Die Entscheidung. Pindar und Äschylos

[419] In diese Gegensätze ist die Entscheidung des Perserkriegs hineingefallen: sie hat auch ihnen die Entscheidung gebracht. Zu welchen Folgen ein Sieg der Perser geführt hätte, liegt klar vor Augen. Die griechische Nationalität hätte sich wie so manche andere in dem Weltreich konservieren können. Auch die geistige Bewegung, die Kunst, die Wissenschaft und Philosophie mochten sich zunächst weiter entwickeln; sind doch Anaximander, Hekatäos, Heraklit unter persischer Herrschaft aufgetreten. Handel und Wohlstand konnten nur gedeihen, wenn die Griechenwelt pazifiziert und die Verbindung mit dem asiatischen Kontinent[419] ungehindert war, ja sie mochte alsdann die phönikischen Rivalen, obwohl deren Art den Herrschern näherstand, noch weiter überflügeln. Den griechischen Ärzten am Hof, den griechischen Schiffskapitänen in der Flotte mochten griechische Söldner und Offiziere, Kaufleute und Hetären, Günstlinge und Minister folgen. Aber das, was das innerste Wesen der griechischen Kultur ausmacht, hätte die Fremdherrschaft ersticken und vernichten müssen: den freien Staat, der allein alle Kräfte des Menschen entfalten und aus ihrem Ringen die höchste Blüte einer freien Kultur erzeugen kann. Nur auf einzelne Persönlichkeiten, wie die Tyrannen Ioniens oder die Pisistratiden, auf einzelne Geschlechter, wie die Aleuaden oder die Oligarchen Thebens konnte die Fremdherrschaft sich stützen, niemals auf eine freie Verfassung, mochte sie nun Aristokratie oder Demokratie sein, selbst dann nicht, wenn die Eroberer nominell die alte Verfassung bestehen ließen oder wie in Ionien unter Mardonios wiederherstellten. An Stelle der Staatsidee hätte auch in Griechenland die Religion und ihr Vertreter, die Priesterschaft, politisch wie geistig die Führung erhalten. Schon stand das Gerüst aufrecht: die Orakel hatten durch die ganze griechische Welt und weit darüber hinaus den höchsten Einfluß erlangt, sie waren die Berater des Volks und der Staaten und strebten ihre politischen Führer zu werden. Orakelsammlungen liefen im Lande um, die Wanderpropheten, Weissager und Zeichendeuter standen überall in hohem Ansehen; man grübelte über den Schicksalssprüchen und suchte aus ihnen eine sichere Weisung für sein Verhalten zu gewinnen. Mit all diesen Elementen standen die Perser in engster Fühlung. Die Branchiden von Didymoi waren ihre ergebenen Diener. Dem Delischen Apollo brachte Datis ein prächtiges Weihrauchopfer495; ein Apollobild, das phönikische Matrosen aus der Filiale seines Kultus an der böotischen Küste geraubt hatten, ließ er dem Heiligtum zurückgeben. Delphi wirkte eifrig für die persische Sache und mahnte überall vom Widerstand ab. Mardonios hat bei allen Orakeln in Böotien und Phokis Rat gesucht, dem Trophonios von Lebadea, dem Amphiaraos von Oropos, dem Apollo von Abä, von Theben, vom [420] Ptoon; er hat sich bestrebt, die bei den Griechen umlaufenden Weissagungen genau zu befolgen. Besser als irgendein anderer kannten die Pisistratiden diese Sprüche; in ihrem Auftrag war der orphische Spruchsammler Onomakritos am persischen Hof. Auch König Xerxes hat den griechischen Göttern gehuldigt, so der Athena in Ilion und auf der verwüsteten Burg von Athen. Hätten die Perser gesiegt, so hätten sie auch in Griechenland versucht, mit Hilfe der geistlichen Autorität zu regieren, und ihr eine Organisation gegeben wie in Ägypten und bei den Juden. Dann aber ergab es sich von selbst, daß die vom Staat geschützte und zur Herrschaft berufene Priesterschaft die neue theologische Religion annahm, mochte sie sich bisher ihr gegenüber auch so ablehnend verhalten haben und sie ihr so unbequem sein wie der Priesterschaft von Jerusalem das Judentum: die beiden religiösen Strömungen, die politische und die geistige, mußten in ein Bett zusammenfließen. Dabei mochte sich eine rationalistische Weltbetrachtung, ein Versuch, aus eigener Kraft das Welträtsel zu lösen, in einzelnen Kreisen immer noch behaupten, wie im Judentum neben der theologisch-gesetzlichen die individualistische Gegenströmung einhergeht. Das Endergebnis wäre schließlich doch gewesen, daß eine Kirche und ein durchgebildetes theologisches System dem griechischen Leben und Denken ihr Joch aufgelegt und jede freiere Regung in Fesseln geschlagen hätte, daß auch die neue griechische Kultur so gut wie die orientalischen ein theologisch-religiöses Gepräge erhalten hätte (vgl. Bd. III2 S. 693). Fremdherrschaft, Kirche und Theologie im Bunde hätten mit dem Staat auch hier den Zutritt zu den höchsten Regionen menschlichen Lebens und menschlicher Tätigkeit für alle Zukunft versperrt.

