Antike Quellen

[202] Am Anfang jeder historischen Überlieferung steht die Sage. Auch bei den Griechen enthält diese neben religiösen und dichterischen Bestandteilen historische Elemente. Ihre Sonderung ist freilich, wo nicht wie bei der germanischen Sage gleichzeitige Nachrichten vorliegen, außerordentlich schwierig und auch mit Hilfe der Analogie nur in sehr allgemeinen Umrissen möglich. Wir würden daher von der ältesten Zeit Griechenlands nur ein sehr unsicheres Bild gewinnen, ja vielleicht gänzlich auf ihre geschichtliche Erkenntnis verzichten müssen, wenn uns nicht die Denkmäler zu Hilfe kämen, welche sie hinterlassen hat. Die großen Bauten der Urzeit waren zum Teil schon dem Altertum bekannt (Tiryns, Mykene, Orchomenos) und haben sich seitdem fast unverändert bis auf die Gegenwart erhalten. Zu einer wirklichen Erkenntnis der mykenischen und der noch vor ihr liegenden Epoche sind wir aber erst seit 1871 durch die systematische Erforschung der ältesten Ruinenstätten gelangt, welche in erster Linie von HEINRICH SCHLIEMANN begonnen worden ist. Zwar schriftliche Urkunden sind hier (außer ein paar ägyptischen Königsnamen) nicht gefunden; aber eine durchgebildete Kultur ist uns entgegengetreten, welche ein historisches Verständnis zugleich gebieterisch fordert und ermöglicht. Ergänzend tritt hinzu, was sich aus dem Zusammenhang der Griechen mit den Indogermanen und durch Rückschlüsse aus den späteren Zuständen über den Entwicklungsgang des griechischen Volks ermitteln läßt. Die Verbindung dieser Kultur mit dem Orient und vereinzelte Streiflichter, die aus orientalischen Quellen auf diese Zeit fallen, gestatten ihre Einreihung in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang. [202] Bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus bildeten die korinthischen Vasen im wesentlichen die ältesten griechischen Denkmäler, die man kannte; über Homer hinaus wagte man den Blick nicht zu erheben. Jetzt können wir auch jenseits Homers festen Fuß fassen; in der Mitte des 2. Jahrtausends tritt uns Griechenland in vollem Leben entgegen, und noch Jahrhunderte weiter aufwärts läßt sich der allgemeine Gang der Entwicklung erkennen.

Die Sage ist jahrhundertelang in epischen Liedern besungen und weitergebildet worden. Den Niederschlag dieser Heldendichtung bilden die großen Epen, welche an den Namen Homers anknüpfen. Ihre stufenweise Entstehung umfaßt den langen Zeitraum vom 10. bis zum Ende des 7. Jahrhunderts; in den letzten Ausläufern reichen sie bis ins 6. hinein. Im wesentlichen aber repräsentieren sie die Anschauungen und Zustände etwa der Jahre 900-700 v. Chr., der Epoche, die wir als das griechische Mittelalter bezeichnen können. Denn es versteht sich von selbst, daß eine naturwüchsige Dichtung, wenn auch ihr Stoff in einer fernen Vergangenheit spielt, doch in Sitten und Anschauungen ihre eigene Gegenwart widerspiegelt. So sind die Homerischen Epen gleichzeitig das älteste Zeugnis des griechischen Geisteslebens und die wichtigste Geschichtsquelle für die Erkenntnis ihrer Zeit. Dagegen die Absicht, selbst geschichtliche Information zu übermitteln, liegt ihnen, abgesehen von jungen Ausläufern, völlig fern, trotz ihres historischen Stoffes; sie wollen ihre Hörer unterhalten, nicht sie belehren. Erst gegen Ende der epischen Epoche empfand man das Bedürfnis, den gewaltigen Stoff zu sammeln und zu ordnen. Es verband sich mit dem erwachenden Triebe nach Erkenntnis, dem Streben, den Ursprung der Dinge, der Götter und der Menschen und der einzelnen Volksstämme und Städte zu erforschen. Das führte zu einer mit der Göttergeschichte beginnenden Überarbeitung der Sagengeschichte, welche durchaus systematisierend oder im Sinne ihrer Zeit wissenschaftlich verfuhr, die Widersprüche ausglich, Anstöße beseitigte, Lücken ausfüllte, einen festen Zusammenhang schuf. Diese Behandlung knüpft an Hesiod an und ist durch zahlreiche teils unter seinem, teils unter anderen Namen [203] gehende Epen des 7., vielleicht auch noch der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts vertreten. Die Form derselben ist genealogisch; denn der Stammbaum gibt ein festes, bis auf den ersten Ursprung hinaufreichendes Schema, und jede menschliche Gemeinschaft denkt man sich als Nachkommen eines eponymen Ahnherrn. Diese genealogische oder Hesiodeische Dichtung, die der Homerischen (kyklischen) durchweg parallel läuft, muß als der Anfang der Geschichtsschreibung betrachtet werden. Dichterisch, episch ist nur die Form, aber nicht mehr die Auffassung (u. S. 375f.).

