[347] Auch die wichtigste aller Kulturerrungenschaften, die Schrift, haben die Griechen aus dem Orient, und zwar von den Phönikern, übernommen526. Die Rezeption muß ungefähr in den Anfang des 9. Jahrhunderts fallen527. Alle Kolonien in Italien und Sizilien wie im Osten verwenden die Buchstabenformen ihrer Mutterstadt, haben also die Schrift bereits mitgenommen. Die Ausbildung der partikularen Alphabete und die Anpassung der phönikischen Schrift an die griechische Sprache muß also vor der Mitte des 8. Jahrhunderts liegen und wird geraume Zeit beansprucht haben. Dazu kommt, daß die erschließbaren Urformen der griechischen Schrift dem Zeichen der Inschrift des Königs Meša' von Moab (geschrieben um 850 v. Chr., Bd. II 2, 72. 118, 1), sehr nahestehen. Andrerseits ist die Schrift in Griechenland jünger als die mykenische Epoche, die Besiedlung Cyperns und die Festsetzung der Dorier im Peloponnes, auf Kreta und Rhodos, da die einzelnen dorischen Gebiete ganz verschiedene Buchstabenformen haben528.
[347] Das phönikische Alphabet besteht aus 22 Konsonanten; die Vokale werden in der semitischen wie in der ägyptischen Schrift ursprünglich nicht bezeichnet. Namen und Reihenfolge der Buchstaben sind willkürlich, aber fest bestimmt; die Griechen haben sie mit den Zeichen übernommen und, von kleinen Änderungen abgesehen, nicht weiter modifiziert. Wohl aber empfanden sie sofort das Bedürfnis nach Vokalzeichen. Sie haben daher den Zeichen von vier für sie wertlosen Hauchlauten ('aleph, he, jod, 'ain) die Werte a, e, i, o gegeben und für den Vokal u ein neues Zeichen aus dem Vau differenziert und an den Schluß der ganzen Reihe gestellt. Hierin herrscht zwischen allen griechischen Schriftarten Übereinstimmung; um so größer ist die Verschiedenheit in der Bezeichnung des tonlosen s, für das drei phönikische Buchstaben zur Verfügung standen. Auf Kreta und den benachbarten Inseln, in Argos, Korinth, Achaia, Phokis, also im Bereich des argivischen Einflusses, wählte man dafür den scharfen emphatischen Zischlaut Ṣade (, – die griechische Namensform ist nicht erhalten), in den meisten anderen Gebieten des Festlandes und – ursprünglich – Kleinasiens das Samech (, abgekürzt und , griech. σίγμα), in einzelnen Gebieten des Festlandes (argivische Akte, Megara, Lokris) und Teilen Ioniens (Rhodos?) das Šîn (sch griech. σάν). Frühzeitig ist dann auch das Bedürfnis erwacht, für die Lautverbindungen th, ph, kh, khs, phs besondere Zeichen zu haben. Für th stand das phönikische Ṭêṭ (Θῆτα) zur Verfügung, für ph erfand man das Zeichen . Für khs wurde in einigen Gebieten eine Variante des Sigma, , verwendet, in anderen das Zeichen erfunden. Jene Gebiete haben dagegen dem den Lautwert kh gegeben und für phs das Zeichen geschaffen, während diese für kh brauchen und für phs das Zeichen erfinden529. Eine noch weit jüngere Stufe der Schrift wird [348] dadurch bezeichnet, daß in Kleinasien mit dem Wegfall des h-Lauts das Zeichen H seine Bedeutung verliert und für das lange offene e verwendet, daneben für das lange offene o ein neues Zeichen erfunden wird. Da außerdem die Formen der einzelnen Zeichen sich in jeder Gemeinde anders entwickeln, herrscht auf dem Gebiete der Schrift dieselbe bunte Mannigfaltigkeit wie in Staat und Religion. Auch hier werden die partikularen Entwicklungen fortwährend durch gegenseitige Beeinflussung und allgemeine Strömungen gekreuzt, das Vorbild der größeren politischen Zentren wirkt auf die Nachbargemeinden, bis schließlich seit dem Beginn des 5. Jahrhunderts die Schrift Ioniens zunächst in der Literatur, dann im privaten, schließlich im offiziellen Gebrauch die Alleinherrschaft gewinnt530.
Die Schrift ist von den Griechen übernommen wie andere phönikische Handelswaren und unzweifelhaft auch zunächst für die Bedürfnisse des Geschäftsverkehrs verwendet worden. Die verschiedenen Zeichen für s machen es wahrscheinlich, daß die Rezeption sich an verschiedenen Stellen unabhängig vollzogen hat. [349] Die Kaufleute sind offenbar die ältesten Träger des Schrifttums in Griechenland gewesen. Der Adel hat von der neuen Kunst lange nichts wissen wollen – im Epos ist es unerhört, daß ein Held schreiben könnte. Seit dem 8. Jahrhundert beginnt man dann allmählich die Schrift auch im öffentlichen Interesse für Aufzeichnungen aller Art zu verwenden – Beamtenlisten, Stammbäume, schließlich offizielle Urkunden, Volksbeschlüsse, Verträge u.ä.531. Wenn man in dem entlegenen Elis im J. 776 v. Chr. begonnen hat, die Sieger in den Olympischen Spielen aufzuzeichnen – es ist das erste griechische Schriftdenkmal, von dem wir Kunde haben, die zweite Stelle nimmt die 754 beginnende Liste der Ephoren in Sparta ein –, so müssen wir annehmen, daß in Ionien schon Jahrzehnte vorher die Schrift zu ähnlichen Zwecken gebraucht wurde. Für literarische Zwecke hat die Schrift erst spät Bedeutung gewonnen; die Literatur lebt im mündlichen Vortrag, ob der Sänger seinen Text, wenn er ihn lernt, aufgezeichnet hat oder nicht, ist gleichgültig. Ein regerer Schriftgebrauch beginnt erst im 7. Jahrhundert; von da an erscheint die Schrift in stets wachsendem Umfang auch auf Grabdenkmälern und Weihgeschenken und als Beischrift auf Kunstdenkmälern und Tongefäßen.