Diese Entwicklung ist durch die Entscheidung von Salamis und Platää unmöglich geworden. Zwar standen sich auf den Schlachtfeldern weder die Staatsformen noch die Weltanschauungen geschlossen gegenüber; auch im Heere der Freiheitskämpfer fochten zahlreiche Männer aus dem höchsten Adel, und die Demokratie von Argos war persisch gesinnt. An die Götter und die Orakel glaubten die Heere der Freiheitskämpfer ebenso fest wie [421] ihre Gegner aus Böotien und Thessalien, und die Religion zu politischen Zwecken zu benutzen, haben die Führer auf beiden Seiten verstanden. Aber die Entscheidung erstritten auf nationaler Seite, so verschieden im einzelnen die Verfassungen sein mochten, die freien Bürgerschaften von Sparta, Athen, Arkadien, Korinth, Ägina – es ist das Verhängnis Siziliens gewesen, daß hier der Gegensatz nicht rein herausgebildet war, daß der Kampf für die Unabhängigkeit zugleich ein Kampf für die Dynastien des Gelon und Theron gewesen ist. Das Ergebnis war, daß mit der Erkämpfung der Unabhängigkeit die Idee der Nationalität und der äußeren und inneren Freiheit sich mächtig erhob; daß aber eben dadurch die politischen Aufgaben sich vollständig verschoben. Nicht mehr auf die Behauptung der partikularen Existenz in dem kleinen Kreise gleichmächtiger Nachbarstaaten kommt es fortan an, sondern auf die Behauptung und Betätigung der Unabhängigkeit der gesamten Nation. Damit tritt ein neuer Gegensatz zu den alten: der Staat, der sich in den großen, die Welt umfassenden Machtfragen bewähren soll, muß selbst eine Macht sein. Die bisher dominierende Verfassungsfrage ist Mittel zum Zweck geworden. Damit ist entschieden, daß, wie auch die innere Verfassung der Staaten sich gestalten mag, doch allein der fortschrittlichen Entwicklung die Zukunft gehört, und zugleich, daß der Kirche und der Theologie die Herrschaft über den griechischen Geist nicht beschieden ist. In Xerxes sahen die Griechen, die auf nationaler Seite standen, den Schänder und Zerstörer ihrer Heiligtümer, sie glaubten, für ihre Götter zu kämpfen. Aber diese Götter waren nichts anderes, als der höchste Ausdruck des heimatlichen Staats und der Nation; in Wirklichkeit kämpfte man gegen die entstaatlichten, zu selbständigen politischen Faktoren gewordenen Götter und die individualistische Religion, welche sich der Idee des Staats nicht unterordnen, sondern sie ersetzen, dem Menschen etwas Höheres bieten wollte. Die Siege der Griechen haben den Apollo von Delphi gezwungen, national zu werden. An die Untrüglichkeit der Orakel glaubte man nach wie vor, die Staaten wie die Privaten befragten sie bei allen Entscheidungen in der Folgezeit ebenso eifrig wie vorher, [422] und die künstlichen Deutungen, durch die die Priesterschaft von Delphi ihre antinationale Haltung zu vertuschen suchte, haben gläubige Aufnahme gefunden. Trotzdem haben die Orakel sich von dem Schlag, den sie auf den Schlachtfeldern des Perserkriegs erlitten hatten, nie erholt. Die Entscheidungen der Zukunft waren zu gewaltig geworden, als daß man sie nach einem zweideutigen Gotteswort hätte treffen können; nicht auf den Orakelspruch kommt es an, sondern auf die Auslegung, die der Staatsmann ihm gibt, mag er ihn auch in sein Gegenteil verkehren wie Themistokles vor Salamis. Die Religion und die Götter müssen sich den Ideen der Nation und des Staats unterordnen, nur innerhalb derselben haben sie freien Raum. Das ist in der Tat eine Rückkehr zu den alten Anschauungen, über die die neue Religion hinausgeschritten war; die großen Gedanken, welche sie enthielt, sind beiseite geworfen. Aber mit ihnen sind auch die Gefahren überwunden, welche sie barg; der verhängnisvolle Keim des Mystizismus und der Theologie konnte nicht zur Entfaltung gelangen. Damit