Wie in jeder ursprünglichen Überlieferung ist auch bei den Griechen die Sagenzeit durch eine tiefe Kluft von den Anfängen wirklich geschichtlicher Kunde getrennt. Erst die spätere Geschichtsschreibung hat hier wie bei den Hebräern und Römern den Versuch gemacht, die Lücke einigermaßen auszufüllen. Die ältesten rein historischen Nachrichten bestehen in Aufzeichnungen von Jahrbeamten, Siegern in Wettkämpfen, Stammbäumen u.a. Sie beginnen im 8. Jahrhundert; der Anfang der Olympionikenliste 776 v. Chr., der Ephorenliste 755/4, der attischen Archontenliste 682/1 sind die ersten genau fixierten Daten der griechischen Geschichte. An sie reihen sich die Gründungsdaten der Kolonien, welche zwar meist lediglich auf Kombinationen beruhen (u. S. 413), aber doch annähernd richtig sind und in einzelnen Fällen wohl auch auf derartige Listen von Jahrbeamten zurückgehen. Aus den zunächst zu praktischen Zwecken geführten Beamtenlisten sind dann durch Einfügung einzelner Notizen über wichtige und unwichtige Begebenheiten allmählich Stadtchroniken (ὧροι, d.i. Jahrbücher) erwachsen, die seit dem 5. Jahrhundert für die wichtigeren Staaten vielfach bearbeitet und mit einer ausführlichen Darstellung der mythischen Urgeschichte der Gemeinde ausgestattet sind (ὡρογράφοι, κτίσεις). Über das 6. Jahrhundert haben diese Aufzeichnungen wohl nirgends hinaufgereicht; in Athen hat die Chronik, die Grundlage der späteren Atthiden und Verfassungsgeschichten, auch für das 6. Jahrhundert meist nicht mehr als die Beamtennamen enthalten, wie sich aus den entsprechenden Abschnitten von Aristoteles' πολιτεια Ἀϑηναίων deutlich ergibt. – Dagegen wurden durch die seit dem 7. Jahrhundert aufkommende [204] schriftliche Aufzeichnung des Rechts und den wachsenden Gebrauch der Schrift für Urkunden aller Art historische Dokumente in stets steigender Zahl geschaffen, die von der antiken Forschung eifrig benutzt sind. Dadurch ist uns von ihnen manches bewahrt; auch haben sich aus der Zeit vor den Perserkriegen mehrere Urkunden noch inschriftlich erhalten. Daran reiht sich auf der einen Seite die große Zahl sonstiger älterer Inschriften, auf der andern die stets umfangreicher werdende, freilich durchweg nur in Bruchstücken auf uns gekommene Literatur. Die Entwicklung der politischen Lyrik liefert zahlreiche Gedichte, die der historischen Situation unmittelbar Ausdruck verleihen und als authentische Quellen ersten Ranges schon von der antiken Geschichtsforschung sorgfältig ausgebeutet sind.

Dagegen geht die historische Erinnerung in Griechenland fast nirgends über die letzten Jahrzehnte des 7. Jahrhunderts hinauf (rund 630 v. Chr.)347. Nur bei den Ioniern reichen die historischen Nachrichten etwas weiter, bis in die Zeit des Gyges und Psammetich (um 660 v. Chr.). Auch im 6. Jahrhundert noch ist uns lediglich von den wichtigsten und am nachhaltigsten wirksamen Begebenheiten eine oft nur sehr unsichere und widerspruchsvolle Kunde erhalten. Aber die hochbedeutenden Persönlichkeiten, welche die soziale und politische Gärung dieser Zeit, der Epoche der Tyrannis und der sieben Weisen, hervorgebracht hat, sind dem Gedächtnis der Nation nicht mehr entschwunden. Das Individuelle, Persönliche, Außergewöhnliche ist es, dem das Interesse sich zuwendet und das von der Überlieferung weiter ausgebildet wird. Daher kommt es, daß in den Erzählungen, welche an die Staatsmänner dieser Epoche anknüpfen, vielfach nur der äußere Rahmen historisch ist, während Anekdoten oder »Novellen« ihren Inhalt bilden348. [205] Seit der Mitte des 6. Jahrhunderts, der Zeit des Pisistratos und Krösos, wird diese Überlieferung allmählich reicher und zuverlässiger, wenngleich auch hier noch oft genug historische Unmöglichkeiten vorkommen und namentlich, wie es sich für mündlich bewahrte Kunde gehört, die Chronologie gänzlich unbeachtet bleibt.

