Religion und Individualität. Theologie.

Priester und Religionsstifter

[145] 78. Wie schon angedeutet, ist der Kampf um den religiösen und kulturellen Fortschritt zugleich ein Kampf der Individualität gegen die Macht der Tradition (§ 73); denn aller [145] Fortschritt geht von einzelnen Persönlichkeiten aus. In der Religion gewinnen diese um so stärkere Bedeutung, da die Religion sich nicht nur an die Verbände in ihrer Gesamtheit, sondern innerhalb derselben auch an jeden Einzelnen wendet, diesem Pflichten auferlegt und Mittel zur Förderung seines Gedeihens und seiner persönlichen Ziele zur Verfügung stellt. Allerdings sucht die Religion sein Denken und Handeln einer gleichmäßig für alle geltenden Regelung zu unterwerfen; als die Trägerin der Tradition verkörpert sie zugleich die auf die Homogenität der Gruppe hinarbeitenden, die individuellen Unterschiede ausgleichenden Tendenzen. Aber so umfassende Forderungen sie gleichmäßig an alle stellt, so weiten Spielraum läßt sie daneben der Betätigung der individuellen religiösen Triebe; und damit fordert sie zugleich auf zum Nachdenken über die religiösen Probleme. Da diese mit allen Seiten des menschlichen Lebens und Denkens verknüpft sind, ist der Anlaß dazu um so mannigfaltiger. So tritt neben die Religion des Volks und des Staats, der Verbände, Geschlechter, Familien eine individuelle Religion des Einzelnen, die äußerlich in Kulthandlungen – Opfergaben, Gebeten, Gründung privater Kapellen und Kulte, Verbindung mit einem persönlichen Schutzgott –, innerlich in dem subjektiven Verhalten zu den Geboten der Gottheit und der Ausbildung des eigenen religiösen Denkens ihren Ausdruck findet.

79. Die berufenen Träger der religiösen Spekulation sind ihre offiziellen Vertreter auf Erden, die von der Religion leben, die Priester, Seher u.s.w. In diesen Kreisen kann sich denn auch eine lebhafte derartige Tätigkeit entwickeln, die, wenn die Kultur so weit fortgeschritten ist, in einer religiösen Literatur ihren Niederschlag findet. Nicht nur das Ritual, die im Kultus verwendeten Formeln und Hymnen, die Mythen u.s.w. werden aufgezeichnet, sondern die Überlieferung zugleich geordnet und systematisiert: neben die unmittelbar wirkende Religion tritt die Theologie, welche die Lehre zu erklären, ihre Widersprüche auszugleichen und zu einem einheitlichen System zusammenzufassen sucht. Daneben geht, [146] vielfach mit ihr sich kreuzend, und mischend, eine gleichartige Tätigkeit auf dem Gebiet des Zauberwesens, der erlaubten und von der Religion anerkannten wie der verpönten und vielleicht offiziell verfolgten Magie einher. Andere Gebiete, die von den religiösen Ideen beherrscht werden, können hinzukommen, so vor allem die Aufzeichnung der Gebote der Moral und der Sitte, und der Grundsätze des von den Göttern geforderten Rechts. In diese theologische Entwicklung können neue Ideen Eingang finden – schon der Versuch systematischer Ordnung macht eine Abweichung von den alten naturwüchsigen und widerspruchsvollen Vorstellungen notwendig –; die in der Kulturentwicklung zur Herrschaft gelangten Anschauungen erheischen Berücksichtigung und gestalten die alte Überlieferung stillschweigend um (§ 74), und nicht selten führt die Spekulation noch über sie hinaus; die Priesterschaft steht in Fühlung mit den in der Masse vorwiegenden Tendenzen und gibt ihnen nicht selten eine bestimmte Formulierung und theoretische Begründung. So können die Ideen einer geläuterten Gottesanschauung, des richtigen Rechts und der wahren Moral in ihren Lehren und Schriften zum Ausdruck gelangen. In dieser Weise haben die Priester von Heliopolis in Aegypten, die Brahmanen Indiens, die Lewiten in Israel und Juda, auch die Priester und Propheten von Delphi u.a., und nicht minder die Magier von Iran und die Theologen des Christentums, des Islams, des Buddhismus die Religion weiter gebildet und die in der Entwicklung hervorbrechenden Ideen in geschlossenen Systemen durchgeführt und zu allgemeiner Anerkennung gebracht. Welche Tendenzen dabei die dominierenden und geschichtlich bedeutsamsten sind, ob die theologische Systematik oder die Ausbildung einer höheren Gottesidee oder die ethischen und rechtlichen Gebote, hängt von der Individualität des Einzelfalles ab.

