Stamm und Gau. Fortleben des Stammverbandes im Westen

[297] Mit der Durchführung der Seßhaftigkeit ändert sich der Charakter des Stammverbandes. Für das Gefühl beruht er nach wie vor auf der Blutsgemeinschaft, tatsächlich aber machen sich die Interessen des Wohnsitzes immer stärker geltend. Überall kollidieren die lokalen Interessen mit den allgemeinen: Grenzfehden zwischen den einzelnen Gauen, Streitigkeiten über das Acker- und Weideland, über die Verteilung des Quellwassers, über zivilrechtliche Ansprüche (u. S. 328f.) sind unvermeidlich. Der zunehmende Anbau des Landes, die Entstehung neuer Gemeinden mußte diese Entwicklung stetig fördern. Zugleich verlieren mit fortschreitender Kultur die Organe der Einheit, König und Stammversammlung, ihre Bedeutung. Die Stammversammlung kann nur selten zusammentreten, regelmäßig vielleicht nur einmal im Jahr, wie bei den Ätolern und Achäern, oder wenn in Fällen der Not die Bevölkerung durch Feuerzeichen (vgl. Il. Σ 211) oder andere Signale zusammenberufen wird. Für die gesteigerten Bedürfnisse der seßhaften Kultur und namentlich für die Befriedigung und Ausgleichung der lokalen Interessen genügt sie sowenig wie die Rechtssprüche und Anordnungen des Königs und seines Rats – es sei denn, daß eine starke, auf Kriegsmacht und Beamte gestützte Königsgewalt vorhanden ist, wie in der mykenischen Zeit. Die einzelnen Gaue, ja die Dörfer schaffen sich selbständige Organe, Versammlungen und Beamte, und in dem Konflikt der allgemeinen und der lokalen Interessen erweisen sich diese meist als die stärkeren.

[297] So treten landschaftliche Einheiten an die Stelle der Stammeseinheit. Deutlich spricht sich das darin aus, daß neben die alten echten Stammesnamen, wie Ἀρκάδες, Γρᾶες, Μάγνητες, Αἰνιᾶνες, Ἀκαρνᾶνες, Κεφαλλᾶνες, Ἰάονες, Φωκεῖς, Δωριεῖς, Αἰολεῖς, Ἀχαιοί, Αἰτωλοί, Δαναοί, Λοκροί, Πελασγοί, Θεσσαλοί, die Namen auf -ops usw., jetzt landschaftliche Benennungen treten. Die Bewohner der neuen Staaten des Peloponnes nennen sich nach den Landschaften Argos, Lakedaimon, Messene, Valis. Die Arkader zerfallen in die selbständigen Gaue Azania (um Kleitor), Parrhasia, Kynuria, Eutresia, Oresthis, Aigytis, Mainalia; auf gleicher Linie stehen Pisa, Paroreia, Kynuria. Im »Rindslande« Böotien schließen sich die alten Stämme zu dem Volk der Böoter zusammen. Für die früh selbständig gewordenen Gebiete von Phlius, Sikyon, Korinth, Megara, Epidauros u.a. gibt es außer den Doriernamen nur die Benennungen nach dem Vorort. Das Gefühl des Zusammenhangs und auch das Bedürfnis danach bleibt trotz aller Verfeindung der Nachbarn bei einer derartigen Auflösung bestehen, in der Regel auch die alte Stammversammlung. Aber sie wird bedeutungslos, sie schrumpft zu einer religiösen Institution zusammen. Beim Feste des Gottes, der der Repräsentant der Stammeseinheit war und noch immer der Schirmherr des gesamten Landes ist, bei den damit verbundenen Wettspielen und Jahrmärkten vereinigen sich die getrennten Brüder. Auch einzelne alte Satzungen für den ganzen Stamm können sicherhalten; aber sie haben keine politische Bedeutung mehr. Einen derartigen Zerfall haben wir bei den peloponnesischen Doriern kennengelernt. Ebenso lebt bei den Arkadern die alte Einheit, die uns im Stammnamen und in manchen Sagengestalten (Aipytos, o. S. 244, und sein Sohn Kypselos, Agapenor bei Homer u.ä.) entgegentritt, im Kult des Zeus vom Lykaion und seinen Festspielen fort. Als im 6. Jahrhundert der Gebrauch des Geldes aufkam, knüpfte an ihn eine gesamtarkadische Münzprägung an, die für alle Gaue des Landes das gewöhnliche Kurant bildete, ein Beweis, wie stark auf dem Gebiet des Verkehrs das Bedürfnis nach Einigung war. Aber ein arkadischer Staat existiert nicht; das Land zerfällt in eine große Zahl völlig selbständiger Gemeinwesen. [298] Ebenso hat sich das Achäerland an der Nordküste des Peloponnes in einen freilich weit fester gefügten Bundesstaat von zwölf Gauen aufgelöst, dessen Mittelpunkt das Heiligtum des Zeus Hamarios (Homagyrios) von Aigion bildet. In Kleinasien versammeln sich die Bürger der zwölf Ionierstädte im Panionion bei Mykale zum Fest des helikonischen Poseidon, die sechs dorischen Gemeinden zum Apollofest am Triopischen Vorgebirge. Durch diese Verbände, die wohl auch bei den Äolern ihr Gegenbild gehabt haben, sind die Kolonisten erst zu einheitlichen Stämmen geworden; aber politische Bedeutung haben sie nicht gewonnen, wenn man auch in Fällen der Not wiederholt an sie anzuknüpfen versucht hat474.

