Athen. Sturz der Alkmeoniden. Themistokles und Miltiades

[290] Die Bedrängnis der Ionier, welche so rasch auf ihren tollkühnen Zug gegen Sardes gefolgt war, mußte den Athenern die Augen öffnen über die kurzsichtige Art, wie die maßgebenden Staatsmänner die Politik geleitet und den Staat unmittelbar an den Rand des Abgrunds geführt hatten. Blindlings war man in den Konflikt hineingerannt, ohne auch nur zu fragen, ob er sich vermeiden lasse: jetzt stand die Krisis unmittelbar bevor. Denn daß nach dem Falle Milets der Großkönig einen Rachezug entsenden werde, konnte kein Mensch bezweifeln. So erhob sich eine stets anwachsende Opposition gegen das Regiment der Alkmeoniden und ihrer Genossen. Der Gedanke mochte laut werden, daß einzig ein Abkommen mit Persien Rettung bringen könne, auch wenn man als Preis dafür den verjagten Tyrannen wieder aufnehmen müsse. Nur so wird es sich erklären lassen, daß im Jahr 496 Hipparchos, der Sohn des Charmos, ein Verwandter und, wie schon der Name sagt, ein eifriger Parteigänger des Pisistratidenhauses, zum Archon gewählt wurde346. Demgegenüber forderten andere die energische Vorbereitung für den Entscheidungskampf. An ihre Spitze trat Themistokles, der Sohn des Neokles aus dem Adelsgeschlecht der Lykomiden347. Seine Vorfahren hatten im Staat keine [291] größere Rolle gespielt, seine Mutter war eine Fremde; um so mehr Erbitterung gegen ihn hat es erregt, daß er sich nicht den führenden Geschlechtern anschloß, wie Xanthippos und Aristides (o. S. 284), sondern selbständig sich seinen Weg bahnte348. Wie kaum einen anderen Staatsmann des Altertums hat ihn im Leben und nach dem Tode der Haß seiner vornehmen Rivalen verfolgt, sein Privatleben mit Schmutz überschüttet, seine Bedeutung herabzudrücken versucht. Seine großen Taten hat man ihm widerwillig lassen müssen; aber über die erste Hälfte seines gewaltigen Lebens[292] ganges ist die Überlieferung fast vollständig verwischt. Die alten wie die modernen Geschichtswerke wissen denn auch wenig genug davon zu erzählen. Aber um so lauter reden die Tatsachen selbst. Nicht um innere Parteigegensätze handelte es sich für ihn, auch nicht darum, für sich selbst die leitende Stellung zu gewinnen: das alles war nur Mittel zum Ziel: der Rettung seiner Heimat aus furchtbarer Gefahr und ihrer Erhebung zur ersten Macht der Mittelmeerwelt galt all seine Tätigkeit. Klar stand ihm vor Augen, daß bei dem sicher bevorstehenden persischen Angriff aller Widerstand zu Lande auf die Dauer unmöglich sei, daß es, wie Hekatäos dem Aristagoras ausgesprochen hatte, nur ein Mittel gebe, die Unabhängigkeit zu behaupten: die Schöpfung einer griechischen Seemacht. Aber er sah auch, daß Athen imstande sei, diese Aufgabe zu erfüllen, und er erkannte die Wege, die zum Ziel führten. Daß er es vermocht hat, den Gedanken in die Tat umzusetzen, daß er mehr als ein Jahrzehnt lang unablässig gekämpft und gerungen hat, bis er die widerstrebenden Elemente niedergeworfen, bis er die Massen dazu gebracht hatte, ans Werk zu gehen, daß er die ganze Bevölkerung mit Enthusiasmus für seine Idee erfüllte und im entscheidenden Moment mit sich fortriß, so daß sie es wagten, alles aufzugeben, um alles zu gewinnen: das ist Themistokles' welthistorische Größe. Mochte das alte Athen darüber zugrunde gehen, mochten die Fundamente des Staats sich verschieben; es gab keine Wahl mehr. Dafür winkte, wenn Athen ihm folgte, am Ziel ein Siegespreis, wie ihn innerhalb der griechischen Welt wenige Jahre vorher auch die kühnste Phantasie nicht hätte erträumen können.