wird die Bahn geöffnet für die Entwicklung eines freien geistigen Lebens und, mochte man sich noch so sehr dagegen sträuben, auch für den Radikalismus der Aufklärung, für die negativen und zersetzenden Gedanken des keine Schranken mehr anerkennenden Denkens. Nicht auf einer geheimnisvollen, dem Griechenvolk angeborenen Disposition, sondern auf dem politischen Moment, auf der welthistorischen Entscheidung von 480 und 479 beruht es, daß die neue griechische Kultur nicht in der Religion aufgeht, sondern sie überwindet, daß sie eine Herrschaft des Priestertums und der Theologie nicht kennt, sondern die Freiheit des menschlichen Geistes aus sich geboren hat.

Dem Zeitalter der Perserkriege gehören zwei der größten Dichter an, die Griechenland hervorgebracht hat: Pindaros von Theben und Äschylos von Athen. Beide sind um 525 geboren; die älteste erhaltene Dichtung Pindars (Pyth. 10) stammt aus dem Jahr 484, Äschylos ist um 500 zuerst aufgetreten und hat 484 den ersten Sieg gewonnen. An poetischer Kraft und Reichtum der Erfindung, auch an Tiefe der Gedanken kommt Pindar dem attischen Dichter wenigstens nahe – wir dürfen nie vergessen, [423] daß uns von seinen Dichtungen nur diejenigen vollständig erhalten sind, welche den sprödesten und für unser Empfinden unerquicklichsten Stoff behandeln, die Verherrlichung der Sieger in den Nationalspielen. Beide Dichtergestalten denselben Stoff, die Sage, beide verwenden dieselbe Dichtungsform, den Chorgesang. Freilich erzählt in der lyrischen Dichtung der Chor die Ereignisse, die Tragödie führt sie dem Zuschauer vor Augen. Aber wenn auch der tragische Chor kostümiert und maskiert die Orchestra betritt und zwischen seinen Gesängen und Tänzen der Dichter selbst auftritt, als handelnde Person verkleidet – seit Äschylos daneben noch ein zweiter Schauspieler – und sich in Iamben mit dem Chor unterhält, so ist doch auch in der Tragödie ursprünglich das lyrische Element das Wesentliche. Weniger was die Handelnden empfinden mochten, will der Dichter vorführen, als vielmehr der Stimmung und den Empfindungen Ausdruck geben, die der Vorgang in seiner Totalität bei den Hörern erzeugen soll, und so sie sittlich belehren und religiös erbauen. Auch wo er seinen Stoff aus der Gegenwart nimmt, wie Äschylos in den »Persern« – und Phrynichos' historische Dramen werden keinen anderen Charakter getragen haben –, ist die Tendenz die gleiche. So ist der Unterschied gering zwischen dem tragischen Chordichter und dem lyrischen. Die rhythmischen und musikalischen Formen, die feierliche getragene Sprache mit ihrem Bilderschmuck und ihrem Schatz poetischer Wendungen und Gleichnisse sind durch eine jahrhundertelange Kunstpflege gegeben. Aber wenn Dichter zweiten Ranges wie Bakchylides sich in Form und Stoff meist streng an die Tradition halten, suchen Pindar und Äschylos sie zu vertiefen und innerhalb ihrer Schranken für ihre Individualität freien Spielraum zu gewinnen. Sie steigern die Getragenheit und Pracht des Ausdrucks, sie greifen zu kühnen Wortbildungen und Gleichnissen, sie meiden die gewöhnliche Redeweise durchaus. In jedes Wort suchen sie einen besonderen Gedankeninhalt hineinzuzwängen; wie Pindar verschmäht auch Äschylos in seinen Chorliedern prinzipiell, das Einfache einfach zu sagen. So trägt ihr Stil den Charakter einer stark ausgeprägten rhetorischen Manier und streift nicht selten die Grenzen des poetisch noch zulässigen Ausdrucks; [424] es kann keinem Zweifel unterliegen, daß zahlreiche Stellen beider Dichter bei der ersten Aufführung dem Hörer vollkommen unverständlich geblieben sind und nur durch die Wucht der Melodie und der Rhythmen und durch die Pracht der Wortfügung gewirkt haben. Formell sind ihre Dichtungen das Gegenstück zu der