Mysticismus

[334] Mysticismus. Nicht alle Wahrheiten der Religion kann der Mensch durch freies Forschen der Vernunft ergründen und sicher stellen. Gar Manches mag er nur durch heiligen, frommen Glauben ergreifen. Dieß wollen aber nicht Alle anerkennen. Irre geleitet von religiösem Gefühle, wähnen sie, das Göttliche durch die Sinne, sei es durch äußere oder durch innere, anschauen zu können. Ja, sie streben sogar, in eine fühlbare Verbindung mit der übersinnlichen Welt zu treten. Diesen Zweck zu erreichen, fliehen sie die Freuden der Welt und vergraben sich in eine düstere Ertödtung des Fleisches, die nach ihrem Irrwahne zur Läuterung des sinnlichen Menschen dient. Dieß sind die Grundzüge des religiösen Mysticismus. Und kleidet er sich auch nicht überall in ein so finsteres Gewand, erregt er auch zuweilen beglückende Gefühle, seine Sprache ist überall dunkel, verworren und ein übermäßiges Spiel mit oftmals tändelnden, das Heilige entwürdigenden Bildern. Erlaubt kann der Mysticismus nur insofern sein, als er in der sichtbaren Welt die Offenbarung und Ankündigung des Unendlichen wahrnimmt, und in der vergänglichen Form das innere Leben schaut.

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Damen Conversations Lexikon, Band 7. [o.O.] 1836, S. 334.
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