Die Schlacht bei Lade und der Fall Milets brachten den politischen Kampf zur Entscheidung: sie zwangen dazu, dem jetzt unmittelbar bevorstehenden Kriege ins Auge zu schauen. Die herrschenden Klassen, die von Kleisthenes aus der grundbesitzenden Bürgerschaft neuorganisierten Hoplitenbataillone, vertrauten auf ihre Wehrkraft und ihre Hingebung an das Vaterland, die sich im Kampf gegen Chalkis und Theben bewährt hatte, vor der das peloponnesische Heer unter Kleomenes bei Eleusis zurückgewichen war, ohne den Angriff zu wagen. Mit voller Zuversicht blickten [293] sie auf den Schutz der Burggöttin; was vermochte ihnen ein Barbarenhaufe anzutun, und wenn er noch so zahlreich war? Themistokles dagegen wußte, daß alle Tapferkeit, alle Siege zu Lande nichts nützen konnten, solange die Perser die See beherrschten; sie mußten schließlich allen Widerstand erdrücken. Er ließ kein Mittel unbenutzt, das Wirkung versprach. Der Dichter Phrynichos brachte den Fall Milets mit all seinen Schrecknissen auf die Bühne349. Auch wenn es nicht überliefert ist, kann doch niemand bezweifeln, daß er der Politik des Themistokles diente. Er erzielte eine gewaltige Wirkung, die sich darin nur um so deutlicher aussprach, daß man ihn in Strafe nahm, weil er durch die Tränen, in die das Volk ausbrach, das Fest des Gottes entweiht habe. Themistokles gelangte ans Ziel; bei den Wahlen des Jahres 493 wurde er zum Archon gewählt und damit die politische Leitung des Staats in seine Hände gelegt. Als Archontat er den ersten Schritt zur Schöpfung der Flotte; er beantragte die Gründung eines neuen Kriegshafens in den geschützten Buchten der Halbinsel des Piräeus. Bisher genügte für die attischen Kriegsschiffe, offene Fünfzigruderer, der flache Strand von Phaleron; die neue Flotte konnte nur aus Trieren bestehen, und diese bedurften eines Seehafens mit Docks und Arsenalen. Der Antrag wurde genehmigt und der Bau begonnen350.

Da traf, noch im Herbst 493, der seitherige Herrscher der thrakischen Chersones Miltiades, der vor den Persern geflohen war [294] (o. S. 290), mit großem Gefolge und reichen Schätzen in Athen ein. Einem Mann von seiner Stellung, dem Haupt eines der begütertsten und vornehmsten attischen Adelsgeschlechter, dem langjährigen Herrscher über ein weites Gebiet, aus dem Athen direkt und indirekt große Vorteile zugeflossen waren, der auf der Chersones und auf Lemnos und Imbros zahlreichen athenischen Bürgern Grundbesitz und eine neue Heimat geschaffen hatte, mußte die leitende Stellung im Staat von selbst zufallen. So war seine Rückkehr allen Parteien unbequem, vor allem aber den Alkmeoniden und ihrem Anhang, die sich durch Themistokles schon beiseite geschoben sahen und jetzt, wenn es Miltiades gelang, festen Fuß zu fassen, allen Einfluß verlieren mußten. So wurde Miltiades als Tyrann auf den Tod verklagt. Und allerdings, der selbstherrliche Mann, der kein Bedenken getragen hatte, auf der Chersones die Häupter der Griechenstädte mit List an sich zu locken und gefangenzusetzen, der mit der Tochter eines thrakischen Häuptlings vermählt war und eine Leibwache von fünfhundert Söldnern gehabt hatte, paßte schlecht in ein Gemeinwesen, das auf die bürgerliche Gleichheit und die Verfemung der usurpierten Monarchie gegründet war. Aber Miltiades' Einfluß erwies sich stark genug; das Volksgericht sprach ihn frei351. Offenbar betrachtete man Miltiades als den geborenen Führer für den Kampf mit Persien; hatte er doch die feindliche Armee genau kennengelernt und mußte wissen, wie ihr zu begegnen sei. Auch hatte er die Schwäche der persischen Bewaffnung und Kriegführung richtig erkannt: so unwiderstehlich sich bisher ihr Pfeilhagel erwiesen hatte, so wehrlos waren sie gegen den Angriff einer griechischen Phalanx, wenn es dieser gelang, ihnen auf den Leib zu rücken. Das glaubte Miltiades mit einer gut disziplinierten, einheitlich geleiteten Truppe wie dem attischen Bürgerheer erreichen zu können. So trat zwar auch er dafür ein, einen persischen Angriff energisch abzuwehren; aber Themistokles' Flottenplan schien ihm [295] unnötig und gefährlich. Wenn es gelang, das persische Landheer zu schlagen, was konnten die Feinde dann zur See noch viel ausrichten? Der Flotte blieb nichts übrig, als abzuziehen, die Freiheit des Landes war gerettet352.

