Rom und Latium bis zur Eroberung Vejis

[124] Um dieselbe Zeit haben sich im Zentrum und im Norden der Halbinsel die tiefgreifendsten Veränderungen vollzogen. In ihrer Mitte begann ein Gemeinwesen zu größerer politischer Bedeutung zu gelangen, das zwei Generationen später das entscheidende Wort über ihr Geschick sprechen sollte; und gleichzeitig überschritt eine neue Nation den Grenzwall der Alpen, welche die ganze Halbinsel mit dem Schrecken ihrer Waffen erfüllte. – In den Landorten des Flachlandes rings um den Albanerberg, an den Abhängen des Apennin und an der Küste von der Tibermündung bis zu dem inselartig aufragenden Felsen von Circei und dem Engpaß von Tarracina saß der kleine Volksstamm der Latiner eingekeilt [124] zwischen den Etruskern im Norden und den Bergvölkern der Sabiner, Äquer, Volsker im Osten und Süden. Die etruskische Herrschaft freilich war gebrochen und daß Rom noch einmal der Sitz eines etruskischen Königsgeschlechts werden sollte, kaum zu befürchten. Dagegen fehlte wenig, daß jetzt auch die Latiner der Invasion der sabellischen Bergvölker erlegen wären wie ihre Stammesbrüder, die Ausoner, Opiker, Önotrer. Von Süden, aus dem Bergland zu beiden Seiten des Liris, dem Apennin um Arpinum und dem isolierten, weit nach Latium hineinragenden Küstengebirge der Monti Lepini, drangen die Volsker (Volser) vor. Die ganze Küste von Kampanien aufwärts211 ist zu Ende des fünften Jahrhunderts in ihrem Besitz; wenn die Ausoner (Aurunker), die ursprünglichen Bewohner dieses Gebiets212, später in Suessa und Minturnä noch wieder genannt werden, so haben sie vermutlich unter der Einwirkung des Vordringens der Römer das fremde Joch abgeschüttelt. Die alte Latinerstadt Tarracina, über die Rom um 500 im Vertrage mit Karthago (Bd. III2, S. 755) die Oberhoheit beanspruchte, ist jetzt zur Volskerstadt Anxur geworden. Weit durch die Pomptinischen Sümpfe und die latinische Ebene dehnten die Volsker sich aus; die etwa im Zeitalter des ersten Punischen Krieges entstandene Coriolansage213 betrachtet, unzweifelhaft mit Recht – denn der Ort ist noch lange volskisch geblieben –, Antium inmitten der Latinerküste, sieben Meilen südlich von Rom, als den Sitz ihrer Regierung und den verschollenen Ort Corioli am [125] Fuß des Albanerberges als eine ihrer Festen. Daß Veliträ am südlichen Abhang des Berges längere Zeit in ihrem Besitz war, beweist noch heute eine Bronzetafel in volskischer Sprache, eine Ritualordnung für den Dienst der Göttin Decluna, welche die beiden volskischen Oberbeamten (medix) für die Gemeinde der Velestrer erlassen haben214. – Nicht minder bedrohlich waren die Äquer in den Apenninketten am oberen Anio und der Hochebene am Fucinersee; fortwährend suchten sie die latinischen Fluren mit Raubzügen heim. Nicht nur das breite Hügelland zwischen dem Apennin und dem Albanergebirge mit den Orten Bola und Labici, sondern auch der Algidus, die Kette am Nordrand dieses Gebirges, mit der Festung Corbio, war jahrzehntelang in ihrem Besitz, ja zeitweilig selbst Tusculum. Die ansehnliche Latinerstadt Präneste am Fuß des Äquergebirges wird sich ihnen angeschlossen haben; mit Rom ist sie erst im vierten Jahrhundert in Beziehungen getreten215. Im Quellgebiet des Trerus, bei Verrugo216, stießen Äquer und Volsker zusammen; die späteren Annalen werden recht haben [126] mit der Annahme, daß beide Stämme im Kampf gegen die Latiner zusammenstanden wenn auch, was sie davon berichten, lediglich Ausschmückung ist.

