Athen nach dem Tode des Perikles

[48] So war, kaum daß er nochmals mit dem alten Vertrauensmann des Volkes besetzt war, der Posten eines leitenden Ministers des attischen Staates auf neue vakant. Hätte Perikles die Regierung zum zweiten Male antreten und auf Jahre hinaus weiterführen können, so wäre seine Stellung, nachdem der Ansturm der Gegner schließlich mit einer vollen Niederlage geendet hatte, aller Voraussicht nach unantastbarer gewesen denn je. Dann mochte sie sich auf einen Nachfolger vererben und, wenn dieser seiner Aufgabe gewachsen war, daraus in den Formen der Demokratie eine dauernde dynastische Stellung des Alkmeonidenhauses an der Spitze der Republik hervorgehen, ähnlich der der Mediceer in Florenz, wie sie in Karthago die Familie Magos ein Jahrhundert lang eingenommen hat54. Aber mit Perikles ist auch diese Gestaltung des Staates zu Grabe getragen: da ihm nicht mehr vergönnt war, die Macht aufs neue zu ergreifen, ist historisch wirksam nur sein Sturz geworden, nicht seine Restauration. Auch ein Erbe war nicht vorhanden. Seine beiden legitimen Söhne waren tot, der Sohn von Aspasia noch zu jung und auch für die Zukunft durch den Makel seiner Geburt trotz seiner Legitimation von einer leitenden Stellung ausgeschlossen. Unter den übrigen Angehörigen des Hauses scheint niemand begabt und ehrgeizig genug gewesen zu sein, um die Regentenstelle beanspruchen zu können, auch nicht Perikles' Brudersohn Hippokrates (Sohn des Ariphron), der unter allen noch am meisten hervortritt. So hat denn auch Perikles selbst als seinen eigentlichen Erben einen Seitenverwandten betrachtet, den Tochtersohn seines [48] Oheims Megakles, Alkibiades, den Sohn des Kleinias aus dem Eupatridenhause. Dies Geschlecht hatte ehemals in nahen Beziehungen zu Sparta gestanden; auch der Name Alkibiades stammte von dort. Der gleichnamige Großvater hatte sich ganz an Kleisthenes angeschlossen, mit ihm beim Sturz des Tyrannen zusammengewirkt und, vermutlich als Kleomenes zugunsten des Isagoras intervenierte, die spartanische Proxenie niedergelegt. Sein Sohn Kleinias ist bei Koronea gefallen; zum Vormund seiner Kinder hat er den Perikles bestellt55. So ist der junge Alkibiades (geb. 450) im Hause des Regenten aufgewachsen, der das wild überschäumende Temperament des Knaben freilich nicht zu bändigen vermochte. Von Jugend auf betrachtete Alkibiades sich als den Kronprinzen von Athen: ihm stand frei, was kein anderer sich erlauben durfte. Dabei gewann er durch seine Schönheit, sein keckes Auftreten, sein zügelloses Sichgehenlassen, daneben aber auch durch das frühzeitige Aufleuchten einer außerordentlichen Begabung die Gunst des Volkes, das ihn anstaunte und bewunderte und dessen Beifall er hinnahm als etwas, was ihm von Rechts wegen zustand. Mit vollem Eifer warf er sich in die moderne Strömung; die überkommenen Anschauungen, die Sitte und die Unterordnung unter das Gesetz des Staates waren ihm Vorurteile, die den freien Geist nicht binden können; mit souveräner Geringschätzung setzte er sich in den zahlreichen Liebeshändeln, die das Leben des heranwachsenden Atheners auszufüllen pflegten, über die Gebote des Anstandes hinweg. Die neue Bildung und vor allem die Kunst der Rede suchte er sich anzueignen; eng hat er sich, wie so manche seiner vornehmen Altersgenossen, an Sokrates angeschlossen. Ein glänzender Redner ist er freilich nicht geworden; nach dem Zeugnis Theophrasts, der darüber noch Nachrichten haben konnte, waren seine Reden zwar inhaltreich und treffend, aber sein Vortrag schwerflüssig und stockend; wenn er nach eleganten Wendungen suchte, blieb er oft stecken. Das spricht nur für seine staatsmännische Bedeutung: der Gedanke bleibt ihm die Hauptsache und wird nicht, wie bei den [49] Rednern gewöhnlichen Schlages, durch den Phrasenschwall erstickt56. Hätte Perikles ihn in die Staatsgeschäfte einführen, die Anfänge seiner politischen Laufbahn überwachen können, so mochten die Schwächen seines Naturells zurücktreten und mit den übernommenen Pflichten der Staatsgedanke schließlich auch diesen übersprudelnden Genius unter seine Majestät zwingen: daß Alkibiades die Fähigkeit besaß, Perikles' Nachfolger zu werden, hat nie jemand bezweifelt. Aber als Perikles starb, war Alkibiades kaum erwachsen und hatte eben erst vor Potidäa seinen ersten Kriegsdienst geleistet, auch hier von den Kameraden bewundert und von den Feldherren mit dem Preis der Tapferkeit ausgezeichnet57. Für eine politische Tätigkeit war er noch zu jung, ein Amt konnte er noch nicht bekleiden; er mußte sich begnügen, die Aufmerksamkeit immer aufs neue auf sich zu lenken, und wie die Zeit vorschritt, im Gefolge anderer seine politische Laufbahn beginnen. So war er von Anfang an in die Stellung des Kronprätendenten gewiesen: was er auch unternahm, es konnte und sollte zunächst nur der Begründung seiner zukünftigen Stellung dienen; andere als rein persönliche Ziele konnte es für ihn nicht geben, bis er die Herrschaft errungen hatte. Daß er berufen sei, dereinst der Regent Athens zu werden, war ihm so wenig zweifelhaft wie irgendeinem seiner Mitbürger; die Epoche zehnjähriger innerer Kämpfe, die mit Perikles' Tod anhebt, erschien im Grunde den Athenern, die sie durchfochten, selbst doch nur als ein Zwischenspiel, und die Männer, die vorübergehend einen leitenden Einfluß gewannen, nur als Lückenbüßer zwischen der Herrschaft des Perikles und der seines echten Nachfolgers.

Wenn so die Familie des bisherigen Regenten einstweilen zurücktrat, so gab es Aspiranten genug auf die erledigte Stelle. Persönlich [50] hatte dem Perikles vor allem Lysikles nahegestanden, der denn auch, nach attischer Sitte, nach seinem Tode die Aspasia heiratete. Er hat kurze Zeit einen bedeutenden Einfluß ausgeübt, fiel aber schon im Spätherbst 428 als Stratege auf einer Expedition nach Karien, wo er Gelder aufzubringen versuchte (s.S. 74). Schon vor ihm war auf kurze Zeit Eukrates aufgetreten, um ebenso rasch wieder von der politischen Bühne zu verschwinden58. Weit größere Macht gewann Kleon, der Hauptführer der städtischen Massen und der Kriegspartei; an ihn schloß sich eine Reihe Gesinnungsgenossen an, unter denen Hyperbolos besonders hervortritt. Für diese ganze Generation von Staatsmännern ist charakteristisch, daß sie dem Stande der Gewerbetreibenden, der Kaufleute und vor allem der Industriellen angehören: Lysikles war Viehhändler, Eukrates betrieb eine Mühle und ein Hanfgeschäft, Kleon eine Gerberei, Hyperbolos war Lampenfabrikant. Auch bei den Konservativen sah es nicht viel anders aus: Nikias, ihr Führer, entstammte keinem alten Adelsgeschlecht – wäre das der Fall, so würden wir es erfahren –, sondern war ein Kapitalist, der seinen Reichtum dem Bergwerksbetrieb verdankte59. Und wenn im Jahre 427/6 einmal Hipponikos [51] aus dem hohen Adel der Keryken als leitender Stratege erscheint, so stammte das gewaltige Vermögen seines Hauses aus derselben Quelle. Mit Perikles' Sturz traten die vollen Konsequenzen der von ihm geschaffenen Verfassung und der sozialen Umwälzung hervor, auf denen sie beruht; der Adel tritt zurück, die aus dem modernen Erwerbsleben hervorgegangenen Elemente gewinnen die Herrschaft. Erst jetzt wird die Demokratie zur vollen Wahrheit. Aber eben darum konnten die Demagogen von der Gasse, so allmächtig sie zeitweilig schalteten, doch die volle und dauernde Herrschaft nie gewinnen. Der gemeine Athener sah es sehr gern, wenn Kleon und seine Genossen den vornehmen Herren auf die Finger sahen, von ihren Konspirationen erzählten und angebliche und wirkliche Umtriebe, Unterschleife u.