gleichzeitigen hebräischen Poesie eines Deuterojesaja und Hiob. Aber wie die jüdischen Dichter haben auch sie es vermocht, in dieser Form den tiefsten Gedanken und Empfindungen Ausdruck zu geben, so daß der Inhalt die Wucht der Form er trägt und von ihr nicht erdrückt, sondern gesteigert wird. Beide Dichter entstammen aus vornehmem Geschlecht, beide sind im vollen Besitz der Bildung ihrer Zeit. Ihren Beruf fassen beide so tief wie nur irgendeiner der alten Dichter. Die Gabe, die ihnen die Götter verliehen haben, ist ein heiliges Gut; durch ihren Mund verkünden jene die ewigen Wahrheiten der Religion und der Sittlichkeit, und so fühlen sie sich als die geweihten Lehrer und Erzieher der Nation. Daß sie ihren Rivalen weitaus überlegen sind, ist ihnen bewußt. So sehr sie an ihrer Heimat hängen, unbedenklich entfalten sie, nach Art der fahrenden Sänger der alten Zeit, ihre Kunst überall, wo man sie ehrt und lohnt, auch am Hofe des sizilischen Tyrannen. Pindar gehört dem oligarchisch regierten Theben an und dichtet vor allem für seine adligen Standesgenossen, Äschylos wurzelt in der kleisthenischen Demokratie und schafft seine Dramen für die Feste der Bürgerschaft Athens. Jener hat am Perserkriege nicht teilgenommen, Äschylos bei Marathon und Salamis mitgekämpft. Aber nur um so stärker tritt die Übereinstimmung der Lebensanschauung hervor. Beide wurzeln in den konservativen Ideen, beide vertreten die feste sittliche und staatliche Zucht und Ordnung. Für Pindar ist die Herrschaft »der ungestümen Masse« durchaus verwerflich, wenn auch der rechtschaffene Mann unter jeder Staatsordnung, die die Götter nach Willkür verhängen, seine Tüchtigkeit bewähren kann (Pyth. 2, 160ff.). Aber auch für Äschylos, obwohl er die Entwicklung zur radikalen Demokratie mitgemacht hat und wenigstens zu ihren Konsequenzen für die äußere Politik seine entschiedene Zustimmung ausspricht (u. S. 548), ist die Aufrechterhaltung der staatlichen und religiösen Autorität, [425] die die Bürger zur Gesetzlichkeit und Rechtlichkeit zwingt, das Wesentlichste im Staate. Mit dem politischen und ethischen Konservatismus verbindet sich eine tiefe Frömmigkeit. Beide Dichter glauben an die Mysterien und Heilswahrheiten der neuen Religion, an ein göttliches Weltregiment und die untrügliche Wahrheit der Sprüche, in denen Apollo den Willen des Zeus offenbart, an das Gericht in der Unterwelt. Die mythische Überlieferung ist beiden heilige Geschichte, in die sie ihre tiefsten Gedanken hineinlegen. In scharfem Gegensatz zu dem Rationalismus der ionischen Aufklärung halten sie an der übernatürlichen Pragmatik, an dem Eingreifen der Götter und ihren Wundertaten in voller Gläubigkeit fest. Dagegen das ethische Postulat, die Überzeugung, daß die Götter, auch wenn sie von sinnlichen Trieben geleitet werden, wie in ihren Liebesabenteuern, doch heilige Mächte sind und ein gerechtes Regiment führen, daß ihrem Handeln, auch wo es dem Menschen zunächst anstößig erscheint, ein tiefer Plan und geheime Weisheit zugrunde liegt, ist für sie unantastbarer Glaubenssatz. Deshalb korrigiert Pindar die Überlieferung überall da, wo sie seinen sittlichen und religiösen Anschauungen widerspricht, im einzelnen ebenso unbedenklich wie nur irgendein Rationalist und wirft, nicht anders als Xenophanes (Bd. III2 S. 704f., den alten Dichtern kecke Erfindung und Verfälschung vor. Auf die Erzählungen von den Götterkämpfen einzugehen lehnt er, wenn die Muse ihn verführt, sie zu streifen, mit frommem Schauder ab (z.B. Ol. 9). Äschylos dagegen hat gerade mit diesen Problemen unablässig gerungen. Alle seine Dramen sind zugleich Theodizeen, Versuche, den Glauben an die Heiligkeit des göttlichen Regiments durch richtige Auffassung der Überlieferung zu retten.

