aber Reynaert de Vos, ist ein Deutsches komisches und satyrisches Gedicht in Platdeutscher oder Niedersächsischer Sprache, namentlich in dem Friesischen Dialect derselben, welches zuerst zu Delft 1485 erschien, und zum Zweck hat, die Ränke der Höfe, besonders aber der Staatsbeamten gegen einander in einer freimüthigen und treffenden Darstellung dem Spott und der Verachtung preis zu geben. Dem Titel und der gewöhnlichen Meinung nach ist der Verfasser des Gedichts Heinrich von Alkmar, welcher Hofmeister bei dem Herzog Renatus von Lothringen gewesen sein soll; allein schon der berühmte Dichter Rollenhagen behauptete in seiner Satyre, der Froschmäusler, Magdeburg, 1596, nicht Alkmar, sondern Nicolaus Baumann, Doctor der Rechte und Rath des Herzogs Magnus von Jülich, sei der wahre Autor. Dieser Baumann fiel bei dem Jülicher Hofe in Ungnade, und starb 1526 als Secretair des Herzogs von Meklenburg und Professor der Rechte zu Rostock. Daß Rollenhagens Meinung die richtige sei, ist neuerlich durch Tiaden im ersten Theile seines gelehrten Ostfrieslands, Aurich 1785. 8. und durch Kinderlings Geschichte der Niedersächsischen oder so genannten Plattdeutschen Sprache, Magdeburg, 1800, 8. ganz außer Zweifel gesetzt worden. Baumann suchte sich nehmlich für die Ungnade, in die er am Hofe zu Jülich gestürzt worden war, durch dieses Gedicht zu rächen, welches die Cabalen jener Residenz in ihrer wahren Gestalt aufstellte und lächerlich machte, wählte auch zur Sprache desselben den in Jülich sowohl damahls, als auch noch jetzt sehr gewöhnlichen Friesischen Dialect des Plattdeutschen, setzte aber, um völlig unerkannt zu bleiben, den Namen Heinrichs von Alkmar, welcher, wie Tiaden beweist, nie existirt hat, dem Werke als Verfasser vor, und fügte ihm, um seine Erdichtung noch mehr zu verschleiern, Anmerkungen dieses angeblichen Heinrichs von Alkmar bei, indeß er seine eignen Anmerkungen bloß unter dem Namen des Herausgebers anhängt. – Das Werk besteht aus vier Büchern, deren jedes mehrere Kapitel enthält, und ist in pierfüßigen Jamben geschrieben, in die sich jedoch nach der damahligen Regellosigkeit des Versmaßes viele Spondäen, Anapästen u. s. w. eingeschlichen haben. Alle Personen, namentlich [154] der König mit allen seinen Vasallen, Staats- und Hofbeamten, sind unter dem Bilde von allerlei Thieren, beinahe in Aesopischer Manier, vorgestellt; und der Charakter, welchen die Natur jeder Thierart aufgestempelt hat, bezeichnet die Denkungs- und Gemüthsart der handelnden Person. Der Löwe, König der Thiere, versammelt alle Beamten und Vasallen zu einem feierlichen Hofrage. Eine mächtige Faction erhebt sich zum Sturze des schlauesten und ränkevollsten seiner Minister, des Fuchses, der den Beinamen Reinike führt, und Ungerechtigkeiten und Räubereien ohne Zahl begangen hat, allein, durch List und durch einige kleine Verdienste um den Staat in der Gunst des Monarchen festgesetzt, seine Widersacher verfolgt und unterdrückt. Isegrim, der Wolf, und Braun, der Bär, die Häupter der Verschwornen, benutzen den Hoftag zur Ausführung ihres Plans; und alle zusammen klagen ihn der schwärzesten Verbrechen an. Viele boshafte Auswege, die Reinike versucht, schlagen fehl; denn die Beweise der Gegner, die alle ihre Kräfte gegen ihn aufgeboten haben, sind zu klar: der König selbst fällt endlich das Todesurtheil; und schon steht Reinike unter dem Stricke, der sein Leben endigen soll. Auf einmahl wirkt er sich durch das Versprechen, dem Könige vorgeblich wichtige Entdeckungen zu machen, eine kurze Frist aus, erlangt sie glücklich, stürzt nun seine sämmtlichen Gegner durch eine Menge ungemein scharfsinniger Lügen und Verleumdungen zu Boden, und zieht ihnen die Ungnade des schwachen und vorurtheilsvollen Königs zu. Seine Feinde müssen wegen angeschuldigter Verbrechen den Hof meiden; und Reinike wird der einzige Freund und Rathgeber des Königs, den er ganz unumschränkt beherrscht. – Wir können nicht umhin, das Gedicht für ein Meisterstück zu erklären; denn manche Plumpheiten des Scherzes, viele unsittliche und eben so viele matte Stellen, die mit unterlaufen, waren zu jenen Zeiten, wo die Meistersängerei allen Sinn für höhere Dichtkunst und jeden Funken des guten Geschmacks verdrängt hatte, und wo überhaupt fast gar kein Vorbild der Nachahmung des Dichters vorschwebte, völlig unvermeidliche Fehler: und das Genie des Verfassers, der bei solchen Hindernissen so außerordentlich viel leistete, verdient die gerechteste Bewunderung. Sein Werk zeichnet sich durch Reichthum an Satyre, Moral und dichterischen Schönheiten, durch eine getreue und gut gehaltene [155] Charakterzeichnung, lebhafte und gefällige Darstellung und eine schon einiger Maßen gebildete Sprache vor heilhaft aus, und war wegen dieser Vorzüge lange die Lieblingslectüre der auf ihn folgenden Zeitalter. Es wurde häufig in der Ursprache herausgegeben, ins Hochdeursche und in fremde Sprachen übersetzt, auch umgebildet und dem Geiste der spätern Zeiten angepaßt. Für den Sprachforscher und Alterthumskenner ist es ebenfalls von großem Werthe. Die neueste Originalausgabe ist: Reinike de Voss, mit eener Verklaaring der olden Sassischen Worde, Eutin, 1798, 8. – Unter den Uebersetzungen ins Hochdeutsche verdient besonders die von Johann Christoph Gottsched, Leipzig und Amsterdam, 1752, 4. genannt zu werden. Dieselbe enthält Baumanns und des angeblichen Alkmars Anmerkungen und den Originaltext, nebst schönen nach den alten Holzschnitten gestochenen Kupfern von Everding. Unter den Umarbeitungen ist die von Göthe die neueste und beste: Reinike der Fuchs, in zwölf Gesängen, Berlin, 1794, 8. welche zugleich den zweiten Theil von Göthens neuen Schriften ausmacht. Er hält sich in Rücksicht der Geschichte und des Stoffes getreu an das Original, bindet sich aber nur sehr selten an dessen Worte, und liefert uns das Gedicht in herametrischen Versen, die eben so schön und fließend, als witzig, naiv und unterhaltend sind. Diese unsern Zeiten völlig angemessene Umarbeitung erhebt sich zu einem wahren Meisterstücke im Fache des komischen Heldengedichts. –

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 154-156.
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