ä. unnachsichtlich mit Prozessen verfolgten; aber die Regenten des Staates, denen er gehorchen sollte, konnte er in ihnen nicht erkennen. Sie waren doch nur seinesgleichen, und wenn er sie auch einstweilen gewähren ließ, so traute er ihnen doch in noch ganz anderer Weise rein selbstsüchtige Interessen zu als den Adligen, von denen er sich im stillen gestehen mußte, daß sie trotz aller bürgerlichen Gleichheit doch ein Recht darauf hätten, den Staat zu regieren. Es ist für die Stimmung in Athen ungemein bezeichnend, daß das Volk sich die fortwährenden Angriffe der Komödie auf die populären Größen des Tages, in denen sie der schwersten politischen und moralischen Verbrechen beschuldigt wurden, ruhig gefallen ließ. Eine politische Wirkung hatte das nicht; aber man lachte dazu und freute sich daran. Es war dem souveränen Demos ganz recht, wenn die Männer, die er mit seiner Gunst beehrte, recht oft und recht deutlich daran erinnert wurden, daß sie an sich selbst nichts waren und nur durch seine Gnade existierten. Die neuen Demagogen empfanden das sehr wohl; wollten sie sich behaupten, so mußten sie der Menge schmeicheln, ihre niederen Instinkte ködern, ihr materielle Vorteile verschaffen; [52] ein Gegengewicht gegen die populären Strömungen, wie es Perikles gewesen war und wie es der wahre Staatsmann sein muß, konnten sie niemals werden. Die Angriffe der Gegner und der Komödie mögen stark übertrieben sein, und wir können nicht entscheiden, ob an der Beschuldigung irgend etwas Wahres ist, Kleon habe seinen Einfluß zu Erpressungen von Bürgern und Bundesgenossen und zu zahlreichen Unterschleifen benutzt; zweifellos ist, daß jetzt, seit der Druck weggefallen war, den Perikles geübt hatte, die Gebrechen der radikalen Demokratie unverhüllt hervortraten, vor allem vor Gericht. Unter den gewerbsmäßigen Anklägern, den Sykophanten (vgl. Bd. IV 1, 787), gab es zahlreiche Halsabschneider der schlimmsten Sorte; wen sie einmal aufs Korn genommen hatten, dem blieb nichts übrig als sich von ihnen loszukaufen, wenn er nicht sein Vermögen und womöglich sein Leben dem Wahrspruch eines Gerichtshofes von Hunderten diätengieriger Bürger aussetzen wollte – und wie es damit bestellt war, zumal seit die neumodische Kunst der rechtsverdrehenden Beredsamkeit immer mehr Adepten gewann, darüber reden die Tatsachen und bald auch die erhaltenen Gerichtsreden deutlich genug. Vollends ein politischer Prozeß war ein Würfelspiel, dessen Ausgang niemand absehen konnte. Dabei schonten sich die Rivalen in keiner Weise; jeder warf dem anderen die ärgsten Verbrechen und namentlich Bestechlichkeit und Unterschleif vor. Es wurde Brauch, daß wer zu politischem Einfluß gelangen wollte, sich zunächst in Prozessen einen Namen zu machen suchte, sei es als Ankläger oder als Anwalt; auch Alkibiades hat bald nach Perikles' Tode seine Laufbahn damit begonnen (Aristoph. Ach. 716). In letzter Linie fiel dies Treiben auf jeden einzelnen und auf den ganzen Stand zurück: wie in den modernen Demokratien wurde es auch in Athen sehr bald ein allgemein anerkannter und als selbstverständlich betrachteter Satz, daß das Gewerbe des Demagogen ein von Grund aus korrupter Beruf sei und wer sich damit abgebe, zum mindesten unsittlich gelebt habe und unreine Hände habe60.