So ist um die Mitte des fünften Jahrhunderts nur noch die bei weitem kleinere Hälfte der Latiner im Besitz voller Unabhängigkeit; im wesentlichen sind sie auf das Tal des Tiber und des unteren Anio, die Westhälfte des Albanergebirgs und die Küste von der Tibermündung bis in die Nähe von Antium beschränkt, alles in allem ein Gebiet von etwa 27 Quadratmeilen. Aber hier hat sich ihre Nationalität behauptet und von hier aus in hartem Ringen die verlorenen Positionen zurückerobert. Der Hauptteil des Gebiets gehörte den Römern. Rom war unter der etruskischen Dynastie zu einer großen Stadt erwachsen, die an Umfang die meisten Städte des damaligen Italien, ja selbst das themistokleische Athen übertraf, wenn sein Mauerring auch noch manchen unbebauten Fleck und auf dem Esquilin selbst einzelne Haine umschloß217. Seit alters gehörten ihm das breite, tief eingeschnittene Tibertal bis zum Meer, mit dem Hafenort Ostia, und die von zahlreichen kurzen Wasserläufen durchschnittenen Höhen des linken Ufers. Aber weithin hatte es sein Gebiet nach Osten und Norden ausgedehnt218. [127] Die wichtigste Eroberung war die des alten Königssitzes Alba auf den Höhen des Albanerberges und seines ausgedehnten Gebiets. Daneben nennt die Überlieferung zahlreiche verschollene Orte auf dem römischen Gebiet, die ehemals selbständige Gemeinden gewesen seien (Ficana, Tellenä, Antemnä, Collatia u.a., ferner nördlich vom Anio Cänina, Ficulea u.a.); die Annalen verteilen ihre Eroberung auf die einzelnen Könige. Jenseits des Anio war ein großes sabinisches Geschlecht, die Claudier, mit all seinen Hintersassen in die römische Gemeinde eingetreten. Alle diese Orte verloren mit der Einverleibung in Rom ihre Existenz und bestanden höchstens als Dörfer weiter, ohne auch nur eine politische Organisation nach Art der Demen Attikas zu erhalten; ihre Bewohner wurden zu Bürgern von Rom und standen unter seinen Beamten nicht anders als die Einwohner der Hauptstadt und ihres ursprünglichen Gebiets. Als aber Rom den Anschluß der ansehnlichen Landstadt Gabii südlich vom Anio unweit der Äquerberge gewann, hat es ihre Bewohner zwar in die Bürgerschaft aufgenommen, aber ihr die Kommunalverwaltung und die Fortexistenz als Sondergemeinde innerhalb des Staats belassen219 – der erste Schritt auf einer Bahn, die dereinst einer ungeahnten Zukunft entgegenführen sollte.

Die Machtstellung, welche Rom unter den Tarquiniern eingenommen hatte, ist mit dem Sturz des Königtums und im Kriege gegen Porsena verloren gegangen. Aber den Anspruch auf die [128] Suprematie über Latium hielt es fest; auf seinem Gebiete lagen seit dem Falle Albas das Stammesheiligtum des Juppiter Latiaris auf dem Albanerberg und die Quelle Ferentina mit dem Hain, in dem die Stammversammlungen stattfanden. Die Landstädte des noch unabhängigen Gebiets haben seine Führung anerkannt: Aricia und Lanuvium am Südwestfuß des Albanerberges, Laurentum und die Rutulerstadt Ardea an der Küste, Tibur am Rande der Äquerberge, wo der Anio aus dem Apennin hervorbricht, ferner Tusculum am Algidus (o. S. 126), das im J. 478 den Äquern entrissen wurde, aber vielleicht später noch wieder in ihre Hände gefallen ist. Im J. 486 hat Spurius Cassius mit den latinischen Gemeinden den ewigen Bund geschlossen, durch den Rom und Latium sich zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichteten. Wie den Athenern die Gesamtheit ihrer Bundesgenossen, so stand Rom die Gesamtheit der alliierten Latinerstädte als Einheit gegenüber, und in seiner Hand lag daher die politische Führung. Aber anders als dort erkannte Rom seine Bundesgenossen als rechtlich gleichstehend an; für jedes Rechtsgeschäft war das Gericht des Ortes zuständig, an dem es geschlossen war, und der Kriegsgewinn wurde zwischen Rom und den Latinern zu gleichen Teilen geteilt220.

