Athen zur Zeit Kimons

[505] In einem Menschenalter war Athen aus einem griechischen Kantonstaat, dem ein paar auswärtige Besitzungen zugehörten, der Herrscher eines ausgedehnten, alle Inseln und Küsten des Ägäischen Meeres und der hellespontischen Seestraße umfassenden Gebiets, aus einem Mittelstaat mit schwankender Politik eine zielbewußte, energisch vorwärtsschreitende Großmacht geworden, welche dem König von Asien, der sich der Herr der Welt zu sein rühmte, eben aufs neue den empfindlichsten Schlag zugefügt hatte. [505] Gewaltig wirkte dieser jähe Umschwung auf die inneren Zustände des Gemeinwesens zurück. Überall zeigte sich der rascheste Aufschwung und das regste Leben. Wie politisch überflügelte Athen auch in Handel und Industrie nicht nur seine Nachbarn und alten Konkurrenten, sondern die ganze griechische Welt. Weit über die abhängigen Gebiete griff der attische Handel hinaus; im Pontus, in Sizilien und Italien, in den vom Perserkönig halb oder ganz unabhängig gewordenen Küstengebieten im Norden Kleinasiens, auf Cypern, in Kyrene faßte er festen Fuß; und überall stand schirmend die Seemacht Athens hinter ihm, der niemand mehr entgegenzutreten wagte. Die alten See- und Handelsmächte des griechischen Mutterlands und Kleinasiens waren zum Teil gebrochen und Athen untertan, wie die Städte Ioniens und Euböas, zum Teil sahen sie sich immer mehr von Athen eingeengt und umklammert, wie Ägina und Korinth und nun gar die kleineren Küstenstaaten. Einzig Korkyra, mit einer starken Kriegs- und Handelsflotte, hielt sich selbständig und seemächtig in seiner Position am Ionischen Meer. Der Piräeus wurde neben Karthago der Haupthafen des Mittelmeers, d.h. der gesamten damaligen Kulturwelt. Zusehends mehrte sich der Wohlstand der Bürgerschaft. In Scharen siedelten Fremde aus Hellas und den Barbarenländern nach Athen über, um als Taglöhner oder Handwerker, Krämer, Kaufleute, Bankiers an den günstigen Erwerbsbedingungen der emporstrebenden Großstadt teilzunehmen. Die attischen Gesetze gestatteten ihnen zwar, wenn sie nicht ein Personalprivileg erhielten, den Erwerb von Grundbesitz nicht und zwangen sie, einen bürgerlichen Patron anzunehmen, der für ihr Wohlverhalten die Bürgschaft übernehmen sollte, sowie ein geringes Schutzgeld (1 Drachme monatlich) zu zahlen, stellten sie aber im übrigen privatrechtlich den Bürgern völlig gleich; sogar ihre Prozesse durften sie selbst führen. Auch unmittelbar kamen ihre Kräfte dem Staate zugute: vor allem als Matrosen wurden sie eingestellt wie die Theten, die Reicheren wenigstens seit der Mitte des Jahrhunderts auch zum Dienst als Hopliten und zu manchen Liturgien herangezogen582.

[506] Auch für das geistige Leben Griechenlands wird Athen immer mehr die Zentrale. Wenn schon Pisistratos und seine Söhne Dichter aus allen Teilen Griechenlands an sich gezogen und unter ihnen und weiter in den ersten Jahrzehnten der Republik Künstler aus Ionien wie aus Ägina, Sikyon, Lakonien im Wetteifer mit den heimischen Meistern die Weihgeschenke der reichen Athener an die Göttin gearbeitet hatten, so suchte jetzt, wer eine größere Bedeutung und Wirksamkeit erstrebte, vor allem in Athen Anerkennung zu finden. Wie Simonides und Bakchylides hat auch Pindar Athen verherrlicht. Philosophen kamen nach Athen und hielten hier Vorträge, ja Anaxagoras von Klazomenä siedelte ganz nach Athen über. Polygnotos von Thasos, der Schöpfer der Wandmalerei, hat vor allem in Athen gewirkt und in den Athenern Mikon und Panainos, dem Bruder des Phidias, Schüler und Gehilfen gefunden; ja, er scheint ganz hier ansässig gewesen zu sein. Fremde Künstler wie Hagelaidas von Argos, Kalamis, Kresilas von Kydonia haben für Athen gearbeitet neben den Athenern Kritios, Nesiotes, Hegias u.a. Umgekehrt dringt die attische Kultur hinaus in das übrige Hellas. Die Segnungen der eleusinischen Weihen suchen unzählige Hellenen zu gewinnen; zu den großen attischen Festen, den Dionysien und vor allem den Panathenäen, strömen Zuschauer und Teilnehmer nicht nur aus dem Bundesgebiet, sondern aus ganz Griechenland herbei fast wie zu den großen Nationalfesten. Das attische Drama wird der Hauptträger der modernen Dichtung. Phrynichos und Äschylos führen ihre Tragödien in Sizilien auf am Hof Hierons wie hernach in den freigewordenen Städten – Äschylos ist bald nach 458 in Gela gestorben –; auswärtige Dichter wie Ion von Chios und Aristarchos von Tegea dichten für die attische Bühne in Konkurrenz mit den einheimischen Tragikern. Nicht minder mächtig erhebt sich die attische Plastik, zumal seit ihr in Myron aus dem von Athen [507] annektierten böotischen Grenzorte Eleutherä und in Phidias schöpferische Genien erstanden, welche alle anderen Meister weitaus überflügelten; nur Polyklet von Argos stand ihnen ebenbürtig zur Seite. Als bald nach 455 der neue Zeustempel in Olympia fertig geworden war, beriefen die Elier, welche die Skulpturen der Metopen und Giebel einheimischen Meistern überlassen hatten, den Athener Phidias zur Anfertigung des großen Gottesbildes aus Elfenbein und Gold, obwohl sie bis zum Jahr 451 mit Athen offiziell im Krieg gestanden hatten583.