Aber wenn sich die beiden Dichter in ihrer Kunstübung und in ihrer Weltanschauung noch so nahestehen, so gewinnt doch gerade in ihnen der große Gegensatz, welcher die griechische Welt bewegt, den tiefsten Ausdruck, nur um so entschiedener, je weniger ihnen selbst voll bewußt gewesen sein mag, wie scharf die Wege sich schieden. Pindar wurzelt mit allen Phasen seines Wesens in der alten Zeit. Noch einmal, zum letztenmal, tritt sie uns in seinen Siegesliedern in ihrer Herrlichkeit entgegen, verklärt von dem [426] Zauber der Dichtung und der Mythen, die sie geheimnisvoll umweben, so daß wir den dürftigen äußeren Anlaß fast vergessen, von dem aus er sich gewaltsam genug den Weg bahnt, zu sagen, was ihm das Herz bewegt. Für alle Zeiten ist durch ihn der nationale Sport des hellenischen Volks umstrahlt von dem Abglanz der Poesie. Daheim rüsten sich die Genossen des Siegers zur Festfeier; dieser selbst stattet den Göttern den Dank ab, daß sie ihm den höchsten Ehrenpreis gewährt haben, den die Welt kennt. Würdig ist er seinen Vorfahren und seinen göttlichen Ahnen an die Seite getreten und hat ein neues Blatt eingefügt in den Ruhmeskranz seiner Heimat. Lebendig schauen wir die festgefügte Zucht und Sitte des adligen Lebens, die von tüchtigen Lehrmeistern durchgebildete Manneskraft, den wohlerzogenen Sinn, den altbegründeten Wohlstand des Hauses, die Gastlichkeit, die Freude am Lied des Sängers, dem reichlich gelohnt wird, was er dank den Musen und Chariten, die ihn inspirieren, gespendet hat; wohl mag, wem die Götter solches gewährt haben, stolzen Hauptes in seine Gemeinde treten, an deren Regiment teilzunehmen er berufen ist. In den Helden der Vorzeit zeigt die heilige Geschichte die Vorbilder aller männlichen Tugenden, in Herakles, den Heroen des Troischen Krieges, den Argonauten. In all den unendlichen Mühen und Nöten haben sie sich bewährt, die die Götter den Menschen immer von neuem auferlegen. Da gilt es, den männlichen Mut und den rechten Sinn zu wahren, sich warnen zu lassen durch das Geschick der stolzen Männer, welche durch Überhebung und Eigensinn sich zu Freveltaten haben verlocken lassen und der Ate, dem Unheil, anheimgefallen sind, und dem untrüglichen Gotteswort zu folgen, welches Apollo verkündet. Da bewährt sich das Höchste, was der Mensch besitzt, die angeborene Art des tüchtigen Mannes, die sich überall durchsetzt. Sie darf ihre Überlegenheit frei zur Geltung bringen, ja sich, wie das Beispiel des Herakles und seines Rinderraubs lehrt, unter dem Schutz der Götter mit der Selbstherrlichkeit des freien Recken selbst über die konventionellen Sittengebote hinwegsetzen: »denn die Sitte (νόμος), der König aller, der Sterblichen wie der Unsterblichen, erhebt mit beherrschender Hand das Gewalttätigste zum Recht« (fr. 