80. Aber die Priesterschaft (und die gleichartigen religiösen Organisationen, wie Mönchsorden u.ä.) ist, als offizielle Vertretung der herrschenden Religion, an diese und die in ihr verkörperte Tradition gebunden; sie kann diese wohl vorsichtig [147] umbilden, aber nicht in offenen Gegensatz zu ihr treten; sie ist gezwungen, oder vielmehr es ist die selbstverständliche Voraussetzung ihres Denkens, die Überlieferung als wahr und unverbrüchlich festzuhalten, und nur im einzelnen richtig zu deuten oder nötigenfalls zu ergänzen und in ihre Konsequenzen zu verfolgen. Es kommt hinzu, daß sie ein geschlossener Stand ist, mit sehr ausgeprägten materiellen Interessen, und daß es ihr eben in dieser Entwicklung und durch sie gelingt, sich nach außen völlig von allen anderen abzusondern (§ 64) – sei es durch Durchführung der Erblichkeit, sei es durch besondere Zeremonien wie die Priesterweihe und Institutionen wie das Coelibat, die jedes aufgenommene Mitglied durch eine unüberbrückbare Kluft von der übrigen Menschheit und ihren Interessen trennen – und als alleinigen Träger der religiösen Offenbarung und des Verkehrs zwischen Göttern und Menschen hinzustellen. Die einzelne Persönlichkeit tritt daher vollständig hinter dem Stande zurück: nur als sein momentaner Vertreter hat sie Bedeutung, etwa wie in der Geschlechtsorganisation der jetzt lebende Hausvater nur der vorübergehende Vertreter der Verkettung der Generationen ist. Auch wenn er selbst eine Lehre zuerst aufstellt oder niederschreibt, ja selbst, wenn eine weit fortgeschrittene literarische Entwicklung schließlich dazu führt, daß der Verfasser eines theologischen Werks mit eigenem Namen auftritt, kommt auf ihn und seine individuellen Anschauungen an sich nichts an, sondern darauf, daß diese von der Gesamtheit der offiziellen Vertreter der Religion und Theologie als Formulierung der richtigen Lehre anerkannt werden. Allerdings kann für diese die Autorität eines großen Namens und die Energie einer Einzelpersönlichkeit von höchstem Werte sein, und so vermag diese dann doch auf die Entwicklung und Ausbildung der Lehre den größten Einfluß zu üben und ihre individuellen Ansichten zum Gemeingut zu erheben. Im entgegengesetzten Falle kommt es zum Konflikt: dann wird der Neuerer mit allen Mitteln bekämpft, seine Lehre unterdrückt und ausgetilgt. Das Entscheidende bleibt hier [148] immer die Gesamtheit, die schon vorhandene oder durch die Wirksamkeit einer mächtigen Persönlichkeit geschaffene Überzeugung des Standes, der sich als den berufenen Vertreter der Religion betrachtet; nur wenn sie von dieser Überzeugung getragen ist, kann eine bedeutende Persönlichkeit innerhalb der bestehenden religiösen Organisation und an ihrer Spitze einen entscheidenden und dann oft sehr lange nachwirkenden Einfluß ausüben.