Aber nicht in diesen Traditionen liegen die Anfänge der griechischen Geschichtsschreibung. Diese ist vielmehr die direkte Fortsetzung des Hesiodeischen Epos. Sie ist durch die Einwirkung der Philosophie und des Rationalismus entstanden, die sich in Ionien seit der Mitte des 6. Jahrhunderts entwickelt haben. Die Erzählungen des Epos genügten den fortgeschrittenen Anforderungen nirgends mehr; das Bedürfnis, sie diesen anzupassen, erwachte überall und führte zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der Überlieferung. Diese Grundstimmung beherrscht alle Erzeugnisse der Zeit und verleiht ihnen ausnahmslos einen rationalistischen Anstrich: das eigene Denken und Empfinden wird der Maßstab für die Auffassung und Gestaltung der Tradition. Aber in zwei diametral entgegengesetzten und sich heftig bekämpfenden Strömungen gelangt sie zum Ausdruck. Auf der einen Seite wird der religiöse Glaube nicht nur erhalten, sondern gesteigert, die Umwandlung der Überlieferung soll diese in erster Linie auf das Niveau der geläuterten religiösen Anschauungen erheben; in dieser Richtung haben vor allem Stesichoros, Pindar, Äschylos, daneben auch die Orphiker und die sich ihnen anschließenden Kreise die Sagen bearbeitet, wobei eine poetische Fortbildung und Vertiefung keineswegs ausgeschlossen ist. Demgegenüber hat man in Ionien mit der Religion radikal gebrochen. Wie die Philosophie den Versuch wagt, zu einem vernunftgemäßen Weltbild zu gelangen, ohne Rücksicht auf die religiösen Traditionen, so hat die beginnende Geschichtsschreibung die alten Überlieferungen als rein historische [206] Tatsachen zu verstehen gesucht und demgemäß jedes Wunder und jede Intervention höherer Mächte prinzipiell gestrichen. Daher bricht sie auch mit der überkommenen Form: an Stelle des epischen Verses tritt die Prosa. Nach diesen Grundsätzen hat zuerst zu Ende des 6. Jahrhunderts Hekatäos von Milet die Sagengeschichte bearbeitet, in bewußtem Gegensatz zu den landläufigen Anschauungen, die er als widerspruchsvoll und lächerlich bezeichnet. Den Stoff entnimmt er natürlich dem Epos, und in der genealogischen Form der Darstellung lehnt er sich unmittelbar an dasselbe an. Aber die bereits bei Hesiod vorhandenen Keime sind zu voller Entwicklung gelangt, und so wird die alte Überlieferung in ihr Gegenteil verwandelt. Auch ihre Widersprüche sucht Hekatäos auszugleichen und vor allem zu einem festen Gerippe, zu einem chronologischen Schema zu gelangen, das von der Urzeit bis zur Gegenwart reicht und in das sich die einzelnen Ereignisse einreihen lassen. Er gewinnt dasselbe mittels einer auf die Stammbäume angewandten Generationsrechnung zu 40 Jahren349. – Aber nicht nur die Sagengeschichte, auch das gesamte Weltbild des Epos erforderte eine gründliche Umgestaltung. Die Erweiterung des geographischen Horizontes, der nicht nur das ganze Mittelmeer umfaßte, sondern bereits nach allen Richtungen, vor allem aber nach Osten, beträchtlich darüber hinausragte, und die Bekanntschaft mit fremden Völkern und ihren Sitten und Überlieferungen ließen gleichzeitig mit der Geschichte deren Zwillingswissenschaft, die Geographie, entstehen. Hekatäos' Landsmann und Zeitgenosse Anaximander entwarf die erste Erdkarte, Hekatäos stellte seinen Genealogien die erste Erdbeschreibung zur Seite350.

[207] Hekatäos' Werke haben einen durchschlagenden Erfolg erzielt. Das 5. Jahrhundert erzeugte zahlreiche geographische und mythographische Werke, die auf seinen Bahnen wandelten und mit größerem oder geringerem Geschick, zum Teil auch mit größerer Gläubigkeit den Stoff neu bearbeiteten und seine Ergebnisse rektifizierten. Unter den Mythographen sind Pherekydes von Leros und Akusilaos von Argos (etwa um 450) zu nennen, die sich beide eng an Hesiod anschlossen. Daneben entwickelt sich durch Verbindung der mythischen Urgeschichte mit den lokalen Chroniken die schon erwähnte Lokalgeschichtsschreibung (Horographie, oben S. 204), die zahlreiche, leider für uns fast völlig verschollene Werke hervorgebracht hat (Kadmos von Milet, Eugeon von Samos, Deiochos von Prokonnesos, Amelesagoras von Chalkedon, Charon von Lampsakos, Hippys von Rhegion und zu Ende des Jahrhunderts, für die Geschichte des Westens grundlegend, Antiochos von Syrakus usw.). Auch die Geschichte der asiatischen Völker wird in eigenen Werken behandelt; Dionysios von Milet schrieb die erste Geschichte der Perser und ihrer Vorgänger (vgl. Forsch. I 176. 203); ihm folgte Charon von Lampsakos, dessen Darstellung bis über die Perserkriege hinausreichte. Etwa gleichzeitig mit Herodot verfaßte der Lyder Xanthos eine Geschichte seines Volkes in griechischer Sprache (o. S. 167). Diese Arbeiten haben auch zu zahlreichen neuen chronologischen Systemen geführt. Im allgemeinen suchte man zwar an den grundlegenden Ansätzen des Hekatäos möglichst festzuhalten; aber die stark variierenden Traditionen und Stammbäume der einzelnen Gemeinden zwangen [208] zu zahlreichen Abweichungen, und daneben kam ein neues und korrekteres System der Generationsrechnung auf, drei Geschlechter auf ein Jahrhundert (Herod. II 142), dessen Konsequenzen erst allmählich vollständig gezogen wurden (Forsch. I 153ff.)351.