Der Gegensatz entsprang den Fragen der Kriegführung und der äußeren Politik; aber er griff weit tiefer. Wenn Themistokles‘ Plan durchgeführt wurde, mußte man die unteren Stände, aus denen allein die Ruderer und Steuerleute entnommen werden konnten, in ganz anderer Weise heranziehen als bisher. Kleisthenes Reform hatte die Leitung des Staats in die Hände des grundbesitzenden Mittelstandes gelegt; aus den steuerzahlenden Klassen den Rittern und Zeugiten, die sich selbst ausrüsteten, ging das Bürgerheer hervor, das sich seither vortrefflich bewährt hatte. Sollten sie jetzt zurücktreten gegenüber den rohen Massen, die keinen Herd und keine Grabstätte ihr eigen nannten, für die sie kämpfen konnten, den Taglöhnern und Packknechten, den Matrosen und Handwerkern, die vom Kriegshandwerk so wenig etwas verstanden wie vom politischen Leben? Sollte den waffenfähigen Bürgern, die beim Beginn des mannbaren Alters für den Krieg ausgebildet waren und sich Jahr für Jahr in den Gymnasien übten, das Recht verkümmert werden, für das Vaterland zu siegen und zu fallen? Sollte nicht mehr der edle Waffenkampf Mann gegen Mann die Entscheidung bringen, sondern die knechtische Arbeit des Ruderns? Noch fühlte der Hoplit sich stolz und sicher genug, aus eigener Kraft die Freiheit des Heimatbodens zu retten. Es ist begreiflich, daß alle besitzenden Kreise sich mit Händen und Füßen gegen die Neuerung sträubten, die Beamten und der Rat [296] der Fünfhundert, die aus den drei oberen Klassen hervorgingen, der aus den abgetretenen Archonten, den reichsten und vornehmsten Männern gebildete Areopag, der die Regierung leitete. Hatte der Eindruck der Katastrophe Milets, hatte Themistokles' zündende Beredsamkeit momentan die Bürgerschaft in andere Bahnen fortgerissen, jetzt, wo ein Zutrauen erweckender, von seiner Sache überzeugter Führer vorhanden war, schlug die Stimmung um. Bei den Massen, die in der Volksversammlung schließich den Ausschlag gaben, mag die Neigung zum beschwerlichen Flottendienst nicht groß gewesen sein; auch waren sie politisch noch nicht selbständig geworden und gewohnt, besseren Männern zu folgen. So wurde der Bau des Piräeus sistiert, von Themistokles' Flottenplan war weiter nicht die Rede, Miltiades wurde der leitende Mann in Athen. Damit war zugleich entschieden, daß man dem persischen Angriff nicht zur See entgegentreten, sondern die feindliche Invasion zu Lande erwarten werde353.

So war die Stimmung der Mehrheit in der athenischen Bevölkerung gehoben und kriegerisch; aber scharf standen die Parteien einander gegenüber. Miltiades' Einfluß dominierte; Themistokles war beiseite geschoben, die Alkmeoniden vollkommen in den Hintergrund gedrängt. Was nützte es ihnen jetzt, daß Kleisthenes den Tyrannen gestürzt, die bürgerliche Verfassung neu begründet hatte, wenn die Machtstellung, die er dadurch seinem Hause dauernd errungen zu haben glaubte, in andere Hände übergegangen war? Nicht Athens Freiheit und Unabhängigkeit, sondern die Herrschaft über die Heimat ist allezeit das Ziel gewesen, welchem sie nachgestrebt haben. Jetzt heimsten verhaßte Rivalen den Gewinn ein. Da sie aus eigener Kraft diese nicht zu stürzen vermochten, sahen sie sich nach Bundesgenossen um, wie gemeinsamer Haß sie ihnen zuführte. Wie einst Megakles kein Bedenken getragen hatte, sich mit Pisistratos zu verbrüdern (Bd. III2 S. 716, wie Kleisthenes selbst das Bündnis der Perser gesucht hatte, um sich zu behaupten (Bd. III2 S. 741, so näherten sich die Alkmeoniden auch jetzt wieder den Anhängern des gestürzten [297] Tyrannen. Gab es doch zahlreiche Emigranten, die als Genossen des Hippias oder des Isagoras geächtet waren (Bd. III2 S. 747f. und jetzt von den Persern die Rückführung und die Wiedergewinnung ihres alten Familienguts erhofften354. Ihre Verbindung mit der Heimat war nie unterbrochen, gar manche hielten hier heimlich oder wie Hipparchos, der Sohn des Charmes (o. S. 291) offen zu ihnen. Auch sonst war das Andenken an die gestürzt Monarchie noch vielfach lebendig, vor allem bei der kleinen Bauernschaft, für deren Wohlergehen sie gesorgt, denen sie Land zugewiesen hatte; wie das Goldene Zeitalter unter Kronos erschien ihnen die Herrschaft der Tyrannen. Auch mochte, wer den Sieg der Perser für wahrscheinlich oder sicher hielt, beizeiten daran denken, sich für die Zukunft eine Deckung zu sichern. Dazu kamen unzufriedene Elemente aller Art, denen der Sturz des bestehenden Regiments die Hauptsache war. Ihnen gesellten sich jetzt die Alkmeoniden zu; die attische Tradition rechnet Megakles, des Hippokrates Sohn, neben Hipparchos zu den Parteigängern des Hippias. Man wußte, daß geheime Verhandlungen mit Hippias gepflogen wurden, daß es Elemente gab, welche bereit waren, Athen dem Feinde in die Hände zu spielen. Noch nach sechzig Jahren haben die Alkmeoniden sich gegen den Vorwurf verteidigen müssen daß sie zur Zeit. der Schlacht bei Marathon versucht hätten, die Stadt an die Perser zu verraten355.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 290-298.
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