Überlieferung

[508] Überlieferung oder Tradition wurden gewöhnlich im Gegensatze zu schriftlichen Nachrichten, die mündlich von Geschlecht zu Geschlecht übergegangenen Erzählungen von Begebenheiten oder ebenso fortgepflanzte Gebräuche, Lehren und Gewohnheiten genannt, die man daher auch als traditionell bezeichnet. Das dergestalt Überlieferte erlangt leicht ein großes Ansehen unter den Menschen und wird mitunter sogar als heilig und unverletzlich angesehen, wie das auch von der katholischen Kirche mit gewissen Religionslehren geschieht, die nicht ausdrücklich in der Bibel verzeichnet, sondern nur durch Tradition fortgepflanzt worden sind. Die Juden schon glaubten eine solche seit Mosis Zeiten durch die Gelehrten erhaltene Überlieferung, welche endlich, um dem Verlorengehen derselben vorzubeugen, im Talmud (s.d.) gesammelt wurde. Allein durch das Niederschreiben solcher Überlieferungen erhalten sie keine größere Glaubwürdigkeit, weil der Niederschreibende dieselben doch blos vom Hörensagen aus der vierten, fünften u.s.w. Hand hat. Ins Christenthum ging die Anwendung von Überlieferungen aus dem Judenthume um so eher über, als vor Abfassung der Evangelien die Lehren Jesu selbst auf keinem andern Wege verbreitet wurden, und die katholische Kirche nimmt die Bibel und was sie Überlieferung nennt, als gleichmäßige Quelle der Entwickelung ihres Lehrbegriffs an. Nun waren aber sehr frühzeitig schon weit mehr gottesdienstliche Gebräuche als die Lehren des Christenthums Gegenstand der Überlieferung. Dessenungeachtet ward später das Ansehen derselben, welches ihr mit entsprechender Beschränkung immer bleiben wird, in übermäßiger Ausdehnung auf Glaubenslehren übertragen und nicht nur den Kirchenvätern ein großer Reichthum mündlich ererbter Religionserkenntnisse zugeschrieben, söndern die Geistlichkeit verlangte sogar, daß geglaubt werde, was sie als Überlieferung oder Erblehre ausgab. Bei Entscheidungen in Glaubenslehren ward die Bibel fast untergeordnet und von Rom aus wurden mit diesem Mittel, dem Papstthume günstige Meinungen zu verbreiten, grobe Misbräuche getrieben. So kam es, daß die Protestanten die Überlieferung als eine durch unmittelbare Offenbarung Gottes gegebene und der Bibel gleichstehende Quelle von Glaubenswahrheiten verwarfen und sie der h. Schrift völlig unterordneten. Wo sie jedoch zur geschichtlichen oder sonstigen Erörterung von Lehren der Offenbarung beitragen kann, hat sie deshalb für die wissenschaftliche Forschung ihre beziehungsweise Geltung immer beibehalten.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 508.
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