Die äußere Erscheinung der nach der gründlichen Zerstörung durch die Perser rasch wieder aufgebauten Stadt entsprach ihrer neuen Stellung bisher nur wenig. An Umfang übertraf sie die größten und volkreichsten Nachbarstädte wie Theben und Korinth kaum, hinter den glänzenden Stadtanlagen der sizilischen Tyrannen, die freilich weit dünner bevölkert waren, stand sie weit zurück. Allerdings kam die Unterstadt des Piräeus hinzu, die aber erst in den nächsten Jahrzehnten nach einem regelmäßigen Plan ausgebaut wurde. Die Stadtstraßen waren enge und winklige Gassen, ungepflastert, staubig und schmutzig, die Häuser meist[508] klein und unansehnlich, vielfach mit Verkaufsläden im Erdgeschoß, auch wohl mit kleinen Höfen, auf denen man ein Gärtchen anlegen mochte. Nur die größeren Wohnungen hatten einen Vorhof, auf dem eine Herme zu stehen pflegte. Die alten Heiligtümer und die großen Tempelbauten der Tyrannenzeit lagen in Trümmern, auf der Burg wie in Eleusis behalf man sich mit Notbauten, die man provisorisch auf den alten Fundamenten errichtete. Aber die Finanzen des Staats waren in blühendem Zustand, gewaltige Summen lagen im Tempelschatz, die letzten Siege hatten reiche Beute gebracht. So konnte man darangehen, der Stadt ein glänzenderes Ansehen zu geben. Vornehme Bürger, vor allem Kimon und seine Verwandten, spendeten von ihrem Reichtum zur Verschönerung der Heimat. So hat Kimon den Markt mit Platanen bepflanzt und vor der Stadt den Hain des Heros Akademos mit schattigen Spaziergängen und Turnplätzen geschmückt. Peisianax, ein naher Verwandter seiner alkmeonidischen Gemahlin Isodike (o. S. 480), erbaute am Markt eine Wandelhalle, Polygnot übernahm es, sie mit Gemälden zu schmücken, für die er jede Bezahlung ablehnte. Unterstützt von Mikon und Panainos malte er hier die Großtaten Athens, die Amazonenschlacht, die Zerstörung Trojas, an der Theseus' Söhne teilgenommen hatten, die Schlacht von Marathon584. Größere Aufgaben nahm man nach dem Sieg am Eurymedon in Angriff. Man faßte den Plan, Athen mit seinen Häfen zu einer einzigen Festung zu verschmelzen; in dem Sumpfterrain des Kephissos wurde aus den von Kimon beschafften Mitteln der Grund zu langen Verbindungsmauern gelegt. Vor allem aber konnte man jetzt daran denken, die Tempel der Burg wieder aufzubauen. Der ganze Burgfelsen sollte ein großes Heiligtum der Stadtgöttin werden. Durch gewaltige Aufschüttungen wurde der zackige Gipfel in ein Plateau verwandelt und im Südosten bedeutend erweitert. Auf der Südseite umschloß ihn Kimon mit einer [509] starken Mauer, weniger zur Verteidigung, als zur Stütze der aufgehäuften Erdmassen; im Westen lief sie in eine feste Bastion aus, die über dem Burgtor aufragte. Auf der Mitte der Burg sollte sich der große Marmortempel der Göttin erheben. Bereits waren die Fundamente gelegt, die Säulen in Arbeit, als der Umschwung der politischen Lage zwang, den Bau auf ein Jahrzehnt zu unterbrechen585.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 505-510.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristoteles

Nikomachische Ethik

Nikomachische Ethik

Glückseligkeit, Tugend und Gerechtigkeit sind die Gegenstände seines ethischen Hauptwerkes, das Aristoteles kurz vor seinem Tode abschließt.

228 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon