Fall des lydischen Reichs. Die Perser in Kleinasien

[710] Im J. 5531014 hat sich der persische König Kyros gegen seinen Lehensherrn, den Meder Astyages, erhoben; im J. 550 fiel Astyages durch Verrat seines Heeres in Kyros' Hände, seine Hauptstadt Egbatana wurde von den Persern besetzt und ausgeplündert. Damit war das Staatensystem gesprengt, welches aus der Zerstörung der Assyrermacht und den Raubzügen der Nomaden erwachsen war. Die dynastischen und politischen Bande, auf denen es beruhte, waren für Kyros nicht vorhanden; er selbst wie sein jugendfrisches, noch in den Anfängen höherer Kultur stehendes und von dem Glauben an den wahren und lichten, siegverheißenden Gott getragenes Volk brannten vor Begier, weitere Erfolge zu erringen. So schlossen sich alle Mächte gegen Kyros zusammen: Nabonid von Babylon, Amasis von Ägypten, Krösos von Lydien, endlich der spartanische Staat, mit dem Krösos einen Vertrag einging1015. Voll Vertrauen auf seine Macht brach Krösos im Frühjahr 546 in Kappadokien ein; das lydische Heer war bis jetzt unbesiegt, alle griechischen Orakel, Delphi voran, hatten ihm den Sieg verheißen. Wie konnte es zweifelhaft sein, daß der mächtigste König, von dem die Griechen wußten, das Barbarenvolk aus dem inneren Asien, dessen Namen man kaum je gehört hatte, mit Leichtigkeit niederwerfen würde? Aber es kam anders. Kyros warf sich dem Krösos mit voller Macht entgegen, und dieser wurde nach hartem Kampf zum Rückzug gezwungen. Kyros folgte ihm auf dem Fuße; ehe von den Bundesgenossen irgendwer zur [710] Stelle war, kam es in der Hermosebene zu einer zweiten entscheidenden Schlacht. Die lydische Reiterei wurde durch persische Kamelreiter in Verwirrung gebracht und nach tapferer Gegenwehr völlig geschlagen; vierzehn Tage darauf fielen Sardes und mit ihm Krösos selbst in die Hände des Kyros (Herbst 546). Das lydische Reich war vernichtet.

Die jähe Katastrophe des mächtigen Reichs hat auf die Griechen einen ungeheuren Eindruck gemacht: das Bild des Krösos, des edlen, wohlwollenden, freigebigen Fürsten, der durch eine furchtbare Katastrophe von seiner Höhe herabgestürzt wird, ist von der Erinnerung allezeit lebendig bewahrt worden; die folgenden Generationen haben ihre Anschauungen über Menschenlos und Schicksal an seinem Beispiel entwickelt1016. Namentlich die Orakel haben den Schreck über den unerwarteten Ausgang nie verwunden. Nicht daß ihre Stellung dadurch ernstlich erschüttert wäre – der Glaube überwindet noch ganz andere Schläge –, aber empfindlich war es doch, daß sie sich so gründlich getäuscht hatten; noch nach einem Jahrhundert ist Delphi, wie Herodots Erzählungen lehren, eifrig bemüht gewesen, durch Umgestaltung der Überlieferung die Schlappe zu verwischen. Fortan stand es den Orakeln fest, daß Persien unüberwindlich sei; bei jeder Gelegenheit haben sie den Griechen geraten, sich dem übermächtigen Gegner zu fügen und auf jeden Widerstand zu verzichten – bis sie dann aufs neue eine noch empfindlichere Enttäuschung erfuhren. – Kyros hat das lydische Reich in zwei Satrapien geteilt, die von Sardes und die von Daskylion an der Propontis. Ein Aufstandsversuch der Lyder unter Paktyes wurde von Mazares niedergeschlagen. Paktyes suchte bei den Griechen an der Küste Zuflucht, aber vergebens. Das Orakel von Branchidä empfahl seine Auslieferung, und keine der Griechenstädte wagte dem Zorn des Perserkönigs zu trotzen. Die Kymäer schickten den Paktyes erst nach Mytilene, dann nach Chios; die Chioten übergaben ihn den [711] Persern und erhielten zum Lohn dafür die Stadt Atarneus, Lesbos gegenüber, zum Geschenk1017.