Den bedeutendsten Schritt tat (um 430 v. Chr.) Herodot von Halikarnaß. Ihn reizten nicht die Traditionen über die Urzeit, über die genügend geredet war (VI 55), sondern die großen Taten der letzten Jahrhunderte, welche noch frisch im Gedächtnis lebten, und Kultur und Traditionen der Nationen des Orients, die er auf umfassenden Reisen kennengelernt hatte. Aus dem von ihm gesammelten und zunächst zu Vorträgen verwendeten Material hat er ein einheitliches Werk geschaffen. Die Darstellung der Kriege zwischen Griechen und Barbaren von den Zeiten der Lyder bis zur Abwehr der Perser im J. 479/8 bildet den Faden; aber eingeflochten sind nicht nur zahlreiche Schilderungen fremder Völker, [209] ihrer Denkmäler und Schicksale, sondern auch all die Erzählungen, welche über griechische Geschichte seit dem Ende des 7. Jahrhunderts umliefen. Für diese Zeit ist Herodot für uns wie für die Alten die wichtigste und in sehr vielen Fällen die einzige Quelle. Im allgemeinen erzählt er, was ihm berichtet ist – das ist bei einer Sammlung von Traditionen der einzig mögliche Standpunkt –, nicht selten aber übt er eine naive rationalistische Kritik, und ausdrücklich verwahrt er sich gegen die Unterstellung, daß er alles für wahr halte, was er berichtet (II 123. VII 152). Auf seine Vorgänger sieht er vom Standpunkt seiner umfassen den Weltkenntnis mit Geringschätzung herab; ihren aprioristischen Konstruktionen gegenüber, namentlich auf geographischem Gebiet, vertritt er einen naiven Empirismus. Durchweg ist sein Sinn auf das Reale und Historische gerichtet; doch hat er die Anlässe, weitere rationalistische Deutungen der Sagengeschichte vorzubringen, mehrfach gern ergriffen. Die Bekanntschaft mit der orientalischen Kultur hat ihn zu der Überzeugung geführt, daß die Kultur und Religion Griechenlands im Orient, speziell in Ägypten, ihren Ursprung habe, und diese trägt er ausführlich vor. Für die Chronologie hat er gar kein Interesse und hat sich hier mehrfach arge Blößen gegeben; er verwertet die Daten des Hekatäos, bzw. für asiatische Geschichte eines seiner Nachfolger (Dionysios?), ohne zu beachten, daß sie mit der Rechnung von drei Generationen auf ein Jahrhundert, an die er selbst glaubt, in schärfstem Widerspruch steht352.

Den Abschluß der älteren griechischen Geschichtsschreibung bildet Hellanikos von Mytilene. In den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts hat er eine rege und vielseitige Tätigkeit entfaltet353. Er vereinigt die lokale mit der universalen Geschichtsschreibung. [210] Wir kennen von ihm zahlreiche Werke, welche teils einzelne Abschnitte der Urgeschichte (Φορωνίς, Δευκαλιώνεια, Ἀτλαντιάς, Τρωικά), teils die Geschichte einzelner Landschaften und Völker von der Urzeit bis auf die Gegenwart herab (Περοικά, Θεσσαλικά, Ἀργολικά, Λεσβικά oder Αἰολικά, Ἀτϑίς) behandeln. Daneben hat er eine Gesamtchronik (Ἱέρειαι τῆς Ἥρας) geschrieben, welche zugleich das erste feste, auf absolute Daten gestellte chronologische System enthielt. In der Liste der Herapriesterinnen von Argos, welche bis auf Io = Kallithyia hinaufreichte, glaubte er eine sichere Grundlage gefunden zu haben; auf ihre Jahreszahlen reduzierte er die wichtigsten Ereignisse der gesamten griechischen Geschichte. Hellanikos hat mit umfassender Kenntnis das ganze Gebiet der griechischen Überlieferung durchgearbeitet und sich ernstlich bemüht, überall zu wissenschaftlicher Erkenntnis zu gelangen. Ohne starke Willkür war es freilich nicht möglich, die zahlreichen Widersprüche auszugleichen – ein von ihm vielfach verwertetes Mittel war die Annahme gleichnamiger Persönlichkeiten, eines ersten und zweiten Pelasgos, Kekrops, Pandion, Sardanapal354 – und all die Sagen in saubere und trockene Geschichte umzusetzen. Seine Resultate haben auf alle späteren Darstellungen den größten Einfluß geübt. Aber wie der Rationalismus hatte die Logographie sich überlebt. Hellanikos ist der letzte Grieche gewesen, welcher die Sagengeschichte systematisch in dem festen Glauben, die historische Wahrheit finden zu können, durchgearbeitet hat. Mit ihm endet die Epoche der Logographen. Einzelne Nachzügler hat die folgende Zeit noch gebracht, so Hellanikos' Schüler Damastes von Sige, so Ktesias von Knidos, den Verfasser einer großen Geschichte des Orients (Περοικά, geschrieben um 390 v. Chr.), die freilich überall Legenden [211] an die Stelle der historischen Traditionen setzte und gegen die älteren Berichte an Wert weit zurücksteht – Ktesias hatte in der Zeit des großen literarischen Umschwungs fern am persischen Hof gelebt –, aber im allgemeinen übernimmt jetzt, wie auf allen Gebieten der Literatur, so auch in der Geschichtsschreibung Athen die Führung.