169). [427] Äschylos kennt etwas Höheres, die freie Unterordnung des Einzelnen unter das Gesetz des Staats. Bei ihm zuerst tritt uns der Staat als die höchste sittliche Macht des menschlichen Lebens entgegen. Wo immer es möglich war, hat er den Staatsgedanken in den alten Sagenstoff hineingetragen und ihn danach umgebildet. Nicht der König von Argos entscheidet in der Danaidentrilogie, die noch der Zeit vor Salamis angehören wird, über die Aufnahme der schutzflehenden Jungfrauen, die dem ihnen von den ägyptischen Vettern aufgezwungenen Ehebund entfliehen wollen, sondern die Volksgemeinde, und für diese wird zum Lohn der Segen der Götter erfleht. Als Hypermestra in der Brautnacht den Lynkeus rettet, während ihre Schwestern die Freier ermorden, erkennt Äschylos darin einen Konflikt zwischen dem Staatsgesetz, das die Mordtat befohlen hat, und der Naturgewalt der Liebe. Der eigene Vater führt die Schuldige vor das Volksgericht, und nur das Eingreifen der Aphrodite, die die göttliche Allmacht der Liebe enthüllt, vermag sie zu retten. In der »Ödipodie« (467 v. Chr.) ist es das Verbrechen des Laios, daß er gegen den ihm dreimal gewordenen Spruch Apollos einen Sohn gezeugt und dadurch unsägliches Unheil nicht nur über seine Nachkommen, sondern über seine Heimat herbeigeführt hat. Eteokles weiß, daß der Fluch seines Vaters sich erfüllen muß; um Theben zu retten, geht er in den Kampf gegen seinen frevelnden Bruder Polyneikes, der mit fremder Hilfe seine Geburtsstadt zerstören will: »nur die Stadt vernichtet mir nicht von Grund aus'«, betet er zu den Göttern, »bewahret Kadmos' Land und Stadt frei vom Sklavenjoch.« Durch den Untergang des fluchbeladenen Geschlechts, auf das Pindar mit Stolz den Theron von Agrigent (Ol. 2, 76) und den Thebaner Melissos (Isthm. 3, 26) zurückführt, von dem er selbst so gut abstammt wie die Ägiden Kyrenes und vermutlich Thales von Milet, wird bei Äschylos Theben gerettet. So sind denn Äschylos' »Perser« (472 v. Chr.) die herrlichste aller Sieges dichtungen, die durch den Mund der Besiegten die Größe des Freiheitskampfes verkündet und die Überlegenheit der griechischen Kultur nur um so gewaltiger vor Augen führt, weil sie dem Gegner die Achtung nie versagt, zugleich eine Verherrlichung der den Völkern des [428] Orients unfaßbaren Idee des griechischen Staats, dessen Bürger keinen Oberherrn kennen und nur durch das Gesetz in freiem Gehorsam gehalten werden, der in seinen Männern fortbesteht, auch wenn der Boden der Heimat in Feindesgewalt ist. Die »Orestie« (458 v. Chr.) klingt aus in den Preis Athens, dessen Göttin mit dem Gerichtshof der Bürger zusammen den Konflikt der alten und der neuen Götter beseitigt und die neuen Satzungen des Blutgerichts verkündet, auf denen alle gesittete menschliche Gemeinschaft beruht.