Beim Beginn des lydischen Krieges hatte Kyros die griechischen Küstenstädte zum Abfall verleiten wollen, aber vergeblich. Jetzt wurde Mazares und nach seinem Tode Harpagos mit ihrer Unterwerfung beauftragt. Die griechischen Städte machten wohl einen Versuch, den Welteroberern zu trotzen oder doch durch Unterhandlungen die bequemen Zustände der lydischen Zeit zu erhalten. Aber Kyros wies sie ab; nur dem seemächtigen und unbezwinglichen Milet gewährte er ein Bündnis auf die gleichen Bedingungen, wie ehemals Alyattes. Sparta, an das man sich wandte, begnügte sich wohlweislich mit einer natürlich ergebnislosen diplomatischen Intervention. So war aller Widerstand vergeblich. Mit Recht riet die Pythia z.B. den Knidiern von dem aussichtslosen Versuch ab, ihre Landzunge durch einen Kanal in eine Insel zu verwandeln (Herod. I 174). Die Städte, die es auf einen Kampf ankommen ließen, wurden besiegt, das den Lydern treu ergebene Priene erobert und eines großen Teils seiner Einwohner beraubt, Magnesia am Mäander unterworfen, ebenso die Karer und die von Lydien niemals unterworfenen Lykier; die heroische Gegenwehr der Lykierstadt Xanthos und der Karerstädte Pedasos und Kaunos führte nur ihren Untergang herbei. Bald nach 545 war das ganze Festland Kleinasiens den Persern untertan. Auch die vorliegenden Inseln wagten nicht, sich ihren Befehlen zu entziehen, wie schon die Auslieferung des Paktyes lehrte; freiwillig leisteten sie dem Kyros die Huldigung. – Die äußere Stellung der Griechenstädte schien durch den Übergang aus der lydischen in die persische Untertanenschaft nicht wesentlich geändert; aber innerlich war sie von Grund aus umgewandelt. Mit den Lydern stand man seit Jahrhunderten in engen kulturellen und kommerziellen Beziehungen, der nationale Gegensatz war vielleicht nie sehr stark empfunden und unter dem Szepter der Mermnaden immer mehr verwischt; für die Herrscher von Sardes [712] waren die Griechenstädte der wertvollste und unentbehrlichste Besitz, für diese konnte die Verschmelzung mit dem Hinterlande materiell nur Gewinn bringen. Jetzt aber stand man einer Nation gegenüber, die den Griechen in Sitte und Religion gänzlich fremd war, deren Schwerpunkt nicht am Mittelmeer, sondern im inneren Asien lag. Die kleinasiatische Küste war für die Perser nur die entlegenste ihrer Besitzungen; neben den großen Gebieten, die von ihnen schon unterworfen waren oder demnächst erobert werden sollten, spielte sie nur eine sehr untergeordnete Rolle. Der Perserkönig war fern und unnahbar, in seinen Organen erkannte man nur den fremden Herrn, nicht den befreundeten, wohlwollenden Herrscher. Die Rückwirkung auf die Entwicklung der Städte konnte nicht ausbleiben. Den Persern war die republikanische Staatsform bisher ebenso fremd, wie das eigenartige Leben des griechischen Volkes. So griffen sie tiefer und rücksichtsloser in die inneren Zustände ein als die Lyder; überall haben sie das Emporkommen von Usurpatoren begünstigt, die sich eng an Persien anlehnen mußten, um sich zu behaupten, nicht selten offenbar auch geradezu die Tyrannen selbst eingesetzt. Daß sie härtere Steuern erhoben oder absichtlich das Interesse der Städte geschädigt hätten, ist nicht anzunehmen; aber tatsächlich werden sie es auch bei wohlwollenden Absichten nicht selten durchkreuzt haben. So mußte der Wohlstand der Griechenstädte einen schweren Rückgang erleiden. Es ist begreiflich, daß gleich nach dem Siege der Perser der Gedanke aufkam, die kleinasiatische Küste, wo eine selbständige Existenz fortan unmöglich war, zu verlassen und sich eine neue Heimat zu suchen. Schon vor der Einnahme durch Harpagos ist ein großer Teil der Kaufleute Pho käas ausgewandert. Chios weigerte sich, begreiflich genug, ihnen die önussischen Inseln (im Sunde zwischen Chios und dem Festlande) zu verkaufen; so gingen sie nach Massalia und nach Alalia auf Korsika (o. S. 655). Ebenso sind die Bewohner von Teos teils nach Abdera an der thrakischen Küste, wo Klazomenä bereits vor einem Jahrhundert eine Kolonie zu gründen versucht hatte (o. S. 435), teils nach Phanagoreia am kimmerischen Bosporus (o. S. 420) ausgewandert. Einen weit umfassenderen Plan legte bald darauf [713] der prienensische Staatsmann Bias der ionischen Tagsatzung im Panionion vor: alle Ionier sollten nach Sardinien auswandern und hier ein einziges großes Gemeinwesen gründen. Es war eine grandiose Perspektive, die er eröffnete; der Gang der Geschichte des Abendlandes wäre ein anderer geworden, auch das Westmeer hätten die Griechen gewonnen und behauptet, wenn er energisch durchgeführt worden wäre. Aber es ist begreiflich, daß er von der Mehrheit verworfen wurde; die Zeiten der Wanderung waren vorbei.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 710-714.
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