Wesen der griechischen Kolonisation

[410] Die fortschreitende maritime Entwicklung führt zu einer neuen Kolonisation. Wie die Entdeckung Amerikas eine Jahrhunderte andauernde Emigration zur Folge hatte, so in der griechischen Welt die Entdeckung neuer, von unkultivierten und wenig widerstandsfähigen Stämmen bewohnter Küsten. Auch jetzt ist es die überschüssige Bevölkerung, die sich einen Abfluß über See sucht. Und wiederum sind unter den neuen Kolonien viele reine Ackerbaukolonien, so die in Troas, auf der Chalkidike, in Unteritalien; andere, wie die sizilischen Städte, Kyme, Kyrene, haben starken Zuzug von Bauern aus der Heimat erhalten. Aber in der Regel wurden, wie bei der Besiedlung der Neuen Welt, durch die maritimen Interessen der Auswanderung die Wege gewiesen; zahlreiche neue [410] Ansiedlungen sind ihrem Ursprung nach Handelskolonien, die erst allmählich ein größeres Landgebiet erwerben. Bei dem damaligen Stand der Schiffahrt waren Küstenpunkte als Handelsplätze verwertbar, die nach späteren Begriffen jedes Hafens entbehrten, so die Ansiedlungen am Schwarzen Meer. Dicht nebeneinander entstehen Kolonien der konkurrierenden seefahrenden Städte. Mehrfach werden die wichtigsten Stationen, die Endpunkte, vorweggenommen, die zwischenliegenden Küsten erst allmählich okkupiert. Manche Kolonien sind offenbar erst langsam zu selbständigen Gemeinden erwachsen, aus Handelsfaktoreien nach Art der Phöniker oder aus Niederlassungen einzelner Bauern. In der Regel aber verfuhr man systematisch. An die Spitze der Auswanderer wird ein Ökist gestellt, der das neue Gemeinwesen selbständig organisiert und nach seinem Tode heroische Ehren erhält613. Der Grundplan der neuen Stadt wird abgesteckt, am liebsten in Form eines Rechtecks, das von zwei geraden, in der Mitte sich kreuzenden Hauptstraßen durchschnitten wird; wo es die Bodenverhältnisse gestatten, sind sie nach den Himmelsrichtungen orientiert (vgl. u. S. 483, 1). Das Land wird aufgeteilt und durch das Los assigniert, den Göttern ihre Bezirke überwiesen. Die Mutterstädte wahren sich die Hoheit über die Kolonien. Nicht selten erhalten sie Tribut (Xen. Anab. V 5, 10); nach Potidäa sendet Korinth jährlich Aufsichtsbeamte (ἐπιδημιουργοί Thuk. I 56). Neben den politischen wirken die religiösen Bande; ein Krieg der Kolonie gegen die Mutterstadt gilt für einen Frevel wie die Empörung des Sohns gegen den Vater. Solange man der Nachzüge aus der Muttergemeinde bedurfte, ergab sich dieses Verhältnis von selbst; daher ist es auch allgemeiner Brauch, daß die Tochterstadt, wenn sie neue Kolonien gründet, sich den Ökisten aus der Heimat holt. Meist freilich war eine Herrschaft, wie sie die Phöniker über ihre Kolonien jahrhundertelang ausgeübt haben, bei der Kleinheit und Zerrissenheit der Mutterstädte auf die Dauer nicht durchführbar, namentlich wenn die Kolonie zu selbständiger [411] Bedeutung erblühte. Nicht selten sind Kolonien auch dadurch entstanden, daß eine unterliegende Partei aus der Mutterstadt auswanderte und sich eine neue Heimat suchte. – Das Verhältnis zu den Ureinwohnern gestaltete sich verschieden je nach ihrem Kulturzustande und nach der Stärke, in der die Kolonisation auftrat. Anfangs herrschten in der Regel freundliche Beziehungen (vgl. o. S. 391); waren die Kolonisten stark genug, so haben sich mehrfach Verhältnisse entwickelt wie in den Kolonien in Amerika und der Südsee: die Eingeborenen werden zu Leibeigenen oder doch zu rechtlosen Untertanen gemacht und bestellen den Fremden ihre Felder, so in Syrakus und Unteritalien, in Byzanz und Heraklea. Mehrfach wird auch erzählt, daß die Griechen durch Treubruch die Eingeborenen, die ihnen die Ansiedlung gestattet hatten, überwältigen und vernichten (z.B. in Leontini und Lokri).

Die Kolonisation beginnt etwa um die Mitte des 8. Jahrhunderts. Ihre Blütezeit umfaßt rund ein Jahrhundert, ihre Ausläufer reichen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Historische Nachrichten freilich haben wir über die Kolonisation nicht; was darüber berichtet wird, sind teils Rückschlüsse aus ihrer Existenz und Lage, teils Sagen und Legenden, die zur Erklärung von Institutionen, Kulten, Namen dienen sollen. Daher sind wir auch über die älteren Zustände der Kolonien ohne jede Nachricht; ob zunächst noch ein Königtum bestand, ob sofort eine aristokratische Verfassung eingerichtet wurde, wissen wir nirgends außer bei Kyrene, da sich hier allein das Königtum erhalten hat. In späterer Zeit war es allgemeiner Brauch, wie bei jedem wichtigen Unternehmen, so auch bei Gründung einer Kolonie vorher in Delphi anzufragen (vgl. die Ausnahme bei Herod. V 42), und sehr möglich ist es, daß das auch schon im 7. und 8. Jahrhundert geschah (o. S. 387f.). Jedenfalls war Apollo namentlich für die Ionier und Chalkidier der Gott, in dessen Schutz man die neuen Gemeinwesen an den fremden Küsten stellte. Früh sind daher Orakelsprüche in Umlauf gekommen, welche den Ökisten gegeben sein sollen; Herodot und Antiochos von Syrakus haben viele von ihnen bewahrt, ihnen folgt namentlich Timäos (bei Diodor zum Teil erhalten), während Ephoros mit besserem geschichtlichen Verständnis [412] sie meist beiseiteließ. Historisch ist keins dieser Orakel; vielfach sind sie aus den späteren Schicksalen der Kolonie zurechtgemacht614. Früh wurde auch der Versuch unternommen, den Zeitpunkt der Gründung zu bestimmen; so hat schon Antiochos von Syrakus, dem Thukydides folgt, bestimmte Daten für den Ursprung der sizilischen Städte gegeben. In einzelnen Fällen, namentlich bei den jüngeren Kolonien, mögen diese richtig sein und auf Beamtenlisten u.ä. zurückgehen. Aber die meisten Daten sind unhistorisch; sie beruhen auf allgemeiner Abschätzung und nicht selten auf falschen Kombinationen, häufig sind sie ganz allgemein auf die Epochendaten der alexandrinischen Chronographen gestellt. Daher sind auch Doppeldaten sehr häufig. Ephoros hat deshalb prinzipiell auf jedes feste Datum verzichtet und sich mit ganz allgemeinen Ansätzen begnügt; es ist ein Rückschritt, wenn die Neueren ihm darin nicht gefolgt sind, sondern die alexandrinischen Ansätze als streng geschichtlich betrachten615. Nicht selten ist die Kolonie überhaupt nicht in einem bestimmten Jahre entstanden, sondern allmählich aus kleinen Anfängen erwachsen616.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 410-413.
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