Für die Pindarische Dichtung ist ein innerer Fortschritt, eine weitere Entwicklung ausgeschlossen: Formen und Inhalt sind gegeben, nur die Einzelgestaltung gestattet immer neue Variationen des unabänderlich feststehenden Grundthemas. Seine Dichtung und die ältere Chorlyrik überhaupt steht und fällt mit den Ordnungen der alten entschwindenden Zeit. Als Pindar auftrat, rangen zahlreiche ältere und jüngere Rivalen mit ihm um den Siegespreis; mit seinem Tode stirbt seine Dichtweise dahin. Der Reihe nach hat Pindar während eines langen Dichterlebens alle Ideale in den Staub sinken sehn, die er verherrlicht hat: das Königtum von Agrigent, Syrakus, Kyrene, die Selbständigkeit Äginas, seiner liebsten Stadt, der Stätte echt adliger Zucht und Gastlichkeit. Adlige gab es auch um die Mitte des Jahrhunderts noch genug; aber fast überall war ihre politische Stellung erschüttert oder gebrochen, und für die Entfaltung des altadligen Lebens und seines Glanzes war kein Raum mehr. So klingt sein Leben trüb aus; als er nach langer Unterbrechung in hohem Alter einem jungen Ägineten zuliebe noch einmal zur Dichtkunst zurückkehrte (446 v. Chr.), da faßt er das Ergebnis seiner Lebenserfahrung zusammen: »Wer einen Erfolg errungen, der strebt auf Schwingen der Manneskraft in Hoffnung empor und sinnt auf höheren Gewinn. Aber nur kurze Zeit wächst dem Sterblichen die Freude; rasch stürzt sie zu Boden, wenn die Erwartung getrogen hat. Tagesgeschöpfe, was sind wir, was nicht? Die Traumgestalt eines Schattens – das ist der Mensch« (Pyth. 8)496. Demgegenüber, welche Entwicklung umschließt [429] Äschylos' Dichtung von den »Schutzflehenden« bis zur »Orestie!« Der Unterschied ist so gewaltig, daß man die beiden Dramen innerlich kaum noch derselben Kunstgattung zurechnen kann. Als er zu dichten begann, gab es ein Drama in dem Sinne, den die Folgezeit und wir damit verbinden, noch nicht; erst er selbst hat es geschaffen. Neben den Dichter, der sich mit dem Chor unterredete, stellte er einen zweiten Schauspieler; da beide das Kostüm wiederholt wechseln konnten, war die Möglichkeit gegeben, eine ganze Anzahl von Personen auftreten zu lassen. In den »Schutzflehenden« tritt der eine Schauspieler noch sofort zurück, wenn der andere erscheint. Denn noch ist der Chor der Träger des Stücks, die Schauspieler reden nur mit ihm und haben lediglich die Aufgabe, eine neue Situation einzuführen und die unentbehrlichen Voraussetzungen für ein neues Chorlied zu geben. Nur einmal, wo kein anderer Ausweg bleibt, wird ein kurzes Zwiegespräch zwischen den beiden Schauspielern gewagt. Aber mit jedem folgenden Drama entwickelt sich der Dialog lebendiger; ausführliche Erzählungen, Botenberichte werden eingelegt. Schließlich, in der »Orestie«, nimmt auch Äschylos den dritten Schauspieler an, den Sophokles zuerst eingeführt hatte. Das sind die äußeren Formen der inneren Umwandlung. Die »Orestie« und schon der »Prometheus« und die »Ödipodie« sind nicht mehr eine Reihe durch zwischengelegte Auftritte lose verbundener Chorgesänge, auch nicht mehr eine Folge prächtiger Szenen, die wie das Epos in dem Stoff ihre Einheit haben, sondern wirkliche Dramen. Die tragische Handlung ist herausgearbeitet, und ihre Träger sind die handelnden und leidenden Menschen und Götter, welche die Schauspieler darstellen. Trotz aller herrlichen Gesänge, trotz gelegentlichen Eingreifens in die Handlung ist in den beiden ersten Stücken der »Orestie« der Chor in die zweite Stelle gerückt; nur die »Eumeniden« zeigen ihn noch einmal in seiner alten Bedeutung. Aber die Entwicklung greift noch tiefer. Im Drama erhebt sich der Mensch zu einer freien sittlichen Persönlichkeit, die ihr Gesetz in sich selbst trägt, so gut wie in der jüdischen Literatur im Hiob. Die Helden der Tragödie sind innerlich frei,[430] wie die Bürger von Athen, wenn eine große Entscheidung an sie herantritt. Sie handeln nach eigener Wahl und haben den Konflikt zwischen Leidenschaft und Recht und den noch schwereren zwischen entgegengesetzten Pflichten in sich auszukämpfen und die Folgen zu tragen. Damit tritt ein neues Element in die Beurteilung des Menschen, das hoch über allen konventionellen Satzungen, ja über allem Gotteswort steht: das eigene Gewissen. Die Norm des sittlichen Verhaltens liegt