Naiv

[237] Naiv und Naivetät werden von dem lat. Worte nativus, d.h. angeboren, ungekünstelt, und wofür im Mittelalter naivus gebräuchlich ward, solche menschliche Äußerungen und Handlungen genannt, welche unmittelbar aus der Regung unverdorbener, kindlich unschuldiger Gemüther und Herzen hervorgehen und die in der treuherzigen Unbefangenheit und Anspruchslosigkeit ihrer arglosen Gesinnung, aus Unkenntniß oder edler Herzenseinfalt gegen die aus dem gesellschaftlichen Leben herausgebildeten, erkünstelten und abgeschliffenen Verhältnisse (Weltklugheit und Weltton) verstoßen. Das Naive kann verbildeten Weltleuten lächerlich, albern und dumm erscheinen, ist das aber keineswegs, sondern vielmehr die Äußerung des unverdorbenen Gefühls und gesunden Menschenverstandes und beruht stets auf einer gewissen Reinheit der Gesinnung, vermöge der es auch bei dafür empfänglichen Menschen einen wohlthätigen und anziehenden, oft rührenden, ja erhebenden Eindruck macht. Das Naive steht demnach dem Unnatürlichen und Erkünstelten entgegen und entspringt nur aus unverdorbenen Herzen, wonach auch die Anwendung des Ausdrucks naiv sich beurtheilen läßt, der oft misbraucht wird.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 237.
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