[129] Bis Rom den Anspruch auf die Herrschaft über die Küste bis nach Tarracina zur Wahrheit machen konnte, der in dem Vertrage mit Karthago ausgesprochen ist, sind noch Generationen vergangen; aber den Schutz über die Latiner gegen die Einfälle der Volsker und Äquer hat es nach Kräften geübt. Die Vorstellung freilich, als habe Rom seit dem Beginn seiner Geschichte ununterbrochen Krieg geführt, ist spät und grundfalsch; sie beruht lediglich auf dem Bestreben der späteren Annalisten, die vielen friedlichen und inhaltsleeren Jahre der langen Beamtenliste bis auf die Samniterkriege, so gut es gehen mochte, mit Begebenheiten auszufüllen. Im Durchschnitt mag im fünften Jahrhundert etwa auf acht Jahre ein Krieg gekommen sein, und die Kriege waren kurze Sommerfeldzüge von wenigen Wochen. Aber langsam sehen wir Rom und die Latiner Schritt für Schritt vordringen221. Im[130] Kampf gegen die Volsker war das Hauptziel die Gewinnung der Ebene südlich vom Albanerberg und am Fuß des Volskergebirges, des Pomptinischen Sumpflandes. Eine dunkle Erinnerung erzählte von einer alten Stadt Suessa Pometia, die Rom hier eroberte; aber die Stadt fiel zu den Feinden ab und wurde von den Römern zerstört, die 300 Geiseln, die sie gestellt hatte, auf dem Markt enthauptet. Dauernd scheinen die Latiner dagegen die Stadt Cora am Rande des Volskergebirgs, östlich von Veliträ, behauptet zu haben. Erfolgreiche Kämpfe gegen die Volsker verzeichneten die ältesten Annalen unter den Jahren 478 und 438. Eine andere Sage berichtet von der Zerstörung der Volskerstadt Corioli unweit von Aricia. Im J. 434 wurden die Rutuler von Ardea durch römische Kolonisten verstärkt222. Gegen die Äquer ist um den Besitz von Tusculum und der Höhen des Algidus vielfach gekämpft worden; im J. 424 erfocht der Oberfeldherr (Diktator) Aulus Postumius über sie einen glänzenden Sieg; im J. 409 wurde ihnen Labici, im J. 405 Bola entrissen. – Zugleich suchten die Römer im Tibertal weiter aufwärts zu dringen; schon früh wurde die Feldmark des sabinischen Ortes Crustumerium223 von Rom annektiert, während [131] das benachbarte Nomentum dem Latinerbunde beitrat. Hier gerieten die Römer aber in Konflikt mit der Etruskerstadt Veji, mit der sie auch über die Besitzungen am rechten Tiberufer in fortwährendem Streit lagen. Veji lag auf einem Felsplateau im Quellgebiet des kleinen Baches Cremera, der gegenüber dem Orte Fidenä in die Tiber mündet; es ist begreiflich, daß es sich den Zugang zum Fluß sichern wollte und Fidenä den Römern streitig machte. Zwei Episoden sind aus den ununterbrochenen Kämpfen um diese Position im Gedächtnis geblieben. Einmal hatten die Römer sich an der Mündung der Cremera festgesetzt; aber sie wurden von den Vejentern überfallen und dabei das stolze Geschlecht der Fabier, das bis dahin 6 Jahre hintereinander die eine Feldherrnstelle bekleidet hatte, 300 Mann mit ihren Klienten, bis auf einen Knaben vernichtet (471 v. Chr.)224. Fünfzig Jahre später, im J. 420, fielen die Fidenaten von Rom ab und erschlugen die römischen Gesandten. Aber Aulus Cornelius Cossus rächte die Schmach blutig, indem er den Vejenterkönig Lars Tolumnius im Zweikampf erlegte und sein Panzerhemd in Rom als herrlichste Siegesbeute im Tempel des Juppiter Feretrius aufhing.