in der eigenen Brust des Menschen. Die volle Schwere des neuen Konflikts, der dadurch entsteht und der in seinen Konsequenzen zum Untergang der alten Religion führen muß, hat Äschylos noch nicht durchmessen; denn er glaubt an das göttliche Weltregiment und die untrügliche Wahrheit der Sprüche Apollos497, die nur Zeus' Willen verkünden. Aber wie sehr er mit dem Problem gerungen hat, beweist die »Orestie«: der sittliche Konflikt, den die »Eumeniden« durch ein mit Advokatenbeweisen operierendes Gerichtsverfahren und durch die Abfindung der Rachegöttinnen durch die Begründung ihres Kultus in Athen aus der Welt schaffen wollen, spielt in den »Choephoren« in der Brust des Orestes; und hier zeigt sich, daß er unlösbar ist. Das untrügliche Götterwort befiehlt ihm, den Mord des Vaters an der Mutter zu rächen; aber von den Gewissensbissen, die sofort nach der Tat in seiner Brust erwachen, kann es ihn so wenig befreien wie die äußeren Sühngebräuche, die an ihm vollzogen sind. Aus der Lage, die das Schicksal über Orestes verhängt hat, gibt es für den Menschen keinen Ausweg: ob er die Rache vollzieht oder nicht, [431] ein Verbrecher ist er in jedem Falle, und so muß er innerlich zugrunde gehen. Der Dichter hat versucht, trotzdem an dem glücklichen Ausgang festzuhalten, von dem die Sage erzählte. Er sucht ihn zu ermöglichen, indem er in den »Eumeniden« an Stelle der sittlichen die Rechtsfrage in den Mittelpunkt stellt. Auch hier sind es nicht die Götter, welche die Entscheidung bringen; denn entgegengesetzte Gebote stehen sich gegenüber, beide gleich göttlich und gleich heilig. Den Gerichtshof setzt Athena ein und ordnet sein Verfahren; das Urteil fällen die menschlichen Richter nach ihrem Gewissen, der Göttin Stimme gilt nicht mehr als die eines jeden von ihnen. Sie ist nichts als die lebendige Macht, die den attischen Staat beseelt; und so verkündet das Drama, wenn wir es wagen dürfen, seinen Inhalt in moderne Worte zu kleiden, daß zwar der sittliche Konflikt im Innern der Menschenbrust durch keine Macht im Himmel und auf Erden gehoben werden kann, daß aber die Rechtsordnung des Staats ihn für die äußerlichen, irdischen Verhältnisse der auf das Zusammenleben angewiesenen Menschen aus der Welt schafft. – In der gewaltigsten seiner Schöpfungen, der Prometheustrilogie (um 470), hat der Dichter gewagt, seine sittlichen Anschauungen selbst auf die Götterwelt zu übertragen: das Bewußtsein des leidenden Gottes, daß das ewige Recht auf seiner Seite ist, gibt ihm die Kraft, allen Qualen zu trotzen, mit denen Zeus, der neue Tyrann der Götter, ihn heimsucht. Die Religion sucht Äschylos dadurch zu retten, daß er, in Anknüpfung an ältere, auch von Pindar aufgenommene Sagenformen – Zeus hat die Bande der Titanen gelöst –, eine innere Entwicklung der Götter annimmt. Seit Zeus' Regiment sich befestigt hat und die Gefahren, die ihm drohten, durch Prometheus' Offenbarung beseitigt sind, ist er ein gerechter Weltregent, sind er und die übrigen Himmlischen sittliche Mächte geworden, in deren Willen der Mensch sich zu fügen, und dadurch sittliche Befriedigung und ewiges Heil zu finden vermag. Auch in den »Eumeniden« brechen die neuen Götter das alte Recht und die doch auf sittlichen Forderungen beruhenden Ansprüche der blutgierigen Unholde, die den Muttermörder bis in den Tod verfolgen; aber das neue Recht, das nach Zeus' Offenbarung Apollo in dem Konflikt [432] der Pflichten verkündet, gewährt dem Menschen Befreiung und Erlösung, und Athena weiß die alten Mächte, die Töchter der Nacht, zu versöhnen. – Auf die Dauer freilich konnte eine solche Lösung nicht befriedigen; schon die nächste Generation ist über sie hinweggeschritten. Sie ist nur ein erster Versuch, das neu entstandene Problem zu bewältigen, die neuen, immer mächtiger sich erhebenden Ideen mit dem alten Glauben zu versöhnen. Der große geistige Kampf kündigt sich an, der die folgenden Geschlechter bis in die tiefsten Tiefen bewegt und die alte Weltanschauung entwurzelt und zu Boden geworfen hat: der Kampf um die Stellung der Persönlichkeit zu den überkommenen Anschauungen, zu der Idee des Staats, zur Religion und zum Sittengesetz.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 419-433.
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