81. Aber alle großen und umwälzenden religiösen Bewegungen sind nicht aus den Kreisen der Priesterschaft als solcher hervorgegangen – oder wenn ihr Träger einmal ein Priester gewesen ist, wie z.B. Jeremia2, so ist das ein Zufall, der wohl für seine persönlichen Schicksale und Anschauungen, aber nicht für die Bewegung als solche in Betracht kommt. Sie gehen vielmehr von einzelnen Persönlichkeiten aus, die von dem religiösen Gedanken erfaßt sind; und zwar gehen diese weit häufiger aus den niederen Ständen hervor als aus den höheren oder aus der Priesterschaft. Die Religion ist eben nicht der Alleinbesitz einer Körperschaft, so sehr diese versucht, sie zu monopolisieren; sondern ein jeder ist berufen, zu ihr Stellung zu nehmen, und immer von neuem bietet das Leben Anlaß zum Nachdenken über die religiösen Probleme. Auch die Gottheit selbst fügt sich den priesterlichen Vorschriften keineswegs unbedingt; wenn die Ordnung durchgedrungen ist, daß aller geregelter Verkehr mit ihr (namentlich die Opfer) der Vermittlung der Priester bedarf, so kann sie doch, in Träumen und Visionen, aufsuchen wen sie will, und seine Gedanken [149] in ihre Bahnen lenken, ihn zum Verkünder ihrer Offenbarung berufen. Denn die eigenen Gedanken setzen sich um in Eingebungen der Gottheit; nicht der Mensch selbst erzeugt sie durch seinen Willen, sondern sie entstehen spontan und bemächtigen sich seiner Seele mit zwingender Gewalt: er wird zum willenlosen Organ der Gottheit. Zu allen Zeiten treten solche inspirierte Persönlichkeiten auf. Oft sind es nur Träumer und Visionäre, gar nicht selten auch Geistesgestörte, manchmal auch schlaue Betrüger, die durch den Schein der Göttlichkeit und des Wunders, der sie umgibt, großen Anhang finden und zu dauernder Macht gelangen, z.B. neue Staaten oder Dynastien begründen mögen. Aber daneben stehen die Persönlichkeiten, die ganz von dem Ernst und der Wucht der religiösen Gedanken beherrscht sind, so daß sie sich in ihnen verkörpern und all ihr Tun und Reden beherrschen, die Bahnbrecher einer neuen religiösen Idee und damit einer inneren Umwandlung der traditionellen Kultur und ihrer Anschauungen.

82. In allen diesen Bewegungen ist es die Einzelpersönlichkeit, welche sich hier auch auf religiösem Gebiet als das wichtigste Moment der Entwicklung erweist. Was sie trägt und ihr die Kraft der Wirksamkeit verleiht, ist die eigene Überzeugung, der innere Zwang des Gewissens. Für solche Gestalten ist eine Unterordnung unter eine äußere Autorität undenkbar; was sie verkünden, trägt den Stempel der eigenen Persönlichkeit, ihr Name, ihre Individualität gehört notwendig zu ihrer Lehre und ist mit deren Verkündung untrennbar verbunden, da ihre Wahrheit eben nur auf der eigenen inneren Erfahrung beruht – mag sie auch durch äußere Vorgänge, durch ein scheinbares Eingreifen der Gottheit zu ihren Gunsten, nachträglich bestätigt werden. Mögen sie noch so sehr an die Tradition sich anlehnen, mögen sie nur ihren wahren, durch Verfälschung und Unverstand verdunkelten Sinn wieder herzustellen behaupten, mögen sie sogar versuchen, dem Priestertum als dem offiziellen Vertreter der Religion die schuldige Ehrfurcht zu bewahren, tatsächlich stehen sie in schärfster Opposition gegen Tradition und Priesterschaft und die Anschauungen [150] und Bräuche, welche die offizielle Religion und die traditionelle Weltanschauung und Lebensführung beherrschen; statt ihrer verkünden sie die richtige Religion und die echte, in Wahrheit von den Göttern stammende Tradition. Eben darum ist ihr Auftreten immer revolutionär und wirkt in seinen Konsequenzen umgestaltend und oft jäh umstürzend weit über das spezifisch religiöse Gebiet auf alle Gebiete des menschlichen Lebens, auch wenn sie selbst einen solchen Umsturz nicht befördern, sondern schroff abweisen. In ihnen offenbart die Individualität zum ersten Male ihre volle geschichtliche Kraft und erficht ihren ersten entscheidenden Sieg: die Gestalten Zoroasters und der israelitischen Propheten sind die ersten, welche nicht durch ihre Verbindung mit äußeren Ereignissen und der ephemeren Gestalt eines Staats, sondern durch die auf Jahrhunderte und Jahrtausende nachwirkende Macht ihrer Ideen und ihrer persönlichen Überzeugung in der Geschichte fortleben. Neben ihnen ist in Griechenland Hesiod von Askra, und als ein Vorläufer, der nicht zum Ziele gelangt ist, der aegyptische Reformator Echenaton zu nennen. In Zeiten der Gärung, wo das Alte morsch geworden ist und neue Gedanken hervorbrechen wollen, sei es, daß die geistige Kultur, sei es, daß soziale oder politische Momente den Anstoß geben, sei es, daß alle diese Faktoren zusammenwirken, treten sie am zahlreichsten auf und wirken am nachhaltigsten. Niemals können sie ohne hartes Ringen mit den Gegnern sich durchsetzen; die Mächte, die das Bestehende vertreten und unverändert erhalten wollen, treten ihnen entgegen, die Staatsgewalt so gut wie die Priesterschaft, und die Menge, von entgegengesetzten Interessen und Stimmungen bewegt, schwankt hin und her zwischen dem Alltäglichen und Hergebrachten und der neuen Idee, der sie sich zeitweilig mit Enthusiasmus hingeben kann. Oft kommt es zu blutigem Kampf und schonungsloser Verfolgung. Da mögen die Verkünder der neuen Lehre den Gegnern erliegen; aber oft genug führt gerade ihr Untergang zum Sieg ihrer Sache. Dann werden sie zu Stiftern einer neuen Religion oder Reformatoren [151] der bestehenden, die durch sie auch alsdann in ihrem innersten Wesen umgewandelt wird, wenn sie glauben, nur das Echte und Alte zu verkünden und wiederherzustellen.

83. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, diese Gestalten im einzelnen einer schematischen Klassifikation einzuordnen; denn sie gehören der Geschichte an, deren individuelle Momente Wesen und Wirksamkeit eines jeden andersartig gestaltet und mit spezifischem Inhalt erfüllt hat. Nur darauf muß hingewiesen werden, daß zwischen den beiden Hauptfaktoren religiöser Fortbildung, der traditionellen Entwicklung innerhalb einer geschlossenen Körperschaft (des Priesterstandes) und der individuellen und revolutionären in einzelnen Persönlichkeiten (Religionsstiftern), so scharf sie prinzipiell von einander geschieden sind, doch zahlreiche Übergänge vorkommen. Wie innerhalb der Priesterschaft oder der organisierten Kirche Einzelpersönlichkeiten eine beherrschende Stellung gewinnen und tief umgestaltend wirken können – es sei an Augustin und die großen Päpste erinnert –, so können religiöse Bewegungen, die ihrem Wesen nach individuell und umstürzend sind, doch in der Form von Massenbewegungen auftreten, an deren Spitze eine neubegründete religiöse Körperschaft steht, hinter der die Einzelpersönlichkeiten völlig zurücktreten. Das ist vor allem alsdann der Fall, wenn die neue Lehre nicht von der Individualität ihres Begründers getragen wird, sondern sich auf die Autorität eines uralten Propheten beruft und in seinem Namen Anerkennung fordert, wie z.B. bei dem Aufkommen der orphischen Religion und der gleichzeitigen Einführung des reformierten Gesetzes (Deuteronomion) in Juda. Aber auch die Mönchsorden und ihre reformatorische Wirksamkeit gehören hierher: der Unterschied zwischen Hugo von Cluny, Bernhard von Clairvaux, Ignatius von Loyola u.a. (Franz von Assisi wird man dagegen eher den Religionsstiftern zurechnen müssen) und den Reformatoren besteht eben darin, daß sie sich zur Durchführung der neuen Ideen nicht an die Gesamtheit wenden, sondern die Gründung der neuen Brüderschaft, die sie der kirchlichen Autorität zur[152] Verfügung stellen, für sie das Wesentliche ist. – Umgekehrt kann eine Einzelpersönlichkeit die Aufgaben übernehmen, die sonst von der Priesterschaft erfüllt werden. So der Bauer Hesiod von Askra, der das theologische System der griechischen Religion auf stellt, wozu die nicht organisierte und ausschließlich an materielle Interessen gebundene Priesterschaft nicht im stände war, der sich aber mit seinen Zeitgenossen, einem Amos und Jesaja, darin berührt, daß auch er inspiriert ist, daß ihm die Ergebnisse seines Denkens göttliche Offenbarung und untrügliche Wahrheit sind und daß er mit seiner Überzeugung der verfälschten Überlieferung schroff entgegentritt. Die Mannigfaltigkeit der historischen Erscheinungen ist eben unendlich und nicht in feste Regeln zu fassen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 145-153.
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