Auch wo die Einheit des Stammes oder des Gaues gewahrt bleibt, sind die einzelnen Distrikte und Dorfschatten auf dem Wege, sich zu selbständigen Gemeinwesen zu entwickeln. Am deutlichsten ist dies Verhältnis in Elis erkennbar. Die Elier haben immer einen einzigen Staat, gebildet mit eigenen Beamten; die Bronzetafeln von Olympia haben uns mehrere auf den Tagsatzungen des Stammes gefaßte Beschlüsse (α ρατρα τοις αλειοις) aus dem 7. (?) bis 5. Jahrhundert erhalten. Aber daneben besitzen wir aus derselben Zeit Beschlüsse einzelner elischer Gemeinden, die untereinander Bündnisse schließen und Fremden Landbesitz und bürgerliche Ehrenrechte verleihen (IGA. 113. 118. 120), also vollständig souverän handeln, ohne Rücksicht auf den Stammverband, dem [299] sie angehören. Der spätere Staatsbegriff mit seinen scharf umgrenzten Funktionen existiert hier ebensowenig wie in den mittelalterlichen Staatenbildungen; wie der Einzelne, handelt auch jeder Gau und jede Gemeinde so weit selbständig, wie Umstände oder Interesse fordern oder gestatten; wie hätten auch die Organe des Stammes – Versammlung und Beamte – alle Einzelaufgaben lösen und die Interessen der einzelnen Gemeinden genügend vertreten können? Die Urkunde eines hundertjährigen Bundes zwischen den Eliern und dem arkadischen Nachbargau Heräa (IGA. 110) gesteht die selbständige Stellung der Gemeinden offen ein, wenn sie die Verletzung der Urkunde einem jeden verbietet, »sei es ein Bürger, ein Beamter oder eine Gemeinde (δαμος)«. Ebenso bilden die ozolischen (westlichen) Lokrer nur einen Staat475, aber in den einzelnen Gemeinden herrschen Partikularrechte, die Städte Chaleion und Oianthea schließen einen besonderen Rechtsvertrag miteinander (IGA. 322), bei Eurylochos' Angriff im J. 426 handeln die einzelnen Orte gesondert (Thuk. III 101). Ähnliche Zustände herrschen z.B. bei den Phokern, den Ätolern, den Maliern (Thuk. III 92), den Doriern am Öta. Namentlich wenn der Feind im Lande steht, sind die einzelnen Gemeinden gezwungen, auf eigene Faust zu handeln (vgl. Thuk. III 94-102).

In dieser Form hat sich die Stammverfassung im Westen Griechenlands überall erhalten. Es sind die Gebiete, in denen sich die primitive Lebensweise am reinsten bewahrt hat, wo jeder trotzig auf sich selbst ruht, die Waffen nie aus der Hand legt, immer bereit ist zu Gewalttaten, zu Raubzügen gegen die Nachbarn (Thuk. 15), wo aber die kompliziertere Bewaffnung und militärische Ausbildung und darum auch der Adel nur wenig Eingang gefunden hat. Wie die Elier und die ozolischen Lokrer bilden auch die Ätoler, Akarnanen476, Änianen, Doloper und ebenso die epirotischen Stämme eine Einheit; ja in Atolien hat sich die altgriechische [300] Bevölkerung des Unterlandes um Pleuron und Kalydon (Bd. II 1, 263.) mit mehreren halb oder ganz barbarischen Stämmen des Gebirges, den Apodoten, Ophionen, Eurytanen, zu einem festen Bunde vereinigt (Thuk. III 94, 100; vgl. Bd. II 1, 272, 1). Auch die zweiundzwanzig Gemeinden der Phoker bilden immer nur einen Staat und prägen daher ausschließlich Bundesmünzen. Das gleiche gilt von mehreren Gauen Arkadiens, so den Gemeinden der Parrhasier (Lykosura, Trapezus, Akakesion u.a.) und dem Gebiet der »Dreistadt« (Tripolis), d.h. der drei verbündeten Gemeinden Kallia, Dipoine, Nonakris (Pausan. VIII 27, 4); lockerer ist schon der Verband der achäischen Gaue (o. S. 299). – Ihren Ausdruck findet die Einheit hier überall in den regelmäßigen Heerversammlungen, die im Zentrum der Landschaft an geweihter Stätte unter dem Schutze der Stammgötter stattfinden. Dort werden die gemeinen Angelegenheiten beraten, die Beamten gewählt, die Rechtshändel geschlichtet; alles andere bleibt der Willkür der Gemeinde und des einzelnen freien Mannes überlassen. Während der Tagung herrscht am Vorort das regste Leben, da strömt die gesamte freie Bevölkerung zusammen, Zelte werden aufgeschlagen, Feste gefeiert, ein Jahrmarkt gehalten477. Während des übrigen Jahres liegt der Ort verlassen. Denn nur ganz ausnahmsweise hat der König hier seinen Palast; in der Regel hat er wohl in einem der Hauptdörfer des Landes oder auch auf einer Felsburg seinen Sitz, während der Stamm sich an einer freien, geräumigen Stätte versammelt – Schutzvorrichtungen sind ja hier überflüssig. Daher ist uns der Ort der Tagsatzung bei vielen Stämmen gar nicht bekannt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 297-301.
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