Den Rationalismus in der Geschichtsforschung hat Thukydides von Athen überwunden und die Kritik begründet. Er ist der erste gewesen, der den Plan faßte, die großen Ereignisse darzustellen, die er als Mithandelnder erlebte. Indem er dazu das Material von allen Seiten sorgfältig sammelte und sichtete, wurde ihm der gewaltige Unterschied klar, der zwischen traditioneller Überlieferung und wahrer Geschichtserkenntnis besteht. Aus der gewonnenen Einsicht zog er die Konsequenzen für die Vergangenheit und brach den Stab über die gesamte bisherige Geschichtsschreibung. In der Einleitung seines Geschichtswerkes hat er die Grundsätze dargelegt und angewandt, nach denen die kritische Geschichtsschreibung verfahren muß, und die Grenzen bestimmt, innerhalb deren allein eine Erkenntnis der Vorzeit möglich ist, wo keine authentische Überlieferung vorhanden ist. Das Detail, der Einzelvorgang, auf dessen Erzählung die bisherige Behandlungsweise ausging, ist verloren und nicht wieder zu gewinnen; aber eine Erkenntnis der Grundzüge der kulturellen und politischen Entwicklung ist sehr wohl möglich und führt durchweg zu einem wesentlich anderen Bilde, als die Tradition bietet. In der Anwendung seiner Grundsätze hat, wie jeder Forscher, so auch Thukydides gelegentlich fehlgegriffen, die letzten Konsequenzen konnte er noch nicht überall ziehen; aber als Ganzes ist seine Einleitung eine der wunderbarsten Manifestationen des Menschengeistes355.

Als Geschichtsschreiber der Gegenwart hat Thukydides zahlreiche Nachfolger gefunden; der Faden gleichzeitiger Geschichtswerke reißt von da an nicht wieder ab. Aber als Kritiker steht er völlig isoliert; den Weg, den er gezeigt hatte, hat im Altertum [212] niemand wieder zu betreten gewagt. Vielmehr hat gerade die Entstehung der politischen Geschichtsschreibung die auf der großen geistigen Umwälzung des Hellenentums beruhende Abwendung von der älteren Zeit nur verstärkt; für ein Verständnis der älteren Epochen und ihrer Institutionen verlor man jeden Maßstab, man konnte sie sich nicht anders vorstellen als die Gegenwart. Daran scheitern alle kritischen Ansätze, z.B. auch bei Aristoteles. Die lokale Geschichtsschreibung setzt sich durch alle Jahrhunderte fort – die attische ist erst im 4. Jahrhundert ausgebildet – und verfährt im wesentlichen immer wieder in der alten Weise, d.h. sie ist trotz der häufig, z.B. bei Philochoros (Anfang des 3. Jahrhunderts), sehr stark und ernsthaft entwickelten Gläubigkeit in ihrem Wesen durchaus rationalistisch. Daneben entwickelt sich aus den Bedürfnissen der Gegenwart heraus eine umfangreiche politische Literatur, welche auch die Verfassungen der wichtigsten Staaten und ihre Geschichte eingehend behandelt. In den führenden literarischen Kreisen dagegen wird die Urgeschichte als Fundgrube für politische und rhetorische Deklamationen verwertet und dabei nach Belieben umgestaltet356. Es gehört zum Stil der formell aufs höchste gesteigerten, durchweg auf Effekt bedachten und diesem unbedenklich jeden anderen Gesichtspunkt opfernden Geschichtsschreibung der Epoche, daß der Historiker Exkurse über die Mythenzeit und gelehrte Untersuchungen über die Anfänge der einzelnen Völker und Gemeinden oder über die ältesten Literaturdenkmäler einflicht. Dieser Tendenz haben z.B. Theopomp357 und Kallisthenes eifrig gehuldigt. [213] Aber zu der wahren Kritik, deren Wege Thukydides gewiesen hat, vermochte man sich (trotz ganz richtiger theoretischer Erkenntnis, z.B. Ephoros fr. 9. 110) nicht zu erheben, und so schwankte man zwischen Gläubigkeit und Skepsis hin und her. Dieselben Anschauungen beherrschen das große Geschichtswerk, in dem in der Zeit Philipps und Alexanders Ephoros von Kyme die gesamte Weltgeschichte bis auf seine Zeit herab eingehend darstellte358. Die Urzeit, die eigentliche Mythengeschichte, gibt Ephoros vollständig preis und behandelt sie nur in einzelnen Exkursen; als Ausgangspunkt nimmt er das Ereignis, mit dem der gegenwärtige Zustand der griechischen Dinge beginnt, die dorische Wanderung. Von hier an glaubt er auf festem Boden zu stehen, und von jetzt absucht er die zerstreuten Nachrichten über die einzelnen Staaten zu einem einheitlichen Bilde zusammenzuarbeiten. Er ist der erste gewesen, welcher die große Kluft zwischen der Sagenzeit und dem Beginn historischer Kunde um 630 auszufüllen versucht hat. Da er durchweg von den Anschauungen und Verhältnissen der Gegenwart beherrscht ist, ist dieser Versuch vollständig verfehlt; aber für die gesamte Folgezeit ist er maßgebend gewesen. Von ihm stammt z.B. die Rückdatierung der spartanischen Hegemonie im Peloponnes in die älteste Zeit, die traditionelle Geschichte des Lykurgos und die Anschauung, das Orakel von Delphi habe seit alters in Griechenland eine zentrale und leitende Stellung eingenommen359.