Auch in seinen inneren Verhältnissen war Rom ständig vorgeschritten. Allerdings behauptete der Adel nach wie vor die politische Herrschaft; aber wenn es auch Patrizier genug geben mochte, welche ihre Privilegien rücksichtslos ausbeuteten – was die Späteren davon erzählten, ist freilich durchweg Erfindung ohne jeden geschichtlichen Wert und erst nach dem Bilde der Revolutionszeit seit den Gracchen zurechtgemacht; eine lebendige Erinnerung reichte in diese Zeit nicht mehr hinauf, und den älteren Annalisten galt sie gerade umgekehrt als die ideale Zeit eines gerechten und weisen Regiments des Senats –, als Ganzes hat der herrschende Stand offenbar schon damals die weitschauende Umsicht und die Bereitschaft zu zeitgemäßen Konzessionen gezeigt, welche den Staat Schritt für Schritt der Weltherrschaft zugeführt haben. Die verschollenen Staatsmänner des fünften Jahrhunderts, [132] deren Namen in der langen Liste der Jahrbeamten versteckt sind und die keine Kunst mehr zum Leben erwecken kann, müssen manchen gefeierten Männern der Folgezeit an Einsicht und politischer Bedeutung ebenbürtig gewesen sein: sie haben die Grundsteine für den Bau der Größe Roms gelegt. In alter Zeit war wie im mittelalterlichen Griechenland das Stadtvolk, so abhängig es von den vornehmen Herren sein mochte, politisch frei und stimmberechtigt in den auf der durchgeführten Geschlechterorganisation beruhenden 30 Kurien. Die Masse des Landvolks dagegen war politisch unfrei, »Hörige« (clientes) der großen, meistens patrizischen Grundbesitzer; sie wurden von den Grundherrn geschirmt und vor Gericht vertreten und leisteten ihnen dafür Hofdienste und Heeresfolge im Kriege. Doch hat es unzweifelhaft schon in der Königszeit auch freie Bauern und nichtadlige Großgrundbesitzer gegeben. Darauf beruht die von der Tradition an den Namen des Königs Servius geknüpfte Heeresorganisation nach dem Vermögen, d.h. nach dem Grundbesitz. Mit der Begründung der Republik war der ältesten Versammlung des Volks der »Kuriengenossen« (Quiriten) diese Heergemeinde der »Hundertschaften« (Zenturien) zur Seite getreten, die sich ihre Feldherrn, die beiden Prätoren (Konsuln), selbst wählte und über Krieg und Frieden entschied – der Adelsrat der Alten oder »Väter« (patres, senatus) hatte sich freilich das Recht der Bestätigung oder Verwerfung ihrer Wahlen und Beschlüsse vorbehalten. Auch die Gerichtsbarkeit übte die Wehrgemeinde in letzter Instanz; es war Herkommen, wenn auch noch nicht Gesetz, daß die Beamten einer Berufung gegen ihren Rechtsspruch an die Volksversammlung nachgaben und ihr die letzte Entscheidung überließen. Alle diese Einrichtungen sind bis in die Zeit der Samniterkriege nicht angetastet worden; aber neue Institutionen haben sich überall daran angesetzt. Die Plebs, d.h. die Bauernschaft und die Kleinbürger und Handwerker in der Stadt, organisierte sich zunächst als sakrale Gemeinschaft um das an den griechischen Demeterkult anknüpfende Heiligtum der Ceres auf dem Aventinischen Hügel vor der Stadt und wählte sich zwei »Tempelherren« (Ädilen), die zugleich die Aufsicht über ihre Standesgenossen, speziell die Marktpolizei, ausübten. Dann [133] erhielt, im J. 465 (283 u.c.), die Stadtbevölkerung das Recht, sich alljährlich nach den 4 Stadtbezirken (tribus) 4 Vorsteher (tribuni) zu bestellen, die jeden Plebejer, dessen sie sich annahmen, mit ihrem Leibe decken und gegen Willkür oder einen Rechtsspruch der Beamten schirmen durften. Um diesen Rechtsschutz wirksam ausüben zu können, wurde ihnen die Unverletzlichkeit zugesichert; wer es wagen sollte, sie anzutasten, war vogelfrei und konnte von ihnen als Hochverräter vom Tarpeischen Felsen herabgestoßen werden – ein formelles Todesurteil, wie die höchsten Beamten der Gemeinde, konnten sie nicht vollziehen, aber es durfte sich niemand gegen sie zur Wehr setzen, ohne ihre Heiligkeit zu verletzen. Der nächste und folgenschwerste Schritt war die Emanzipation des Landvolks: das Landgebiet wurde in 16 Distrikte (tribus) geteilt, deren Bewohner denen der 4 Stadtbezirke rechtlich gleichgestellt wurden, mit ihnen zusammen in den Versammlungen der Plebs stimmten und die Tribunen wählten, deren Zahl jetzt auf 10 erhöht ward. Nach der Eroberung von Crustumerium (o. S. 131) kam dann als 21. Bezirk die tribus Crustumina hinzu. Den vorläufigen Abschluß dieser Entwicklung bildete die Kodifikation des Landrechts (vgl. Bd. IV 1, 626), die unter starker Benutzung griechischer Rechtssätze in den Jahren 443 und 442 von zwei Zehnmännerkollegien durchgeführt wurde. Fortan waren die Beamten, wie in allen griechischen Staaten außer Sparta, bei der Rechtsprechung an das geschriebene Recht gebunden; auch Rom war damit aus einem patriarchalischen Adelsstaat ein Rechtsstaat geworden225.

[134] Durch diese Reihe von Konzessionen hat der patrizische Adel die Herrschaft in Rom behauptet und die Stadt vor gewaltsamen Krisen bewahrt, wie sie in den griechischen Republiken an der Tagesordnung waren. Zweimal ist im fünften Jahrhundert der Versuch gemacht worden, das Königtum wiederherzustellen, von dem Urheber des Bundes mit den Latinern Spurius Cassius (478 v. Chr.) und von Spurius Maelius (431), und dann nach der Gallierkatastrophe nochmals von Marcus Manlius (376); alle drei Usurpatoren226 sind überwältigt worden, ehe sie ans Ziel gelangt waren. Neben den politischen Reformen gehen die militärischen einher, ja sie sind das ausschlaggebende Moment gewesen227; man wird annehmen dürfen, daß eben die bedrängte Lage, in der sich Rom dauernd befand und die es zwang, alle Kräfte anzuspannen, [135] um seine Machtstellung, ja seine Freiheit und Nationalität zu behaupten, den Adel dazu gebracht hat, der Menge entgegenzukommen. Um die Wehrkraft der Bauernschaft in größerem Maße verwerten zu können, wird sie emanzipiert und mit politischen Rechten ausgestattet; um ihr Vertrauen zu gewinnen, wird ihr das geschriebene Landrecht verliehen. Wir kennen die Heeresverfassung228 Roms um das J. 400 in ihren Einzelheiten nicht; aber das sehen wir, daß sie über die älteren Formen des Adelsheers und auch des ursprünglichen servianischen Klassenheeres weit hinausgewachsen war. Die Wehrpflicht hängt an dem Besitz, der einzelne Mann bewaffnet sich selbst, und die Ärmeren sind daher wie in den griechischen Republiken vom Kriegsdienst ausgeschlossen und höchstens als Troß und als Plänkler verwertet. Das Aufgebot ist ein Hoplitenheer, in dem die militärische Disziplin so strenge durchgeführt ist wie nur in Sparta. Jeder Mann hat dem Befehl des Vorgesetzten