[53] Zu diesen Gegensätzen kam nun noch ein ganz entscheidendes Moment. Die modernen Demagogen suchten auf das souveräne Volk zu wirken und vom Zentrum aus die Geschicke des Staates zu lenken; aber die praktische Tätigkeit im Feld, von der schließlich jetzt, mitten im Kriege, die letzte Entscheidung abhing, war ihnen völlig fremd. Die meisten von ihnen hatten Krieg überhaupt nicht, oder doch nur ganz vorübergehend, etwa beim samischen Aufstand oder vor Potidäa, als gemeine Soldaten gesehen. Lysikles ist Stratege geworden und hat dabei den Tod gefunden; Männer wie Kleon und Hyperbolos konnten, zunächst wenigstens, nicht daran denken, sich überhaupt um die Strategie zu bewerben. Selbst wenn sie sich militärische Begabung zugetraut hätten, das Volk hätte sie nie gewählt: die Staatsleitung vertraute man ihnen allenfalls an, aber nicht das eigene Leben. Dafür gab es zahlreiche andere Männer, die den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit in dem militärischen Berufe sahen61. Zum Teil waren sie noch im Anschluß an Perikles emporgekommen als seine Kollegen in der Strategie, wie Phormio, Lamachos (Bd. IV 1, 726), Xenophon, Nikias; anderen, wie Eurymedon, Nikostratos, Demosthenes, Laches, gab der Krieg Gelegenheit, sich auszuzeichnen und das Vertrauen ihrer Mitbürger zu gewinnen. Ihre politischen Anschauungen waren mannigfach verschieden; manche, wie Lamachos und Demosthenes, vertraten eine energische Kriegspolitik, andere, wie Nikias und Laches, gehörten zur konservativen [54] Friedenspartei. Aber zu eigentlich politischer Wirksamkeit hatten sie weder Gelegenheit noch Neigung; der berufsmäßige Kriegsmann ist meist ein schlechter Volksredner und vollends zum Demagogen wenig tauglich. Überdies standen sie einen großen Teil des Jahres über im Felde, und auch wenn sie daheim waren, hatten sie mit militärischen Angelegenheiten vollauf genug zu tun. Die beiden Stellungen, auf deren Vereinigung in einer Hand die attische Demokratie aufgebaut war, die des amtlosen Demagogen und die des leitenden Strategen, fielen auseinander. Die politische Leitung stand den Demagogen zu; die Strategen hatten natürlich das Recht, jederzeit bei Rat und Volk die Anträge zu stellen, die sie für die militärischen Operationen erforderlich hielten; aber im übrigen hatten sie auszuführen, was der von jenen beeinflußte Souverän befahl. Dabei aber ruhte auf ihnen die volle Verantwortung für die Ausführung und das Ergebnis, mochten sie mit den angeordneten Operationen einverstanden sein oder nicht. Gelang ihnen ein größerer Erfolg, so mochten sie dadurch auch zu bedeutendem politischem Einfluß gelangen, im Falle einer Niederlage konnten sie sicher sein, daß die Demagogen, schon um sich selbst zu decken, sie der Pflichtverletzung, wenn nicht gar des Verrats beschuldigen und ihnen den Prozeß machen würden. Dazu kamen die Schwierigkeiten, die auch erfolgreichen Feldherren oft genug bei der Rechnunglegung gemacht wurden. So bestand eine natürliche Spannung zwischen den Feldherrn und der politischen Leitung daheim. Unternehmende Naturen, wie Demosthenes, haben wiederholt versucht, dem Volk die Entscheidung über den Kopf wegzunehmen, und sich mehrfach bald mit gutem, bald mit schlechtem Erfolg selbständig auf größere Unternehmungen eingelassen; andere, wie Nikias, hatten immer Sorge, sich zu kompromittieren, und wurden daher ängstlich, hielten sich möglichst in engen Schranken und taten nur das Notwendigste. Gerade durch diese Vorsicht hat Nikias sich eine sichere Stellung gewonnen, die er durch peinliche Rücksichtnahme auf seinen guten Ruf im Privatleben, durch glänzende Ausstattung der ihm zufallenden Liturgien, die ihm sein Reichtum ermöglichte, durch wohlberechnete Deferenz in seinem Benehmen gegen jeden einzelnen Bürger und das Volk insgesamt noch weiter festigte; die [55] Sykophanten und politischen Ankläger hielt er von sich ab, indem er ihnen zahlte, was sie verlangten. So vollständig ihm die intellektuellen und sittlichen Eigenschaften fehlten, die zu einem wirklichen Feldherrn, zur Entwerfung und Durchführung großer strategischer Gedanken gehören, die Taktik beherrschte er vollkommen, und gewöhnliche Operationen konnte er mit Geschick und Umsicht leiten; der Athener fühlte sich sicher unter seiner Führung und betrachtete ihn, auch wenn er seinen politischen Absichten mißtraute, doch als den berufensten seiner Feldherren. Auch wenn man ihn bei den Wahlen einmal fallen ließ, kehrte man möglichst bald zu ihm zurück; seit dem Sommer 428 hat Nikias mit Ausnahme des Jahres 426/5 dauernd im Strategenkollegium gesessen. So konnte er in stets höherem Maße auch politischen Einfluß gewinnen. Seinem Staate war er treu ergeben, und eine Umgestaltung der bestehenden Demokratie lag ihm fern, sowenig er in ihr ein Ideal erblicken konnte; einen revolutionaren Umsturz zu planen oder auch nur zu erwägen war er nicht der Mann. Aber er wollte den Staat in den Bahnen festhalten, die Perikles in den letzten Jahren eingeschlagen hatte, und seine Politik fortsetzen, so wie er sie verstand: den Krieg mit Vorsicht fortführen, solange es unvermeidlich war, aber jede Extravaganz, jedes Hinausgreifen ins Ungemessene verhindern und den Frieden wiederherstellen, sobald sich eine Möglichkeit dazu bot. So erwuchs er zum Führer der konservativen Partei; sein festbegründetes militärisches Ansehen gab ihm die Möglichkeit, den Demagogen mit stets größerer Energie entgegenzutreten und sich in seiner Stellung zu behaupten, auch wenn die Strömung durchaus in das entgegengesetzte Fahrwasser ging62.