[214] In dem regen literarischen Treiben der hellenistischen Zeit ist auch die ältere griechische Geschichte wieder und wieder behandelt worden, teils in eigenen Werken, vor allem in den zahllosen Lokalgeschichten, teils im Zusammenhang anderer Arbeiten. Von beträchtlichem und wenig vorteilhaftem Einfluß sind, wie früher die Redner, so jetzt die populären Schriften der Philosophen, namentlich der Peripatetiker, gewesen, welche ihre Lehren gern durch geschichtliche Beispiele und Anekdoten illustrierten, bei denen die historische Wahrheit nur zu häufig zu kurz kam. Demgegenüber entwickelten sich, gleichfalls im Anschluß an Aristoteles, die historischen Einzelwissenschaften, namentlich die Literatur- und Kulturgeschichte, und, die älteren Arbeiten fortsetzend, die theoretische und antiquarische politische Literatur; hier sind in erster Linie Dikäarch, Aristoxenos, Demetrios von Phaleron zu nennen. Die in Alexandria begründete wissenschaftliche Philologie (Zenodot um 280, Eratosthenes um 230, Aristophanes um 190), die Sammlung und Katalogisierung der großen Bibliothek (Kallimachos um 250) erweitern und sichten das Material. Die Homerkommentare, vor allem Demetrios' von Skepsis Kommentar zum Troerkatalog (30 B., um 175) und des Atheners Apollodor Kommentar zum Schiffskatalog (12 B., um 145), trugen alles Material zusammen, welches Literatur und Kombination zur Aufhellung der Dichterstellen und der Zustände der älteren Zeit gewährte. Für die Alexandriner war die altgriechische Literatur ein abgeschlossenes Forschungsgebiet; im Mutterlande und in Kleinasien (Rhodos, Pergamon) blieben die Zusammenhänge mit der alten Kultur, als deren Erben man sich fühlte, lebendig. Die alexandrinische Philologie arbeitet wie die moderne, sie begrenzt ihr Arbeitsgebiet und erklärt das Einzelobjekt möglichst aus sich selbst (Aristarch um 150); die griechisch-kleinasiatische steht noch mitten im Leben und arbeitet daher mehr in die Breite, aber auch oberflächlicher, sie verwirft die exakten Methoden der Alexandriner. Hier vor allem entwickeln sich die kunsthistorischen (Polemon von Ilion um 180) und mythographischen Forschungen, welche das gesamte Material der Götter- und Heroengeschichte zusammentrugen und die Varianten [215] nebeneinanderstellten (Apollodoros περὶ ϑεῶν u.a.), während man in Alexandria die Mythengeschichte lediglich als Mittel zur Erklärung der Schriftsteller behandelte und die großen Philologen ihrem Inhalt, soweit er nicht in Ilias und Odyssee enthalten war, sehr skeptisch gegenüberstanden. Doch sind auch von Alexandria zahlreiche mythographische Arbeiten ausgegangen (Istros der Kallimacheer). Überall aber krankt die wissenschaftliche Literatur an dem schon hervorgehobenen Mangel an Verständnis für die ältere Zeit; sie kann sich diese nicht anders denken als die Gegenwart, und in allgemeineren Untersuchungen, z.B. über die Entwicklung des Staats, setzt sie, wie Aristoteles, nur zu häufig deduktive Konstruktionen an die Stelle aufsteigender Forschung. Auf mythographischem Gebiete herrscht, soweit man sich nicht, wie namentlich die Stoa, in symbolischen Deutungen ergeht, durchaus der Euhemerismus, das Gegenteil der historischen Forschung. Zu einem wirklichen Verständnis der Mythen ist das Altertum nie gelangt; aller Sinn für das Leben der Religion war den gebildeten Kreisen durch die geistige Entwicklung des Griechentums längst abhanden gekommen360. Außerdem aber wird die wissenschaftliche Arbeit ständig durchkreuzt und wenigstens in dem uns vorliegenden Material überwuchert durch die Einflüsse einer seichten populären Literatur, welche oft in völlig romanhafte Behandlung ausartet. Ein abschreckendes Beispiel dafür bieten die Biographien der sieben Weisen, der Gesetzgeber, Philosophen, Rhetoren u.a. von Kallimachos' Schüler Hermippos, auf den ein großer Teil des uns erhaltenen Materials (bei Plutarch, Diogenes Laertius, Diodor X) zurückgeht. Ähnlich haben auf mythographischem Gebiet Mnaseas von Paträ, Dionysios Skytobrachion von Mytilene und zahlreiche andere gearbeitet. Für uns kommt noch der Mißstand hinzu, daß uns diese gesamte Literatur, von [216] einzelnen Fragmenten namentlich bei Athenäos abgesehen, nur aus dritter und vierter Hand erhalten und dadurch nicht unwesentlich entstellt ist361.