unweigerlich zu gehorchen und den Platz innezuhalten, der ihm zugewiesen ist. Daher verliert die Reiterei ihre alte Bedeutung; und gänzlich verpönt ist der Einzelkampf der adligen Recken der Heroenzeit, der die Disziplin sprengt. Von Aulus Postumius, dem Sieger über die Äquer im J. 424, ist im Gedächtnis geblieben, daß er dem eigenen Sohn den Kopf vor die Füße legen ließ, weil er ohne Erlaubnis seinen Platz in der Schlachtreihe verlassen hatte, um sich auf einen Zweikampf einzulassen229. Denn wie in Sparta die Königsgewalt, so besteht auch in Rom die Beamtengewalt im Felde in unverändertem Umfang. [136] Alle Konzessionen gelten nur für den befriedeten Stadtbezirk, die Provokation an die Volksversammlung, das Einschreiten der Tribunen; jenseits des geheiligten Mauerrings ist der Beamte Herr über Leben und Tod, und seine Büttel tragen die Beile in den Rutenbündeln, mit denen sie die Exekutionen vollziehen. – In Notfällen kann, wie früher schon erwähnt wurde (Bd. III2, S. 754), an Stelle der beiden gleichberechtigten Feldherrn von einem derselben ein einziger Kriegsoberst (magister populi, später dictator) ernannt werden, dem als Gehilfe ein Reiteroberst (magister equitum) zur Seite tritt. Als die Aufgaben des Oberamts in Krieg und Frieden sich mehrten, hat man vom J. 436 ab je nach Bedürfnis nicht selten an Stelle der zwei auch drei oder mehr (bis sechs) Oberbeamte ernannt, die von der Überlieferung als »Offiziere mit Konsulargewalt« (tribuni militum consulari potestate)230 bezeichnet werden. Eine Verfassungsänderung aber war damit nicht verbunden.

Die Fortschritte der staatlichen Gestaltung wirkten wieder fördernd auf die innere Entwicklung des Gemeinwesens zurück. Das Geschäftsleben und der Handel konnten sich unter der festen, ihre Bedürfnisse berücksichtigenden Rechtsordnung frei bewegen; der Wohlstand mehrte sich und damit zugleich die Steuerkraft der Gemeinde. Nicht wenige plebejische Häuser gelangen zu Reichtum und großem Grundbesitz und können in ihrer Lebenshaltung mit den alten Adelsgeschlechtern wetteifern und wie diese einen großen Anhang um sich sammeln und politischen Einfluß erstreben. Auch diesen Bestrebungen ist die Regierung entgegengekommen. Zu dem Adelsrat der »Väter« werden plebejische »Beigeschriebene«[?] (conscripti) hinzugezogen, denen freilich ein Anteil an dem Recht[137] der Bestätigung der Wahlen und Gesetze nicht zusteht. Für die unteren Ämter und die Offiziersstellen waren Plebejer seit langem nicht mehr zu entbehren. In dem zweiten Zehnmännerkollegium für die Gesetzgebung sind mehrere Plebejer, und 50 Jahre später erhalten sie vereinzelt Zutritt zum Oberamt. Zum ersten Male erscheint im J. 391 ein Plebejer unter den Konsulartribunen, im nächsten Jahre sind es sogar 5 unter 6; dann finden sich Plebejer mit Sicherheit noch in den Jahren 387, 374, 370, 369. So dürftig diese Daten sind, sie zeigen, daß die Plebejer sich fühlen gelernt haben und daß der Kampf um die Gleichberechtigung beginnt, zugleich aber auch, daß, so heftig in einzelnen Jahren gestritten sein mag, der Adel es verstanden hat, im richtigen Momente nachzugeben – denn ohne die Einwilligung der »Väter« konnte die Wahl nicht perfekt werden – und dadurch seine herrschende Position immer aufs neue zu festigen.