Zu dem allen hat der Krieg die Gegensätze innerhalb des Souveräns selbst aufs neue entfesselt, die unter Perikles' Regiment wenigstens in seinen späteren Jahren zurückgetreten waren. Wie der Krieg sich gestaltet hatte, mußte er als eine Aufopferung der Grundbesitzer und der agrarischen Interessen zugunsten der Kapitalisten [56] und des städtischen Demos erscheinen. Von einer Unterwerfung unter Sparta war die Landbevölkerung weit entfernt; im Gegenteil, gar gern hätte sie den Feinden die Verwüstung ihrer Besitzungen heimgezahlt: eben weil Perikles ihnen das nicht gewährte, haben sie gegen ihn getobt. Noch im Jahre 425 geraten bei Aristophanes die Greise aus Acharnä, die schon bei Marathon mitgekämpft haben, in Entrüstung, wenn man von einem Vertrag mit dem treulosen Sparta redet, »wo doch die Weinstöcke abgeschnitten sind«, sowenig sie sonst mit Kleon und seiner Demagogie etwas gemein haben. Aber je länger der Krieg dauerte, desto stärker wurde in diesen Kreisen die Sehnsucht nach einem ehrlichen Frieden, nach der Rückkehr auf das Land. Lastete doch auf ihnen der ganze Druck des Krieges; nicht nur die Zerstörung ihres Wohlstandes und ihrer Besitzungen hatten sie zu tragen, sondern zugleich den Kern der Feldarmee zu stellen. Es ist ganz natürlich, daß bei den Aushebungen die Bauern lieber genommen wurden als das Stadtvolk; bitter beklagten sie sich, daß sie bei den Mobilmachungen immer aufs neue eingestellt wurden, während man den Städtern, die im Felde nichts taugten, durch die Finger sah und mit Leichtigkeit Dispens gewährte (Aristoph. pac. 1172ff. und oft, vgl. S. 90). Bald genug, seit 428, kam noch die Vermögenssteuer hinzu, die ebenfalls vorwiegend die Grundbesitzer traf. Die Bewohner der Stadt und des Hafens dagegen focht der Krieg wenig an. Ihnen machte es nicht viel aus, wenn ihnen etwa eine Besitzung vor den Toren verwüstet war, die auch bisher schon nicht allzuviel abwarf. Während die Söhne der Besitzenden alle Strapazen der Feldzüge und die Älteren den beschwerlichen Wachtdienst auf den Mauern zu tragen hatten, versahen die Arbeiter und Matrosen (neben Metöken und geworbenen Ruderern) den ihnen seit lange gewohnten und wenig Gefahren bringenden Ruderdienst auf der Flotte und erhielten dafür einen Lohn, der dem gewöhnlichen Tagelohn (1 Drachme = 90 Pf.) völlig gleichkam. Die Geschäfte, die Fabriken, der Handel blieben vom Kriege unberührt, solange Athen die See beherrschte; ja sie gediehen nur noch besser, da der Import an überseeischen Lebensmitteln wuchs und man zugleich den Handel der Gegner, vor allem der Korinther, aufs neue fast völlig brachlegen[57] konnte. Hier fanden Kleon, Hyperbolos und ihre Genossen überzeugte Zustimmung, wenn sie einer energischen Fortführung des Krieges, einer Ausdehnung der Macht Athens namentlich nach Westen das Wort redeten und vom Frieden nichts wissen wollten, ehe der Feind gedemütigt am Boden liege. An Zahl und Einfluß hielten sich beide Parteien nahezu das Gleichgewicht, zumal da die Landbevölkerung jetzt in die Mauern zusammengedrängt war. Das war namentlich im Frühjahr der Fall, bei den Strategenwahlen, wo der Einfall der Peloponnesier bevorstand. Ohnehin fiel bei diesen der Einfluß der Grundbesitzer und des Hoplitenheeres stark ins Gewicht: man brauchte eben Männer, die im Felde erprobt waren. So fielen die Wahlen im allgemeinen