Auch die seit Hellanikos vernachlässigte Chronologie erwacht in der hellenistischen Zeit zu neuem Leben. Zahlreiche Forscher haben sich bemüht, die verschiedenen Traditionen auszugleichen und zu einem festen System zu gelangen. Von großer Bedeutung war namentlich Timäos von Tauromenion (erste Hälfte des 3. Jahrhunderts), der die verschiedenen Ären miteinander verglich und zuerst die Rechnung nach Olympiaden einführte. Er hat zugleich die Geschichte der Westgriechen und der ihnen benachbarten Völker abschließend bearbeitet. Für die Chronographie ist das System des Eratosthenes (um 220) maßgebend geworden: seine Ansätze (Zerstörung Trojas 1184, dorische Wanderung 1104, ionische 1044, Lykurg 885) haben allmählich alle anderen verdrängt362. Der allgemeinen literarischen Tendenz der Zeit entsprechend hat man sich namentlich bemüht, die Hauptdaten der Literatur- und Kulturgeschichte zu bestimmen. Man setzte eine Anzahl von Epochendaten fest, die durch wichtige politische [217] Ereignisse, Regierungswechsel, Kriege u.a. bestimmt waren, und reduzierte auf sie die sonstigen gleichzeitigen Ereignisse, namentlich die Lebenszeiten der Schriftsteller363. Von den zahlreichen zum Handgebrauch bestimmten Chroniken (Polyb. V 33, 5) ist uns eine aus dem J. 264/3 inschriftlich in der sogenannten Parischen Chronik erhalten. Die weiteste Verbreitung fand die für den Schulgebrauch in Versen abgefaßte Chronik des Apollodor (bis 144 v. Chr.). An sie reihen sich zahlreiche spätere Arbeiten, unter denen die Chronik des Kastor von Rhodos (um 40 v. Chr.) hier eine besondere Erwähnung verdient, weil sie zuerst die römische Geschichte synchronistisch berücksichtigte. Natürlich enthielt diese Literatur ein sehr umfangreiches tralatizisches Material, das sich trotz aller Differenzen der Systeme von einem zum anderen bis auf die christlichen Chronographen fortpflanzte.

Zu Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. hat die antike Gelehrsamkeit ihren Höhepunkt bereits überschritten. An die Stelle selbständiger Forschung beginnt die Sammlung und Verarbeitung des Gewonnenen zu umfangreichen Handbüchern und Kompendien zu treten. Schon die Arbeiten Apollodors tragen diesen Charakter, ebenso die Sammlung der Mythen des Kyklos durch Dionysios Skytobrachion (o. S. 216, um 100 v. Chr.), die großen literarischen Sammelwerke des Alexander Polyhistor (um 70 v. Chr.) und die zahlreichen verwandten Werke, sodann die exegetischen und grammatischen Arbeiten der Philologen der Zeit des Antonius und Augustus, wie des Didymos Chalkenteros und seiner Genossen. Auch das umfangreiche geographische Werk des Strabo (um 18 n. Chr.), eine historische Länderkunde im umfassendsten Sinne – der feste Glaube an Homers Weisheit und die Zuverlässigkeit seiner Nachrichten gereicht ihm nicht zur Zierde, aber uns sind dadurch umfassende und höchst wertvolle Auszüge aus Demetrios von Skepsis und Apollodor erhalten –, ist zum großen Teil eine [218] Verarbeitung älterer Werke. In der allgemeinen und technischen Geographie reproduziert er lediglich und nicht ohne Irrtümer seine Vorgänger; selbständig und zum Teil vortrefflich sind dagegen die Länderbilder, die er entwirft. Nicht nur das Streben, das Gewonnene festzuhalten, und das Bewußtsein, über die Schulhäupter nicht hinauszukönnen, sondern auch das Gefühl, am Ende einer großen Epoche historischen Lebens zu stehen, der Untergang der letzten hellenistischen Staaten, die Anbahnung des Kaiserreichs und der damit erreichte definitive Abschluß der Entwicklung des Griechentums haben diese Wendung der Literatur veranlaßt. Sie hat auf dem Gebiete der Geschichte im engeren Sinne in der augusteischen Zeit eine Anzahl großer Universalgeschichten hervorgerufen, wie die des Diodor von Sizilien, des Timagenes von Alexandria, des Nikolaos von Damaskos, die lateinisch geschriebene Geschichte der außerrömischen Völker des Galliers Trogus Pompejus. Auch die Arbeiten des Nepos, des Hygin u.a., welche den Römern die griechische Geschichte zugänglich machen sollten, gehören hierher. Von den meisten dieser Werke sind uns im Original oder in Auszügen umfangreiche Stücke erhalten. Für uns sind sie unentbehrlich, aber ihr Wert richtet sich lediglich nach den Quellen, die sie benutzen. Der Autor, der sich am engsten an seine Vorlage anschließt und am wenigsten eigene Gedanken und selbständigen Überblick hat, Diodor von Sizilien, ist für uns der wertvollste, weil er seine Vorlagen – für die griechische Zeit vom troischen Kriege an Ephoros, Timäos und Apollodor und daneben einige Einlagen, wie die Geschichte der sieben Weisen aus Hermippos – am unverfälschtesten wiedergibt. Gleichartig sind zahlreiche andere Sammelwerke, wie das Schriftstellerlexikon des Demetrios von Magnesia (um 50 v. Chr., περὶ ὁμωνύμων), das Städtelexikon des Philo von Byblos (unter Hadrian, περὶ πόλεων καὶ οὓς ἑκάστη αὐτῶν ἐνδόξους ἤνεγκε) u.a. An sie reihen sich die rhetorischen, namentlich von der neuen Sophistik produzierten Sammlungen alles Wissenswerten teils auf bestimmten Gebieten, teils aus allen Zweigen des Wissens, wie die Kollektaneen des Plinius und Gellius, Favorinus' παντοδαπὴ ἱστορία, Athenäos' δειπνοσοφισταί, Polyäns [219] Strategeme, Pollux' Lexikon usw., denen sich die gleichartigen Arbeiten bis auf die byzantinische Zeit herab – unter allen am wichtigsten das geographische Lexikon des Stephanos von Byzanz – anschließen. Die meisten dieser Werke würden völlig wertlos sein, wenn wir ihre Vorlagen besäßen; da aber die ältere Literatur nur in ihnen oder aus ihnen erhalten ist, sind sie für uns unschätzbar364.

[220] Eine hervorragende Stellung nimmt unter den Schriftstellern der Kaiserzeit Plutarch von Chäronea (unter Trajan) ein. Ausgerüstet mit umfassender Belesenheit, namentlich in der poetischen und philosophischen Literatur, und mit feiner und zarter Empfindung für psychische Vorgänge, aber ohne politisches Verständnis und ohne die Fähigkeit, die alte Zeit zu begreifen, hat er es unternommen, die bedeutendsten griechischen und römischen Staatsmänner in lebendigen und schön geschriebenen Biographien dem größeren Publikum vorzuführen. Für uns kommen hier nur die Biographien des Theseus, Lykurg und Solon in Betracht. Es ist natürlich, daß Plutarchs Hauptquellen die Schriften der hellenistischen Zeit sind; war doch in ihnen das Material gesammelt und durch Kombinationen erweitert – vielfach erst geschaffen –, die zerstreuten älteren Notizen in sie aufgenommen. So kennt Plutarch die politischen Schriften des Aristoteles, die Gedichte und Gesetze Solons, die Darstellung des übrigens von ihm wenig berücksichtigten Ephoros u.a. nur aus zweiter Hand. Doch tritt auch hier eine ausgedehnte Belesenheit hervor, wenngleich nicht in dem Umfange wie in den Biographien der großen attischen Staatsmänner. Auch die zahlreichen sonstigen Schriften Plutarchs enthalten reiches Material, darunter eine Sammlung von Lesefrüchten in den Quaestiones Graecae und in den Apophthegmensammlungen. – Neben Phutarch muß hier die unter Kaiser Marcus verfaßte Periegese Griechenlands von Pausanias genannt werden. Es ist das ein Erzeugnis der sophistischen Literatur, bei dem für den Verfasser der gesuchte Stil, die manierierte Nachahmung älterer Autoren fast die Hauptsache bildet. Dadurch sind ihre Angaben nicht selten getrübt, aber die Fülle des in ihr enthaltenen Materials, das zum Teil auf Autopsie und Lokaltraditionen, [221] zum großen Teil aber auf älteren wissenschaftlichen Werken beruht, macht sie für uns unschätzbar. Sehr zahlreich sind die historischen und mythologischen Exkurse, in denen uns vielfach die Lokaltradition mitgeteilt wird, d.h. diejenige Form der epischen Überlieferung, welche die einheimische Bevölkerung resp. die Lokalgelehrten glaubten oder sich durch Kombination zurechtgemacht hatten.

Um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. beginnt der geistige Niedergang der antiken Welt. Auch in der Literatur tritt er überall hervor. Die steigende Verflachung der Bildung führt zu einer stetig wachsenden Beschränkung der Lektüre und des Wissens; gegen Ende des 2. Jahrhunderts reichen bei der Masse der Gebildeten (z.B. bei Aristides) die Kenntnisse bereits kaum wesentlich über das hinaus, was auch uns erhalten ist. In der Geschichtsschreibung gewinnt mehr und mehr die Chronik die Alleinherrschaft; die wenigen rühmlichen Ausnahmen kommen an dieser Stelle nicht in Betracht. Von einem selbständigen Urteil über die ältere Zeit kann nicht mehr die Rede sein; die zahlreichen widersprechenden Angaben, denen gegenüber ein eigenes Urteil nicht mehr möglich ist, führen zu einem oberflächlichen Skeptizismus (vgl. Varro bei Censorinus I 21). Der bekannteste Vertreter desselben ist Phlegon (unter Hadrian), der in seiner Chronik den Anfang der beglaubigten Geschichte auf Ol. 1 herabdrückte. Berechtigung hat das sowenig wie die Fixierung des Ausgangspunkts auf die dorische Wanderung oder den troischen Krieg durch Ephoros und Apollodor, und von wissenschaftlicher Kritik ist Phlegon mit seinem naiven Wunderglauben noch viel weiter entfernt als diese. Dagegen ist es begreiflich, daß den jüdischen und christlichen Apologeten (am wichtigsten Tatian um 175 und Clemens von Alexandria um 200) und Chronographen ein derartiger Standpunkt, der ihnen die Bestreitung der heidnischen Überlieferung und ihre Ausgleichung mit der biblischen wesentlich erleichterte, sehr willkommen war. In die christlichen Chroniken mündet die Geschichtstradition aus; durch Africanus (221) und durch die weit größer angelegte Chronik des Eusebius (bis 325 n. Chr.) ist uns von dem jahrhundertelang zusammen getragenen und überarbeiteten chronographischen Material, [222] wie für alle Gebiete, so auch für die ältere griechische Geschichte (die Königslisten aus Kastor und Diodor, die Olympioniken aus Africanus, dazu die zahlreichen Notizen des Kanons) ein nicht unbeträchtlicher Bruchteil erhalten365. Die späteren byzantinischen Weltchroniken, welche die älteren Werke ausschreiben und zum Teil miteinander kombinieren, kommen für uns nur in vereinzelten Fällen in Betracht. Noch dürftiger sind die Übersichten der alten Geschichte, welche im Abendlande während des Mittelalters sich von einer Chronik zur anderen vererben und ihr Material fast ausschließlich der von Hieronymus verfaßten Überarbeitung des Eusebius entnehmen. Daneben ist namentlich Orosius von maßgebendem Einfluß gewesen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 202-223.
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