Die äußere Geschichte Roms und Latiums im fünften Jahrhundert hat sich unzweifelhaft wenig von dem unterschieden, was sich an vielen anderen Stellen Italiens abspielte, und bietet, an sich betrachtet, nichts, was die Aufmerksamkeit der Kulturwelt in höherem Maße auf sich ziehen konnte. Aber sie enthält die Voraussetzung für die innere Entwicklung des Staats, und darin besteht ihre Bedeutung. In der Tat sind alle Institutionen, auf denen die zukünftige Größe Roms beruht, jetzt bereits vorgebildet: bei einer in liberaler Richtung fortschreitenden Ausbildung der Verfassung und des Rechts die Behauptung einer starken Regierungsgewalt und vor allem eines immer kräftiger entwickelten Heerwesens; die Heranziehung und steigende Anspannung aller Kräfte des Staatsgebiets und die Ausgleichung aller Gegensätze innerhalb desselben, die Beseitigung jedes Unterschieds zwischen einer herrschenden Bürgerschaft und einer beherrschten und zinsenden und daher militärisch und politisch nicht leistungsfähigen Untertanenschaft; die Aufnahme fremder Gemeinwesen in den Staatsverband zu gleichen Rechten mit Wahrung ihrer lokalen Sonderinteressen, wie sie zuerst gegen Gabii geübt ist und für die Zukunft die Möglichkeit bietet, daß die Stadtgemeinde Rom ständig weiter hineinwächst in Italien und in ganz anderer [138] Weise als Athen, das über die Grenzen von Attika nicht mehr hinaus konnte, trotz der Formen des Stadtstaats sich umwandelt in einen ein gewaltiges Gebiet umfassenden Einheitsstaat; endlich der feste Anschluß verbündeter Gemeinden, die die äußere Politik an Rom abgeben, aber weder zu Periöken noch zu tributären Untertanen degradiert werden und daher eine ganz andere Ausnutzung ihrer Wehrkraft gestatten, als das je einer herrschenden griechischen Stadt ihren Untertanen gegenüber möglich gewesen ist. Diese Liberalität in allen großen politischen Fragen ist das Entscheidende, der charakteristische Grundzug des römischen Staatswesens; auf ihr beruht es denn auch im letzten Grunde, daß, wenn denn einmal die Welt von der Tiber aus regiert werden sollte, die Weltsprache nicht volskisch oder äquisch geworden ist, sondern lateinisch. – In den ersten Jahren des vierten Jahrhunderts beginnt Rom nach einer langen Zeit langsamen Fortschreitens zum erstenmal nach allen Seiten gewaltig um sich zu greifen: die Früchte der bisherigen Entwicklung beginnen zu reifen. Um größere Heere dauernd im Felde halten zu können, wurde jetzt ein Sold für die Truppen eingeführt, der durch eine den Bürgern distriktsweise auferlegte Umlage (tributum) aufgebracht wurde. Den Volskern wird die ganze Ebene entrissen, im J. 397 selbst Anxur (Tarracina) besetzt. Veliträ (395) und Circei (384) werden als latinische Städte wiederhergestellt. Auch Antium wird jetzt dem Bunde beigetreten sein. Alle gewonnenen Positionen freilich konnten nicht behauptet werden; Veliträ und Satricum (in der Nähe von Antium) fielen 384 ab, Verrugo im Quellgebiet des Trerus ging an die Volsker oder Äquer verloren (398 oder 385). Dafür erlitten die Äquer 384 eine schwere Niederlage. Gleichzeitig hatte Rom sich zum entscheidenden Schlage gegen Veji aufgerafft; nach harten Kämpfen, in denen die Römer einmal eine empfindliche Niederlage erlitten, wurde die Stadt eingeschlossen und, angeblich im elften Jahre des Kriegs, im J. 387 von Marcus Furius Camillus erobert. Gewaltige Beute fiel den Siegern in die Hände; aus dem Zehnten weihten die Römer einen goldenen Dreifuß nach Delphi ins Schatzhaus der Massalioten. Die Stadt wurde zerstört, die Feldmark mit den Latinern geteilt. Die an das römische Gebiet grenzenden Distrikte [139] wurden unter die Bürger aufgeteilt; auf ihrem Anteil, weit nach Etrurien hinein vorgeschoben, gründeten die Latiner zwei neue Bundesstädte, Sutrium und Nepet.