vorwiegend konservativ aus. Später, während des Sommers und im Winter; mochten gar manche Bauern wieder aufs Land gehen, namentlich in den entlegenen und vom Feinde weniger heimgesuchten Demen, um in einem Notbau ihr Unterkommen zu suchen und die Feldarbeiten wieder aufzunehmen. Freilich war zeitweilig auch ein großer Teil der ärmeren Stadtbevölkerung als Ruderer auf der Flotte beschäftigt; trotzdem aber wuchs im allgemeinen im Verlauf des Kriegsjahres der Einfluß der Radikalen, zumal da sie weit rühriger waren als die Gegner und in entscheidenden Momenten die Masse leicht einmal zu einem folgenschweren Beschluß in ihrem Sinne fortreißen konnten63.

So hat Athen die feste, einheitliche Leitung seiner Politik, die alle Machtmittel des Staates überschaute und in jahrelanger konsequenter Führung auf ein klar erkanntes Ziel konzentrieren konnte, mit Perikles' Sturz verloren. Es hat sie fortan auf die Dauer überhaupt niemals wiedergewonnen. Die regelmäßigen Organe der Verwaltung funktionierten nach wie vor gut und schlecht; aber eine wirkliche Regierung gab es nicht mehr. Wollen wir es scharf formulieren, so müssen wir aussprechen, daß Athen sich vom Sturz des Perikles bis auf die makedonische Zeit oder vielmehr bis auf Eubulos (355 v. Chr.) in einem Zustande permanenter Anarchie befunden hat, der immer nur ganz vorübergehend unterbrochen wurde, wenn ein Demagoge auf kurze Zeit, im günstigsten Falle auf[58] wenige Jahre, die Herrschaft über die Massen gewann. Die Gebrechen der radikalen Demokratie traten mit unverhüllter Deutlichkeit hervor, seit das Gegengewicht weggefallen war, das bisher Perikles in der auf eigener Kraft ruhenden Stellung des leitenden Staatsmannes repräsentiert hatte. Es wäre vermessen zu behaupten, daß die Entwicklung Athens nicht auch ohne Perikles ähnliche Wege gegangen wäre; aber wie die Dinge verlaufen sind, ist sie mit seinem Namen untrennbar verknüpft. Er hat dem attischen Staat eine Gestaltung gegeben, die zwar durch Entfaltung aller Kräfte des Volkes einen gewaltigen Aufschwung der Kultur wie des materiellen und politischen Lebens ermöglichte, die ihm aber auf die Dauer das nicht zu schaffen vermochte, was schließlich doch die unentbehrlichste Grundlage jeder staatlichen Existenz und nun gar einer Großmacht bildet: eine stabile Leitung der äußeren Politik. Im letzten Grunde ist Athen doch an der Verfassung zugrunde gegangen, die Perikles ihm gegeben hat; und er hat sie dem Staate gegeben zwar zweifellos in festem Glauben an die in ihr verkörperten Ideale, aber doch zugleich, um sich und seinem Hause dauernd die herrschende Stellung zu gewinnen. Das ist historisch seine Schuld. Er hat sie gesühnt, soweit das in Menschenmacht steht, durch sein großartiges, über jeden Eigennutz erhabenes Auftreten in den letzten Jahren seines Lebens, durch den unbeugsamen Mut, mit dem er den Massen entgegentrat und sie unter seinen Willen zwang: aber rückgängig machen ließ sich sein Werk nicht, und so hat er Athen zu retten nicht vermocht. Der Abgrund, den die Söhne der Sieger von Marathon und Salamis für alle Zukunft geschlossen glaubten, gähnte bereits unter ihren Füßen. In kürzester Frist war Athen und mit ihm ganz Hellas unrettbar in den Strudel hinabgerissen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 48-60.
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