Durch die Eroberung Vejis wurde Roms Gebiet nahezu verdoppelt; es war jetzt eine der ansehnlichsten Mächte in Italien geworden. Ohne es zu ahnen, wuchs es hinein in die politischen Aufgaben, welche die hellenische Nation seither vergeblich zu lösen versucht hatte. Seit alters standen die Latiner nicht nur kulturell mit den Griechen in vielfachen Beziehungen; wie mit Massalia (Bd. IV 1, 635.) und ehemals mit Kyme, so mit Sizilien war Rom nicht nur durch den Handel, sondern ebensosehr durch den gemeinsamen Gegensatz gegen die Etrusker verbunden. Wie stark das Gefühl der Zusammengehörigkeit war, spricht sich darin aus, daß Massalia zu der Summe beigesteuert hat, durch die Rom sich von den Kelten loskaufte (u. S. 149,1), und deutlicher noch darin, daß der griechische Schriftsteller Heraklides aus Heraklea am Pontos (um 340) Rom eine griechische Stadt nannte (u. S. 147,1). Motiviert wurde diese Anschauung in der Tradition, der Heraklides folgte, ohne Zweifel dadurch, daß die griechische Ethnographie Rom wie so viele andere Völker Italiens von den Heroen des troischen Kriegs ableitete. Dennoch dürfen wir sie als einen lebendigen Ausdruck der politischen Interessengemeinschaft be trachten; schwerlich hätte man je von einer etruskischen oder sabellischen Stadt das gleiche gesagt. Ohne Zweifel sind, wenn nicht früher, so doch jetzt auch zwischen Dionys und Rom politische Beziehungen, angeknüpft worden. Als Seeräuber von Lipara die Gesandten mit dem römischen Weihgeschenk nach Delphi abfingen, hat der Strateg der Insel, die kurz vorher von Dionys unterworfen war (o. S. 122), sie befreit und ihnen den kostbaren Schatz zurückgegeben. Jetzt führte Rom erfolgreich den Krieg gegen die Etrusker, den die Griechen niemals ernstlich hatten in Angriff nehmen können, und bereitete dadurch eine Umwälzung der politischen Lage ganz Italiens vor. Gleich nach dem Siege über Veji ging es weiter. Cäre, die südlichste Etruskerstadt an der Küste, hat offenbar den Fall von Veji gern gesehen und erscheint in den nächsten Jahren mit Rom eng verbündet. Dagegen griff Rom gleich [140] im J. 387 Falerii mit Erfolg an, und im J. 383 schlug es die Volsinier. Offenbar war seine Absicht, im Tibertal vordringend ganz Südetrurien zu erobern. Da trat ihm mitten im Siegeslaufe ein neuer unbekannter Feind entgegen, der ihm mit jähem Schlage fast das Schicksal Vejis bereitet hätte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 124-141.
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